Russische Kampfjets im EU-Luftraum, Drohnen über Dänemark, Cyberattacken: Europas Sicherheit steht unter Druck. Hierzulande setzt man auf Neutralität als Schutzschild gegen die Realität. Doch was, wenn sie das Land nur noch in Sicherheit wiegt – und längst keine mehr ist?
Wirtschaftskrise hin, Weltpolitik her: In München trinken und feiern sich die Menschen gerade beim größten Volksfest der Welt in den Herbst. Auch in Österreich wird darüber berichtet. Aufmerksamkeitsgarantie liefern dabei Schlagworte wie „Wiesn-Koks“ und „Kotzwiese“. Was kaum erwähnt wird: Das Oktoberfest ist ein Milliardenbusiness. Die Stadt München rechnet mit einem Wirtschaftswert von 1,5 Milliarden Euro – in 16 Tagen. Das ist nicht nichts.
Das Weglassen des Relevanten, das Hervorheben des Anekdotischen, das Schlechtreden der anderen sind hierzulande bekannte Muster. Es vermittelt ein wohliges Gefühl: Bei uns ist alles besser, anständiger. Dieses Nicht-sehen-Wollen funktioniert aber auch bei ernsten Themen: russische Kampfjets im EU-Luftraum, Drohnen über Dänemark, Cyberattacken. Russland testet Europa. Täglich. Um Unsicherheit zu schüren, um Spaltung zu provozieren. Es ist ernst. Bei den anderen. So scheint es.
Hallo Österreich? Betrifft uns das nicht auch? Irgendwie? „Besorgniserregend“, sagt die Verteidigungsministerin in einem kurzen Post auf der Plattform X. Sie fordert als Antwort Tempo beim Aufbau des Raketenabwehrschirms „Sky Shield“. Auch der Nationale Sicherheitsrat hat getagt. Aus österreichischer Sicht fast schon Aktionismus – und trotzdem viel zu wenig. Jede tiefer gehende Debatte wird vermieden, die Politik duckt sich weg. Aus Angst, zu beunruhigen. Hilflosigkeit wird einmal mehr zum Prinzip.
Im Ernstfall neutral hilflos
Denn seit Jahrzehnten verweigert man sich einer ernsthaften sicherheitspolitischen Auseinandersetzung. Eben so, als ginge uns das alles „da draußen“ nichts an, oder weil man davon ausgeht, dass im Fall des Falles andere Staaten für Österreich übernehmen würden. Und wenn doch diskutiert wird, endet jede Diskussion zuverlässig und reflexartig mit einem Satz: „Wir sind neutral.“ Neutralität als Beruhigungspille. Beliebt, weil sie das Gefühl gibt, man müsse sich mit nichts Unangenehmem beschäftigen. Drei Viertel der Österreicherinnen und Österreicher wollen sie beibehalten – wohl wissend, dass das Land militärisch kaum gerüstet ist.
Nur: Wer Neutralität ernst nimmt, muss natürlich in der Lage sein, mit allen denkbaren Bedrohungen zurechtzukommen. Im Risikobild 2025 nennt das Verteidigungsministerium u.a. Russland und den geschwächten Zusammenhalt innerhalb der EU als größte Bedrohungen für den Frieden in Österreich und Europa.
Ein Wendepunkt – auch für Österreich
Sind wir dafür gerüstet? Nein. In der ebenso neutralen Schweiz hat die Diskussion darüber längst eingesetzt. Der Befund: nicht gut. Sind die NATO-Staaten vorbereitet? Auch nicht. Aber sie legen ein anderes Problembewusstsein an den Tag. In Deutschland etwa löste der Satz des Verteidigungsministers „Wir müssen kriegstüchtig werden“ eine Debatte aus. Hart – manche sagen unpassend – in der Formulierung, ehrlich in der Analyse.
Und ja, Deutschlands sicherheitspolitisches Denken ist durch die NATO-Mitgliedschaft anders geprägt. Auch das gehört zur sicherheitspolitischen Realität. Der Moment, in dem wir uns in Europa ernsthaft mit diesen Fragen auseinandersetzen müssen, ist längst gekommen – jetzt, da die USA als verlässlicher Partner der NATO wanken und die internationale Ordnung ins Rutschen gerät. Es ist ein Wendepunkt. Den sollte man auch nicht vorschnell mit dem reflexhaften Vorwurf der „Kriegslüsternheit“ abtun.
Russland testet Europa. Und Österreich testet, wie lange wir das Nichtstun durchhalten
Reden wir über all das in Österreich? Eher nicht. Jedenfalls zu wenig. Wohl wissend, dass nur 14 Prozent der Bevölkerung bereit wären, im Falle eines militärischen Angriffs das eigene Land zu verteidigen. Militärs fordern schon lange, den Wehrdienst – Stichwort Einsatzfähigkeit – von sechs auf acht Monate zu verlängern und wieder verpflichtende Milizübungen einzuführen. Eine Kommission soll nun Vorschläge zur Weiterentwicklung erarbeiten. Wir erinnern uns: Die Entscheidung zur Beibehaltung der Wehrpflicht im Jahr 2013 wurde von Politik, Militärs und Befürwortern vor allem mit breiter gesellschaftlicher Nützlichkeit begründet – weniger mit klassischer Landesverteidigung. Weil ohne Wehrpflicht gibt es keinen verpflichtenden Zivildienst – und damit weniger Personal für Rettung, Pflege und Sozialeinrichtungen.
Um wie viel weiter wird gerade gedacht? Zwar soll das Heer bis 2032 rund 17 Milliarden Euro erhalten – das selbst gesteckte Ziel von zwei Prozent des BIP für Verteidigung bleibt aber vage. Eine neue Sicherheitsstrategie ist geplant. Bürgerdialoge inklusive. Doch ein Weiterschreiben des Status quo mit kosmetischen Korrekturen wird nicht reichen.
Russland testet Europa. Und Österreich testet, wie lange wir das Nichtstun durchhalten. Mehr Ehrlichkeit könnte ein erster Schritt sein: Neutralität schützt nicht vor Drohnen oder Cyberattacken. Und auch nicht vor der Frage, ob wir im Ernstfall solidarisch mit Europa wären – und Europa mit uns. Neutralität mag ein gutes Gefühl geben. Nur: Gefühlt sicher ist noch lange nicht sicher.
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Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 40/25 erschienen.