News Logo
ABO

Krise ohne Katastrophe, wie geht das?

Subressort
Aktualisiert
Lesezeit
11 min
Artikelbild

©Gettyimages

Wie können wir heute gesellschaftliche Krisen abfedern? Damit beschäftigt sich eine Forschungsgruppe am Complexity Science Hub in Wien und schöpft dafür aus dem menschlichen Erfahrungsschatz von Jahrtausenden. Daniel Hoyer ist Hauptautor einer aktuellen Studie, die aus historischen Positivbeispielen Lehren für moderne Probleme ableitet

Klimakrise, Krieg, Wirtschaftskrisen, Polarisierung der Gesellschaft: Wir leben in besonders turbulenten Zeiten. Das sieht auch der Historiker Daniel Hoyer so. Aber: „Es gab in der Geschichte bereits Perioden mit Polykrisen, sogar in vorindustriellen Zeiten. Daraus können wir heute viel lernen“, sagt er im News-Interview. Besonders lehrreich seien historische Beispiele, von Gesellschaften, die bereits unter extremem Druck standen und es dennoch geschafft haben, das Ruder herumzureißen. Auf diese Fälle fokussiert sich die neueste Studie von Hoyer und seinen Kolleginnen und Kollegen.

Drei große Krisentreiber

Hoyer ist Teil einer Forschungsgruppe am Wiener Complexity Science Hub, die sich mit gesellschaftlichen Krisen beschäftigt. Und zwar durch den Blick in den Rückspiegel. Oder, besser gesagt, in einen riesigen Datensatz, der rund 800 historische Gesellschaften in Zahlen gießt – die Seshat-Datenbank. Mehr als ein Jahrzehnt arbeitete Hoyer daran, gemeinsam mit Peter Turchin, dem Leiter der Forschungsgruppe und anderen.

Mithilfe der Datenbank überprüfte die Gruppe um Hoyer und Turchin die Annahmen der Strukturell-Demografischen Theorie des US-Historikers Jack Goldstone. Sie ist ein Einmaleins des Gesellschaftskollaps und besagt, dass es drei große Treiber von gesellschaftlichen Unruhen gibt: Verelendung der Massen, Überproduktion von Eliten und fehlende staatliche Handlungsfähigkeit.

„Die Idee ist es, Geschichte als harte Wissenschaft zu behandeln“, sagt ­Hoyer. Kliodynamik nennt sich dieser Ansatz, geprägt vor allem durch Hoyers langjährigen Kollegen und Ko-Autor der aktuellen Studie, Peter Turchin. Tatsächlich scheint Goldstones Theorie der Rea­lität sehr nahe zu kommen. „Sie hält fast immer“ – und dient deshalb als Basis für die weitere Forschung der Gruppe. Hoyer betont, es sei wichtig, den Fokus nicht nur etwa auf den Ausbruch einer Revolution zu legen, sondern sich die Jahrzehnte zuvor anzusehen. Aufbauend auf der Strukturell-Demografischen Theorie entwickelten die Forscherinnen und Forscher ein Modell für den typischen Verlauf einer gesellschaftlichen Krise.

Eine Krise in fünf Stufen

Am Beginn dieses idealtypischen Krisen-Zyklus steht laut der Studie eine Gesellschaft, wo Systeme und Strukturen zur Verwaltung der Produktion und Verteilung von Ressourcen bestehen. Das geschieht relativ, wenn auch nicht völlig gerecht. Diese Gesellschaft erfährt dann einen Aufschwung, etwa durch Eroberungen oder steigende Produktivität, die Bevölkerung wächst. Wenn dieser Aufschwung ins Stocken gerät, geraten die Institutionen unter Druck. Denn in Stufe zwei steigt die Bevölkerungszahl weiter, die verfügbaren Ressourcen aber nicht mehr. Der Lebensstandard großer Teile der Bevölkerung beginnt zu sinken.

Gleichzeitig ist das obere Prozent am Höhepunkt seiner Macht. Geld, Landbesitz und politische Macht konzentrieren sich an der Spitze, der Abstand zum Rest der Bevölkerung wird größer. Bestehende Eliten eignen sich gleichzeitig von Generation zu Generation immer mehr Macht und Ressourcen an. Hoyer: „Das ist wie der Frosch im Kochtopf. Die Eliten drehen den Herd langsam heißer, verändern hier und da die Spielregeln und stellen so sicher, dass ihre Kinder dieselben Vorteile haben wie sie selbst.“

Blurred image background

Wer den Klimawandel bekämpfen will, müsse zuerst gegen Ungleichheit vorgehen, sagt Daniel Hoyer.

 © APA-Images / AFP / MIGUEL RIOPA

Auch für die Elite geht es bergab

Irgendwann wird es dem Frosch im Topf dann zu heiß. Zu große Ungleichheit, die Bevölkerung verarmt zunehmend. Reiche werden immer reicher und mächtiger. Genau in diesem Moment ist es laut Hoyer höchste Zeit für Reformen, denn die Ungleichheit droht außer Kontrolle zu geraten. Stufe drei beginnt. Weil die Eliten aber noch am Höhepunkt sind, sehen sie dafür meist keine Notwendigkeit: „Wenn ich viele Fabriken besitze, ist es gut für mich, billige Arbeitskräfte zu haben.“ Jedoch werde es ab hier auch in den oberen Schichten zunehmend ungemütlich, sagt Hoyer. Eine steigende Zahl von aufstrebenden Eliten will ein Stück vom Kuchen. Die Zahl der Führungspositionen ist aber begrenzt – es kommt zur Eliten-Überproduktion und neuen Spannungen.

Die vielen Privilegien, die sich vor allem alte Eliten durch ihre Machtposition gesichert haben, sorgen derweil für knappe Staatskassen. So sinkt auch die Handlungsfähigkeit des Staates, er verliert an Legitimität. Die Gesellschaft als Ganzes gerate so immer mehr unter Druck. „Eine Krise ist eine Phase des wachsenden Risikos für ein Desaster“, sagt Hoyer. Oft fehle dann nur noch ein kleiner Funke, und der Druck entlade sich in einer gewaltsamen Revolution oder einem Bürgerkrieg.

Nicht immer folgte Blutvergießen

Doch der Zyklus ist kein Naturgesetz. Einige Gesellschaften durchbrachen ihn ohne großes Blutvergießen. Etwa die frühe Römische Republik zwischen 500 und 400 vor Christus, wo sich ebenfalls eine schwere Krise abzeichnete. Aristokratische Familien wurden immer mächtiger, besaßen immer mehr Land, während das einfache Volk ausgebeutet wurde. Bis die Plebejer streikten. Sie legten Roms Wirtschaft lahm und verweigerten den Wehrdienst. Daraufhin wurde das Amt des Volkstribunen eingeführt, der die Interessen der Plebejer gegenüber den Senatoren vertrat. Weitere Reformen waren die Folge. „Mit Demokratie hatte das noch wenig zu tun. Aber verglichen mit anderen Gesellschaften dieser Zeit war schon die Idee, den einfachen Leuten ein Mitspracherecht in Form eines permanenten Amtes zu geben, radikal“, sagt Hoyer, der zu römischer Geschichte promoviert hat.

Auch Großbritannien zur Zeit der Chartistenbewegung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zählt zu den Positivbeispielen. Die industrielle Revolution sorgte für Wachstum, aber auch für eine Konzentration von Macht und Reichtum an der Spitze. Auch hier reagierten die „einfachen Leute“ mit Protest, der anfangs gewaltsam unterdrückt wurde. Am Ende gelang es der Arbeiterbewegung aber, mittels Streiks und Petitionen einige ihrer Forderungen durchzusetzen, wenn auch mit zeitlicher Verzögerung. Arbeitsschutzgesetze und der Zehn-Stunden-Tag sind Beispiele. „Ohne großes Blutvergießen wurde so ähnlich viel erreicht wie durch die Revolutionen in Frankreich und anderswo“, sagt Hoyer.

Die Bekämpfung von Ungleichheit ist eine unabdingbare Voraussetzung für alles andere

Daniel Hoyer

Weiteres Beispiel: Die USA der „Progressive Era“ Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts. Die Industrialisierung hatte für extreme Ungleichheit und soziale Verwerfungen gesorgt. Vor allem Präsident Theodore Roosevelt trieb Reformen voran: Eindämmung von Monopolen, Verbraucherschutz, Frauenwahlrecht, Steuerreformen. Hoyer hebt auch den Ausbau des Staatsapparats zu dieser Zeit hervor, der später den Aufbau des Sozialstaates möglich machte.

Auch in Russland zur Zeit von Zar Ale­xander II. (1855–1881) sorgten Reformen wie die Abschaffung der Leibeigenschaft kurzzeitig für Entspannung. Die Lebensbedingungen der Bauern verbesserten sich trotzdem nicht substanziell, und auch innerhalb der Elite stieg der Druck bald wieder an. 1881 wird Alexander II. von einem Studenten ermordet, einen Systemwandel bringen erst die Revolutionen des 20. Jahrhunderts.

Die Lehren für heute

Aus diesem Fall zieht Hoyer deshalb den Schluss: „Es braucht tiefgreifende Veränderungen. Die Macht wurde teilweise neu verteilt, die Ungleichheit blieb aber bestehen.“ Solche oberflächlichen Reformen würden aber nicht reichen. Denn, ob in der Geschichte oder heute: Zentral sei die Bekämpfung von Ungleichheit und das Sicherstellen guter Lebensbedingungen. „Das ist ein Muss, um das Vertrauen in das politische System wiederherzustellen.“ Nur so könne eine Gesellschaft gemeinsam an der Lösung großer Herausforderungen wie der Klimakrise oder der KI-Revolution arbeiten. Für die Bekämpfung von Ungleichheit gebe es viele Mittel, man müsse sie nur einsetzen, sagt Hoyer. „Tut es einfach.“ Dabei sollte vor großen Reformen nicht zurückgeschreckt werden.

Damit hängt auch eine weitere Lehre zusammen: „Ein guter Staat ist besser als kein Staat.“ Auch wenn der Trend gerade in eine andere Richtung gehe, seien ohne einen handlungsfähigen Staat kaum tragfähige Lösungen für große Probleme vorstellbar. In der Geschichte nicht und auch heute nicht.

© Beigestellt

Steckbrief

Daniel Hoyer

Daniel Hoyer ist ein kanadischer Historiker und Komplexitätsforscher. Neben seiner Arbeit für das Wiener Complexity Science Hub arbeitet er seit 2014 mit Peter Turchin an der Seshat-Datenbank, einem Projekt zur Erforschung langfristiger sozialer Dynamiken. Gemeinsam mit Turchin hat er auch das Buch „Figunring Out the Past“ verfasst.

Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 48/2025 erschienen.

Über die Autoren

Logo
Monatsabo ab 20,63€
Ähnliche Artikel
2048ALMAITVEUNZZNSWI314112341311241241412414124141241TIER