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Europa – der unterschätzte Kontinent

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Gerald Karner

©Bild: Matt Observe

Europa ist mehr als die Europäische Union – und es könnte eine Führungsrolle in der Welt übernehmen, sagt Sicherheitsexperte Gerald Karner. In seinem neuen Buch „Der unterschätzte Kontinent“ beschreibt er, warum die Riesen USA, China und Russland auf tönernen Füßen stehen und warum Europa mit Demokratie und Freiheit auf Dauer im Vorteil ist.

von Renate Kromp und Maria Mayböck

Sind Europa als Kontinent und die EU zu wenig selbstbewusst oder sind wir uns unserer Möglichkeiten noch zu wenig bewusst?

Beides. Wir sind zu wenig selbstbewusst, weil wir uns aus der historischen Vergangenheit – mit Ausnahme von Frankreich und Großbritannien – immer als Objekt der Geschichte betrachten. Nach schweren Wirtschaftskrisen und nach dem Zweiten Weltkrieg hat man sich gegenüber den wirklichen Supermächten unterlegen gefühlt. Bis heute sind wir uns auch unserer Möglichkeiten und Stärken nicht bewusst, die aber für ein selbstständiges Handeln und Auftreten auf der Weltbühne gefordert wären.

Sie schreiben, Europa könnte in der derzeitigen Gemengelage sogar die Führungsrolle in der Welt übernehmen. Was kann Europa, was die USA, Russland und China nicht können?

Unsere strukturellen Grundlagen der Demokratie sind ein entscheidender Vorteil gegenüber Russland und China, möglicherweise in weiterer Folge auch gegenüber den USA. Wir treffen manche Entscheidungen vielleicht langsamer, aber sie sind zutreffender, weil sie auf einer besseren, ausgewogeneren Informationsbasis beruhen – selbstkritisch und wissenschaftlich begründet – und nicht wie in einem autokratischen System von einer oder wenigen Personen kommen und sich in weiterer Folge als fehlerhaft erweisen. Das beste Beispiel dafür ist der 24. Februar 2022.

Als Russland die Ukraine angegriffen hat.

Putin und Co. haben hier eine strategische Fehlentscheidung getroffen, auf Basis offensichtlich nicht zutreffender Informationen. Die Annahme war ja, dass Kiew in ein paar Tagen fallen und die dortige Regierung durch ein Marionettenregime ersetzt wird. Die ukrainische Bevölkerung werde keine Widerstandskraft haben, die Streitkräfte rasch in alle Winde zerstreut sein. Die Ukraine wird als reife Frucht Russland in die Hände fallen. Das komplette Gegenteil war der Fall.

Zudem wurde die NATO, die nicht an Russland heranrücken sollte, durch den Beitritt Finnlands und Schwedens gestärkt. Russland ist in einer Dimension, die wir noch gar nicht wirklich erfasst haben, wirtschaftlich und bevölkerungsmäßig geschwächt. Also: eine Fehlentscheidung par excellence, wie sie aber auch in China passieren könnte. Und wenn die USA ihren derzeitigen Weg weitergehen, gilt das auch für sie. In einem demokratischen System würde das nicht passieren, weil es hier iterative Entscheidungsprozesse gibt.

Also die derzeitigen starken Blöcke stehen auf tönernen Füßen?

Sie sind sehr imposant auf den ersten Blick. China und USA sind Weltmächte. Aber jedenfalls auch bei China sind die Entscheidungsprozesse und der strategische Erfahrungshorizont so, dass fraglich ist, ob das Land in der Lage wäre, einen komplexen Krieg zu führen. Stichwort: Taiwan. Das hängt ja nicht von der schieren Gerüstetheit ab, sondern auch von der Führungsfähigkeit. Da bin ich mir nicht so sicher, ob ein System von Befehl und Gehorsam besser funktioniert als das System europäischer Armeen, das Handlungsspielraum und Flexibilität zulässt.

Die Entscheidungsfindungsprozesse der 27 EU-Länder werden oft als Schwäche kritisiert. Sie machen Europa langsam und schwerfällig, heißt es. Sie sehen das als Vorteil?

Das ist im Kern absolut ein Vorteil. Aber das heißt nicht, dass wir mit der derzeitigen Systematik zufrieden sein können, denn die Kritik stimmt bis zu einem gewissen Maß. Es gibt Schwächen, die behebbar sind. Wir brauchen strategische Flexibilität auf Basis dieser gemeinschaftlichen Entscheidungsfindung. Und es wäre vorstellbar, dass es eine Art Troika mit Deutschland, Frankreich und Großbritannien gibt, die nach außen geschlossen die außen- und sicherheitspolitische Position Europas als Kontinent vertritt. Gerade in diesem Bereich kam es ja auch zuletzt zu einer Wiederannäherung Großbritanniens an die EU.

Wenn Österreich mithilft, seine östlichen Nachbarn vor Drohnenangriffen zu schützen, ist das in unserem eigenen Interesse, weil dann auch keine Drohnen zu uns durchkommen

Gerald Karner

Um schneller zu sein, müsste wohl auch das Einstimmigkeitsprinzip innerhalb der EU fallen?

Dieses Prinzip wäre zu hinterfragen, wenn Entscheidungen aus einer strategischen Zweckmäßigkeit rasch getroffen werden müssen. Ich glaube aber vor allem, man muss eine Umkehr schaffen, von der Priorisierung nationaler Sichtweisen hin zu europäischen Sichtweisen – europäische Interessen liegen praktisch immer auch im jeweiligen nationalen Interesse –, umgekehrt ist das nicht der Fall. Sicherheit in diesem Raum ist unteilbar. Man kann nicht sagen „Österreich ist sicher und uns ist egal, ob das Baltikum unter Umständen eingenommen wird“. So groß ist Europa auch wieder nicht. Oder konkreter: Wenn Österreich mithilft, seine östlichen Nachbarn vor Drohnenangriffen zu schützen, ist das in unserem eigenen Interesse, weil dann auch keine Drohnen zu uns durchkommen. Also: Wenn gegenüber Russland, China und den USA europäische Interessen mit Priorität vertreten werden, ist das auch im jeweiligen nationalen Interesse.

Europa muss sich schon aufgrund der bloßen Zahlen nicht verstecken: ein starker Wirtschaftsraum und eine große Bevölkerungszahl, die zudem durch Zuwanderung langsam wächst, während sie in Russland und China langsam zurückgeht. Welche Schlüsse sollten die Verantwortlichen daraus ziehen?

Endlich das Gemeinsame über das Trennende zu stellen. Wie groß das Misstrauen der großen europäischen Nationen gegeneinander ist, hat man noch bei der deutschen Wiedervereinigung gesehen. Viele Jahrzehnte später und aufgrund des Drucks von außen ist jetzt der Zeitpunkt, dass das alles der Vergangenheit angehören sollte und wir ein neues europäisches Bewusstsein schaffen, sonst werden wir letztlich unter Bedingungen leben, die von China, den USA und Russland bestimmt werden. Wobei Russland an ­China hängt. Es lebt von der Belieferung Chinas und Indiens mit Rohstoffen, einer Schattenflotte und nordkoreanischer Unterstützung. Aber niemand sollte glauben, dass Russland und China durch große Zuneigung verbunden wären.

Sehen Sie Anzeichen, dass Europa das Gemeinsame sucht?

Ja, aber immer noch zu wenig. Wobei gerade manche kleinere Staaten, wie Ungarn, Slowakei und auch Österreich, die überdimensional von der Gemeinschaft profitieren, nicht wirklich konstruktiv sind. Zwei weitere Dinge wären wichtig. Erstens: In der Bevölkerung ein besseres Verständnis von Außen- und Sicherheitspolitik zu schaffen. Das ist in erschreckendem Ausmaß nicht mehr vorhanden, auch bei den politischen Eliten.

Zweitens: die politische Kommunikation. Herr Kickl sagt, dass an der EU alles falsch ist. Diesem populistischen Unsinn muss man sich ja nicht unterwerfen. Allzu viele Politiker auch anderer Parteien tendieren dazu, alles Negative auf die EU zu schieben, und alle positiven Errungenschaften dem eigenen Wirken zuzuschreiben. Das könnte aufhören mit Politikern und Politikerinnen von Format. Wobei man ja sagen muss, dass im Moment Politikerinnen und Expertinnen im deutschen Sprachraum wesentlich pointierter und aktiver in diese Richtung argumentieren als ihre männlichen Kollegen. ­Enttäuschend ist da vor allem der deutsche Bundeskanzler, der bis jetzt weit an den Hoffnungen vorbeiagiert, die es gab.

Es gibt sogar eine Art Austrifizierung Europas, das berühmte „Matschkern“. Es wird geklagt und beklagt

Gerald Karner

Europa ist nur so stark, wie es Politik und Gesellschaft selbst erzählen?

Absolut. Die Substanz ist da, die Erzählung dazu nicht. Im Gegenteil: Es gibt sogar eine Art Austrifizierung Europas, das berühmte „Matschkern“. Es wird geklagt und beklagt. Von außen sieht man uns als reichen Staat, trotz aller wirtschaftlichen Probleme, als sicheren Staat, mit einer Kriminalitätsrate, die zu den geringsten der Welt gehört, auch wenn alle über die bösen Ausländer diskutieren. Dieses „Matschkern“ wurde nunmehr sogar auf die europäische Ebene gehoben.

Muss sich Europa energischer von den anderen Machtblöcken emanzipieren? Wir haben uns für das Erreichen wirtschaftlicher Erfolge in mannigfaltige Abhängigkeiten begeben. Bei der Sicherheit von den USA, bei Rohstoffen von Russland, von China als billige Werkbank.

Diese Emanzipation beginnt mit ersten Hoffnungsstrahlen. Es war mutig, dass der niederländische Nachrichtendienst nicht mehr alle Informationen mit den USA teilen wird, weil manche davon im Kreml landen. Das sind Zeichen eines stärkeren Selbstbewusstseins der Europäer. Das ist begrüßenswert, denn Sicherheit durch die USA, billige Energie aus Russland, billige Waren aus China, das funktioniert nicht mehr. Wobei auch schon vor Trump US-Präsidenten darauf gedrängt haben, dass die Europäer mehr tun.

Richtung USA und Russland sind die Aufgaben Europas relativ klar umrissen. Aber wie sieht es bei China aus? Viele Lieferketten beginnen dort, teilweise hat China Europa die Vorherrschaft bei Technologien bereits abgenommen.

Das kann ich nur über Bildung, Innovation und Investition in die Wissenschaft machen. Dort liegt unsere Stärke, weil Wissenschaft und Forschung hier frei und nicht gesteuert arbeiten können, wie das in China der Fall ist. China hat zwei Millionen Uni-Absolventen pro Jahr, das sind beeindruckende Zahlen. Aber wenn man sich – bei aller Skepsis gegenüber solchen Listen – Uni-Rankings ansieht, sieht man: Die beste chinesische Uni kommt auf Platz 12, die Spitzenunis sind in den USA und Europa. Das ist unsere große Chance, denn Innovationsfähigkeit ist ja nicht Massenproduktion, sondern beruht auf Forschung und Entwicklung. Da hat Europa enorme Vorteile. Sogar die US-Rüstungsindustrie beruht sehr oft auf europäischen Technologien, die die USA aber wesentlich systematischer in industrielle Produktion umwandeln.

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*Stand Oktober 2025

 © Waltl&Waltl

Europa muss seine Innovationskraft forcieren, sollte die Technologien dann aber nicht aus der Hand geben.

Ganz genau. Natürlich ist es so, dass wir in unserer extrem materiell orientierten Welt zunächst die unglaublichen Gewinnchancen sehen, wenn man nach China geht. Aber ich bin gar nicht so sicher, ob das so langfristig vorteilhaft ist, wenn man für kurzfristige Gewinne jahrzehntelange Forschungs- und Entwicklungsergebnisse mit einem Partner teilt. Forschung, Entwicklung, die Freiheit und Kreativität dabei – das wird Europa in letzter Konsequenz zu einem Platz auf der Weltbühne verhelfen.

Europa braucht neue Partner, schreiben Sie: Japan und Australien etwa. Zudem sollte man auf dem Kontinent Afrika nicht als Entwicklungshelfer und Missionar auftreten, sondern die wirtschaftliche Zusammenarbeit suchen.

Die Entwicklungszusammenarbeit alt ist gescheitert. Das muss erneuert werden. Das Problem ist, dass Europa keine wirklich funktionelle Außen- und Sicherheitspolitik hat. Der europäische diplomatische Dienst ist nach wie vor unterentwickelt, dabei ginge es um eine konzertierte, systematische Außenpolitik. Freie Handels- und Seewege sind ein genuin europäisches Interesse, weil wir stark importabhängig sind.

Dabei stoße ich automatisch auf Partner, denen das genauso ein Anliegen ist, und die abseits der Partnerschaft mit den USA mit uns auf Augenhöhe kooperieren: Australien und Japan etwa. Australien ist ein starkes Gegengewicht zu China im Pazifikraum. Es sorgt mit Japan und den USA dafür, dass China nicht einfach mit seiner starken Marine Handelswege oder Taiwan blockieren kann. Das ist im europäischen Interesse und damit auch im österreichischen Interesse, weil wir z. B. von Halbleitern aus Taiwan abhängen. Japan und Australien sind seit der Regierung Donald Trumps viel aufgeschlossener für eine Partnerschaft mit Europa.

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 © Waltl&Waltl

Europa muss aufrüsten und dabei koordinierter vorgehen, um seine Sicherheit selbst in die Hand zu nehmen. Im deutschsprachigen Raum würde man Ihnen von links und rechts Kriegstreiberei vorwerfen.

Bei der Rechten kommt das aus einer Russland-Nähe. Es ist beachtlich, dass die Rechte in Österreich sogar das Minimum, das man für den Schutz des eigenen Territoriums braucht, infrage stellt, obwohl sie die Neutralität wie eine Monstranz vor sich herträgt. Dabei ist mit dieser die Verpflichtung verbunden, das eigene Territorium und den Luftraum zu schützen. Früher war die Rechte pro Militär und vernünftige Rüstung. Ihr Schwenk ist vor allem mit der hohen Affinität zu Russland zu erklären.

Und die Linke beruft sich auf die frühere Friedensbewegung?

Ja, aber es gibt auch hier eine gewisse Nähe zu Russland als Traumland der Arbeiter und Bauern, das es aber auch in Sowjetzeiten nicht war. Alfred Gusenbauer hat ja nicht von ungefähr dort den Boden geküsst. Diese Mythen werden von bestimmten Proponenten im politischen und akademischen Establishment der Linken geschürt und warm gehalten. Diese Herrschaften wurzeln noch im Kalten Krieg und der Vorstellung eines Gegenpols zum amerikanischen Imperialismus. Die Zeiten sind vorbei, es gibt im Osten keinen Gegenpol, sondern einen aggressiven Mafiastaat, der Russland heißt.

Dazu kommt, dass sich Russland wirtschaftliche Abhängigkeiten geschaffen hat. Da finden sich dann plötzlich auch im Wirtschaftsflügel der Konservativen Leute, die lieber die Ukraine vor den Bus werfen, als die Beziehungen zu Russland infrage zu stellen. Man denke nur an die Gasverträge der OMV und das Hofieren von Putin von Teilen der Industrie. Aus meiner Sicht sollte eine Koalition der Wissenden in Europa in der Lage sein, dem etwas entgegenzusetzen. Ich bin da insofern optimistisch, als vor allem jüngere Menschen dafür aufgeschlossen sind. Es ist nicht hoffnungslos. Die alten weißen Männer, die werden wir halt noch einige Zeit aushalten müssen.

Europa könnte eine Führungsrolle in der Welt übernehmen – wird es das auch?

Wenn man nach den bisherigen Erfahrungen geht, dann ist es wie bei Grillparzers Bruderzwist im Hause Habsburg: „Auf halben Wegen und zu halber Tat mit halben Mitteln zauderhaft zu streben.“ Allerdings wäre selbst das ein Fortschritt gegenüber dem Ist-Stand. Aber gerade jetzt ist der Druck auf Europa wegen des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine und der erratischen Führung in den USA besonders hoch. Wir müssen selbst Strategien entwickeln, diese umsetzen, uns militärisch unabhängiger von den USA machen, und Europa zu einem starken, handlungsfähigen System umbauen und nicht 27 separate Systeme verwalten.

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 © Verlag Edition a
© Bild: Matt Observe

Steckbrief

Gerald Karner

Der gebürtige Oberösterreicher hat die Theresianische Militärakademie in Wiener Neustadt absolviert und danach den Generalstabskurs des Bundesheeres, zudem studierte er am US Army War College. Ab 2002 leitete Karner die Abteilung Militärstrategie im Verteidigungsministerium. 2006 wurde er karenziert und wechselte in die Privatwirtschaft. Er tritt regelmäßig als sicherheitspolitischer Experte in Medien auf.

Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 44/2025 erschienen.

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