Der Historiker und Osteuropa-Experte Karl Schlögel ist mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet worden. Er warnte früh vor Putins Expansionspolitik, seine Bücher gelten als Pflichtlektüre. In seiner Rede in der Frankfurter Paulskirche rechnet er mit Russland-Verstehern ab, warnt vor Putins Macht der Angst – und endet pathetisch. News.at veröffentlicht seine komplette Dankesrede.
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
sehr verehrter Herr Oberbürgermeister,
ich möchte mich bedanken beim Börsenverein des Deutschen Buchhandels für die hohe Auszeichnung, für die mich sehr berührenden Worte, verehrte Frau Schmidt-Friderichs, bei den Mitgliedern der Jury, bei meinem Verlag, dem Verleger, meinem langjährigen Lektor, den Übersetzern, die dafür gesorgt haben, dass die Bücher zustande und unter die Leserschaft kamen. Von ganzem Herzen bedanke ich mich bei Katja Petrowskaja, die besser, als ich es kann, darüber sprach, was mich nun schon ein Leben lang umgetrieben hat. Vielen Dank!
Besonders wichtig ist mir, dass ich mit dieser Auszeichnung die Möglichkeit bekomme, an diesem geschichtlich so bedeutsamen Ort zu sprechen, und dies nicht nur im kalendarischen 75. Jahr seit der Begründung des Friedenspreises, sondern in einem Augenblick, da einem mit Blick auf die neue Weltunordnung die Grenzen der eigenen Urteilskraft auf schmerzlichste Weise zu Bewusstsein kommen. Es geschieht das Ungeheuerlichste: Unter unseren Augen werden ukrainische Städte Tag für Tag, Nacht für Nacht von russischen Raketen beschossen, und Europa scheint nicht in der Lage oder nicht willens, sie zu schützen. Fassungslos waren wir Zeugen des mörderischen Pogroms der Hamas am 7. Oktober 2023 und der Verwandlung Gazas in ein Schlachtfeld mit Abertausenden von Opfern unter der Zivilbevölkerung. Von den apokalyptischen Szenarien des Bürgerkriegs im Sudan nimmt die Welt kaum Notiz.
Aber wo, wenn nicht hier in der Frankfurter Paulskirche, ist der Ort, über Wege heraus aus dem Krieg zu sprechen und dabei Walter Benjamins Satz ernst zu nehmen: »Wer aber den Frieden will, der rede vom Krieg.« Oder in einer älteren Fassung: »Si vis pacem, para bellum.«
Wer auf die Verleihung des Friedenspreises zurückblickt – und dies ist mit einem Klick auf dessen Webseite leicht möglich –, könnte auf den ersten Blick den Eindruck gewinnen, dass zum Thema Krieg und Frieden alles gesagt ist. Die Ansprachen lesen sich wie eine Chronik der geistigen Situation Nachkriegsdeutschlands: Zuerst, in den ersten Jahren, steht alles noch im Schatten des gerade zu Ende gegangenen Zweiten Weltkriegs und der Katastrophe, die von Deutschland über die Welt gekommen war; der Ort der Verleihung war selbst gerade aus den Trümmern wiedererstanden. Im Rückblick wird deutlich, dass die folgenden Jahrzehnte keineswegs die idyllische Zeit der friedlichen Koexistenz waren, sondern Kalter Krieg, Zeit des Gleichgewichts des Schreckens, des jederzeit möglichen Absturzes in die nukleare Selbstzerstörung. Der Fall des Eisernen Vorhangs und das Ende des Kalten Krieges brachten in Europa nicht das Ende der Geschichte, wohl aber eine Zeit, in der mit dem Fortfall des Systemantagonismus auch die Gründe für den großen militärischen Konflikt zwischen den beiden Supermächten hinfällig erschienen, während die Jugoslawienkriege – von wachen Beobachtern sehr wohl wahrgenommen – schon auf ein Ende der Nachkriegszeit hindeuteten, die mit der russischen Besetzung der Krim im Frühjahr 2014 und – definitiv – mit der Invasion russischer Truppen am 24. Februar 2022 zu einem Ende kam und das Tor zu einer neuen Vorkriegszeit aufstieß.
Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Russland noch einmal zurückfallen würde in Zeiten, die in vielem den Praktiken des Stalinismus gleichen
Die Erforschung der Ursprünge von Kriegen und der komplizierten Wege zum Frieden – die Waffen zum Schweigen zu bringen, das Töten zu beenden, den Aggressor zu entmachten, vielleicht zu einem Friedensvertrag zu kommen, dem dann auch eine Aussöhnung folgen kann – bietet ein unendlich reiches Anschauungsmaterial für das, was Diplomatie vermag und was nicht, aber sie liefert keine für alle Zeit anwendbaren Rezepte, da Geschichte sich eben nicht wiederholt. Und dann stellt man fest, dass man, trotz all des Wissens, trotz all der Erfahrung vorangegangener Generationen, doch noch einmal wieder ganz von vorne beginnen muss, und dass einem in tiefer Ratlosigkeit die Worte fehlen, mit denen man beschreiben kann, was unter unseren Augen vor sich geht. Die Begriffe, mit denen man die neuen Verhältnisse erfassen möchte, sind diesen nicht angemessen. Es verschlägt einem die Sprache für das, was geschieht. Das ist mehr als nur ein Mangel an Begriffen oder schriftstellerischem Talent, sondern das Wegbrechen eines Erfahrungshorizonts, in dem man groß geworden ist und wo alles, was man im Laufe eines Lebens zusammengetragen hat, in Frage gestellt, entwertet scheint, ja in Trümmern liegt.
Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Russland noch einmal zurückfallen würde in Zeiten, die in Vielem den Praktiken des Stalinismus gleichen, dessen Erforschung ich Jahre meines Lebens gewidmet hatte; ich konnte mir nicht ein Amerika, das ich als Student kennengelernt hatte, vorstellen, in dem sich einmal Angst vor einem autoritären Regime würde ausbreiten können. Ganz fremd war mir der Gedanke, dass auch in der Bundesrepublik etwas ins Rutschen kommen könnte. Vor allem aber: dass der Krieg, der für mich etwas war, das ich nur vom Fernsehen oder aus Dokumentarfilmen kannte, etwas Reales in der nächsten Nachbarschaft werden könnte. Das aber ist geschehen. Und es kommt mir so vor, als wären nun wir – wenn ich einmal im Kollektivsingular sprechen darf –, die an eine scheinbare Friedenszeit gewohnte und friedensverwöhnte Generation, an der Reihe, noch einmal alles von Anfang an zu durchdenken, eine Art Bilanz und Prüfung einer Generation, die unwahrscheinliches Glück gehabt hat, und die nun sich unerhört schwertut, Abschied zu nehmen und sich auf den Krieg in Europa und alles, was damit zusammenhängt, einzustellen.
Welch befreiendes Gefühl war es doch, sich aus der Enge der geteilten Welt des Kalten Krieges herauszuarbeiten und sich über die zwischen Ost und West gezogene Demarkationslinie oder unter dem Eisernen Vorhang hindurchzubewegen. Für mich, einen Menschen, der keine familiären Beziehungen zum östlichen Europa hatte, dessen Vater allerdings vom 1.September 1939 an im Krieg gewesen war, die meiste Zeit an der Ostfront und in der Ukraine, war das sehr früh der Fall. Sehr früh lernte ich, dass es jenseits der Teilung Europas in Ost und West, in Sozialismus und Kapitalismus, ein anderes, ein drittes gab, das damit nicht identisch war, die verlorene Mitte Europas. Damit begann eine Entdeckungsfahrt in eine Region, für die man sich damals im Nachkriegswestdeutschland nicht sonderlich interessierte oder meist nur unter dem Aspekt der Feindbeobachtung. Wie immer spielen biographische Zufälle die entscheidende Rolle: Russisch-Unterricht an einer bayerischen Internatsschule, die Atmosphäre von Tauwetter und friedlicher Koexistenz der 1960er – zuerst Jewgenij Jewtuschenkos Poem Babij Jar und Boris Pasternaks Roman Doktor Schiwago, vor allem aber die bleibenden Eindrücke früher Reisen nach Prag und in die damalige Sowjetunion. Diesen Fahrten verdankte ich, dass das mittlere und östliche Europa nicht nur eine Sache der Lektüre, der akademischen Ausbildung war, sondern etwas mit den Menschen, Landschaften und den Schauplätzen der Geschichte zu tun hatte, mit denen ich mich im Studium beschäftigen sollte, lange vor Milan Kunderas berühmtem Essay von 1983 Un Occident kidnappé ou La tragédie de l'Europe centrale: die Atmosphäre des Prager Frühlings, die Begegnung und Freundschaft mit den Dissidenten und Emigranten, und die Vorstellung, dass die Oppositionsbewegungen in Ost und West über die Mauer hinweg zueinanderfinden müssten, vielleicht sogar in einem Brückenschlag zwischen Intellektuellen und Arbeitern. Die mentale Karte Europas hatte sich schon vor dem Fall der großen Grenze verschoben. In den Dissidentenkreisen in Budapest, Warschau, Berlin und in den Moskauer Küchen wurde besprochen, was bald danach in die Revolutionen im östlichen Europa einmündete. Es war eine erregende Zeit der Konspiration über die Grenze hinweg, der neuen Lektüren und der Entdeckung von Bezügen, die einen neuen kulturellen Raum schufen, jenseits der Dichotomie der geteilten Welt. Es öffnete sich der geschichtliche Raum einer ungeheuren sprachlichen und kulturellen Vielfalt, untergegangen in Krieg, Völkermord und Vertreibung. Man war immer schon unterwegs in der tödlichen Zone zwischen dem Reich Hitlers und dem Stalins, man bewegte sich immer schon im Raum einer doppelten Erfahrung, wo es, so konnte man lernen, kein Entkommen, keine Fluchtmöglichkeit gab, Ort des totalen Ausgeliefertseins.
Der Preis
Der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ist eine der bedeutendsten kulturellen Auszeichnungen Deutschlands. Seit 1950 ehrt er Persönlichkeiten, die sich in besonderer Weise für Frieden, Menschlichkeit und Völkerverständigung einsetzen.
Der mit 25.000 Euro dotierte Preis wird jährlich während der Frankfurter Buchmesse verliehen. Zu den jüngsten Preisträgern zählen Anne Applebaum (2024), Salman Rushdie (2023), Serhij Zhadan (2022) und Amartya Sen (2020).
Der Erkundung dieses Raumes und der Vergegenwärtigung seiner Geschichte folgte bald die Transformation der politischen Landkarte, die mit der Auflösung der Sowjetunion auch vor den Grenzen des letzten Vielvölkerimperiums nicht Halt machte. Es war aber immer noch ein weiter Weg zur Erringung der vollständigen Unabhängigkeit und Freiheit der Ukraine. Es bedurfte der Maidan-Revolution und eines Krieges, um die Ukraine endgültig aus dem Abseits einer engen westzentrierten Wahrnehmung herauszuholen. Sie hörte auf, terra incognita, ein weißer Fleck, zu sein. Über die Bildschirme, die Berichterstattung, die Flüchtlinge, die zu uns gekommen sind, wurde sie uns gegenwärtig, ein großes und schönes Land, ein Europa im Kleinen, durch Abertausende von Fäden mit der Welt verbunden: das tausendjährige Kyjiw, Charkiw, eine Metropole der europäischen Moderne, Odessa, von dessen großer Treppe hinab zum Hafen man auf das ganze 20. Jahrhundert blicken konnte, Lwiw, Leopolis, Lwów, Lwow, Lemberg, mehr als nur ‚Klein-Wien‘, ein kulturelles Quellgebiet für den ganzen Kontinent. Die Ukraine als Prisma aller europäischen Erfahrungen im ‚Jahrhundert der Extreme‘: Schauplatz von Revolutionen, Bürgerkrieg und Weltkriegen, Holodomor und Holocaust, und nach jahrzehntelangem Kampf endlich Unabhängigkeit und Freiheit.
Dann aber kam Russlands Besetzung der Krim. Vor über zehn Jahren, zurückgekehrt aus Charkiw, Donezk, Mariupol und Odessa, hatte ich geschrieben: »Wir wissen nicht, wie der Kampf um die Ukraine ausgehen wird; ob sie sich gegen die russische Aggression behaupten oder ob sie in die Knie gehen wird, ob die Europäer, der Westen, sie verteidigen oder preisgeben wird; ob die Europäische Union zusammenhalten oder auseinanderfallen wird. Nur so viel ist gewiss: Die Ukraine wird nie mehr von der Landkarte in unseren Köpfen verschwinden.«
Keine Eroberung, sondern Zerstörung
Putins Russland ist entschlossen, die unabhängige und freie Ukraine von der Landkarte Europas zu tilgen. Putin hat es offen erklärt und beweist Tag für Tag seither, dass es ihm ernst damit ist. Kein Wort kommt an die Bilder der Zerstörung heran. Keine Grausamkeit, die seine Truppen nicht begangen haben. Nichts und niemand, der nicht zur Zielscheibe von Drohnen und Raketen geworden ist: Marktplätze, Wohnviertel, Museen, Krankenhäuser, Hafenanlagen, Bahnhöfe. Städte, die gerade dabei waren, sich in Form zu bringen – neue Flughäfen, Verkehrswege, Hotels – werden zurückgebombt. Städte werden zum Gelände, in dem man mit Drohnen auf Menschenjagd geht. Auf den Volltreffer der Rakete folgt der Volltreffer auf die Rettungsmannschaft. Die Industriegiganten des sozialistischen Aufbaus werden genauso in Schutt und Asche gelegt wie Kirchen, Klosteranlagen oder Sanatorien. Was einmal das ukrainische Ruhrgebiet war, gibt es nicht mehr. Wenn man das Land schon nicht erobern kann, dann muss es wenigstens zerstört, unlebbar gemacht werden. Ein neuer Begriff macht die Runde: Urbizid. Wüstungen des 21. Jahrhunderts, gesprengte Staudämme und Brücken, geflutete Landschaft, Schwarzerde-Felder verbrannt und verseucht auf Generationen, ethnische Säuberung und Entführung von Zehntausenden von Kindern, die besetzten Gebiete als großes Lager unter der Regie von Warlords und Kriminellen. Das Unheil, das Putins Russland über die Ukraine gebracht hat, hat viele Namen: Imperialismus, Revisionismus, Mafia-Staat, Faschismus, Raschismus. Seine Verbrechen sind in einer unendlich großen Zahl von Bildern in Echtzeit dokumentiert und gespeichert, die Namen der Täter – ob an der Front, in den Folterkellern, in den Propaganda- und Kommandostäben – werden gewiss noch ausfindig gemacht werden.
Es ist erstaunlich, wie lange es in Deutschland gedauert hat, gewahr zu werden, womit man es mit Putins Russland zu tun hat. Was immer im Spiele war – historische Pfadabhängigkeit, kulturelle Affinitäten, Nostalgie und Sentimentalität, Wirtschaftsinteressen, auch Korruption –, es ist ein weites Feld für die historische Aufklärung und eine Aufarbeitung, die niemanden schont. Es gab viele Russlandversteher, aber zu wenige, die etwas von Russland verstanden. Sie hätten uns sonst erklärt, was auf uns zukommt und dass die Kategorien, mit denen man Putins Reich zu fassen sucht, eher Ergebnis von Wunschdenken und Gutgläubigkeit waren, anstatt sich einzugestehen, dass man dieser Gestalt des Bösen – welcher Begriff auch immer dafür noch entwickelt werden wird – nicht gewachsen war. Wieviel einfacher und bequemer war es doch, der Nato oder gleich dem kollektiven Westen die Schuld zu geben: Bis auf den heutigen Tag ist die Suche nach einem tieferen Sinn in der Putinschen Politik nicht zur Ruhe gekommen. Genannt werden: Demütigung der einstigen Supermacht, Einkreisungsängste, Sicherheitsbedürfnis, Kampf um Anerkennung. Dem entspricht die Vorstellung, dass sich im argumentativen Diskurs mit ihm Missverständnisse ausräumen und Deals aushandeln lassen. Die Vorstellung, dass Putin sich an Argumente oder gar Verfahrensregeln halten würde, hat er jedoch von Anfang an widerlegt. Er hat den Tisch, an dem Verhandlungen und Gespräche nach bestimmten Spielregeln stattfinden sollten, einfach umgestoßen und mit Bravour die Regelverletzung zum System erklärt, lange bevor der Terminus der Disruption in Umlauf kam. Er war und ist der Meister der Eskalationsdominanz, der wohl kalkulierten Verschärfung von Konflikten, den kalkulierten Bruch des Nukleartabus eingeschlossen. Die Angst ist seine wichtigste Waffe, und in der Bewirtschaftung der Angst besteht sein wahres Talent. Er wähnt sich bis heute unangefochten als Herr des Verfahrens.
Doch muss nicht alles nach seinem Plan verlaufen – der Blitzkrieg gegen die Ukraine, die Einnahme der Hauptstadt, die Siegesparade auf dem Chreschtschatyk in Kyjiw, die Einkesselung Charkiws. Es ist anders gekommen. Da er trotz Hunderttausender Gefallener und Verwundeter an der Front kaum vorankommt, hält er sich an die schutzlose Zivilbevölkerung. Seine Losung ist einfach: Wir machen euch fertig, wo immer ihr seid, ihr habt keine Chance außer der Kapitulation. Diplomatie ist dabei nur das Instrument, um Zeit zu gewinnen, von der er glaubt, dass sie für ihn arbeitet. Die Vordenker in seiner Umgebung sprechen es offen aus: Wir werden euch Europäern das Rückgrat brechen.
Ist das, was ich sage, Russophobie? Es gehört zum Repertoire der Einschüchterungsrhetorik, die Kritik an Putins Regime als Verleumdung Russlands zu diffamieren. Das kann mich als jemanden, der seit seiner Jugend der russischen Kultur verfallen ist und der sich ein Leben lang für ihre Vermittlung eingesetzt hat, nicht treffen. Es tut mir sehr weh, wenn heute Freunde und Kollegen in Gefahr sind und ins Exil getrieben werden. Die Instrumentalisierung des Prestiges der russischen Kultur spielt ganz sicher eine große Rolle in der Durchsetzung von Putins imperialen Ambitionen – Russkij Mir, die russische Welt, die keine Grenzen kennt, als soft power. Zur Einschüchterungsrhetorik und moralischen Erpressung gehört selbstverständlich auch, die ukrainische Führung als Nazis zu diffamieren und die Deutschen unter Naziverdacht zu stellen. Die Bundeswehr wird als Nachfolgerin der Wehrmacht stigmatisiert, während der russische Krieg gegen die Ukraine als Weiterführung des Großen Vaterländischen Krieges gegen den Faschismus umgelogen wird. Alle Verbrechen, derer sich Russland schuldig gemacht hat, werden kurzerhand den Ukrainern in die Schuhe geschoben – vom Abschuss der Linienmaschine MH 17 bis zu den Ermordeten auf den Straßen von Butscha.
So absurd diese Propaganda erscheint, sie ist nicht ohne Wirkung, besonders in Deutschland, das aus bekannten Gründen sich seiner selbst noch immer nicht sicher und daher verwundbar ist. Verglichen damit erscheint die Propaganda aus sowjetischen Zeiten überholt und geradezu harmlos. Hier geht es nicht mehr um den Kontrast von Schwarz-Weiß, um die Unterscheidung von Wahrheit und Lüge, sondern darum, die Unterscheidung von Wahr und Falsch selbst aufzulösen nach der Devise: Alles ist gleich wahr, alles ist gleich falsch, also die Zerstörung der Grundlage jeder Urteilsbildung. Sie zielt auf das heimische Publikum, auf den Aufbau von Feindbildern und Einkreisungsängsten, aber ebenso auf die Öffentlichkeit außerhalb der russischen Welt. Es gibt nichts, was nicht ins Spiel gebracht werden könnte, um die Glaubwürdigkeit und Selbstsicherheit der westlichen Gesellschaften zu untergraben.
Europa, alleingelassen und auf sich gestellt
Es ist nicht schwer, herauszufinden, wo offene Gesellschaften am verwundbarsten und am leichtesten zu treffen sind – und wo die Kräfte sind, derer man sich bedienen kann. Selbst die Fähigkeit zu Selbstkritik und Selbstzweifel, dieser größten Errungenschaft offener Gesellschaften, wird genutzt, um Stabilität und Selbstvertrauen zu unterminieren. Russland preist sich dann als Hort einer ganz eigenen und in jeder Hinsicht überlegenen Zivilisation. Europa und der Westen, oder das, was man darunter verstanden hat, werden als schwach und dekadent verhöhnt, ihre Zeit sei abgelaufen. Diese Stimme ist nicht ohne Echo in einer Situation, in der die Lektüre von Spenglers Untergang des Abendlandes wieder Konjunktur hat. Alles zusammengenommen tut seine Wirkung. Der Krieg, den Russland nach Europa zurückgebracht hat, wird nicht nur mit militärischen Mitteln geführt, sondern als Krieg um die Köpfe, mit Stimmungen, mit Ängsten, mit Ressentiments, mit Nostalgien oder als verlockendes Angebot, zu business as usual zurückzukehren.
Es fällt schwer, sich auf die neue Situation, die Umgruppierung der Kräfte und Allianzen in der Welt, einzustellen. Es heißt soviel wie Abschied zu nehmen von einer Welt, die sich aufzulösen begonnen hat. Dahin ist die Gewissheit, sich verlassen zu können auf Amerika, wie wir es seit Alexis de Tocquevilles De la démocratie en Amérique oder aus der großen amerikanischen Literatur kannten, das Land, das ich seit meinem ersten Besuch als Land der Freiheit von Furcht und der freien Rede in Erinnerung hatte. Dieses Amerika soll nun nicht mehr gelten. Europa ist nun nicht mehr nur konfrontiert mit dem Phänomen des Putinismus, sondern auch mit einem amerikanischen Präsidenten, der alle Vorstellungen vom stummen Funktionieren der checks and balances und Allianzen über den Haufen wirft und der uns zwingt, alle für sicher gehaltenen Koordinaten neu durchzudeklinieren. Europa, allein gelassen und ganz auf sich gestellt in einer Situation, in der alles offen ist.
In dieser Situation habe ich angefangen, noch einmal die alten Texte zu lesen, in denen sich in den 1930er Jahren die hellsichtigsten Köpfe klarzuwerden versuchten darüber, was sich in Zentraleuropa zusammenbraute. Noch einmal ging es zurück zu den Analysen und Schriften, verfasst im Exil, ob in Paris, New York oder Weimar on the Pacific: Ernst Fraenkels Doppelstaat, Franz Neumanns Behemoth, Theodor W. Adornos und Max Horkheimers Dialektik der Aufklärung, oder später, schon mit dem Stalinismus vor Augen, Hannah Arendts Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Aber wie ahnungsvoll und genau diese Analysen auch waren, wir müssen uns nun, in unserer Zeitenwende, selber auf den Weg machen, um die Neuartigkeit und Gefährlichkeit der heutigen Situation mit eigenen Worten zu erfassen. Die ukrainischen Lektionen zur Kenntnis zu nehmen ist dafür hilfreich, ja unverzichtbar.
Niemand ist mehr interessiert am Frieden als die Ukrainer. Sie wissen, dass ein zu allem entschlossener Aggressor sich nicht mit Worten aufhalten lässt. Sie sind Realisten, die sich keine Illusionen leisten können. Weil sie nicht Opfer sein wollen, wehren sie sich. Sie sind auf alles gefasst. Sie kämpfen für ihre Kinder, für ihre Familien, für ihren Staat, sie sind bereit, für ihr Land sogar zu sterben. Was anderwärts nur Fernsehbilder sind, ist für sie unmittelbare Erfahrung. Die Verteidigung an der Front wäre nichts ohne das Heer von Freiwilligen, das hinter ihr steht. Sie haben den Winter überstanden und haben Wochen, ja Monate lang dem allnächtlichen Terror der Drohnen und Raketen getrotzt. Gestern waren sie vielleicht IT-Experten, heute steuern sie Drohnen. Das festliche Kleid, das Frauen beim Theater- oder Konzertbesuch anlegen, demonstriert Haltung, die man sich auch in der Situation des Ausnahmezustandes nicht nehmen lässt, und der Klub ist der Ort, an dem junge Leute Kraft schöpfen für die Fortsetzung des Widerstands. Sie sind in einer postheroisch gewordenen Welt Helden, ohne davon Aufhebens zu machen. Sie halten das Verkehrswesen in Gang und so ihr Land zusammen. Das Heulen der Sirenen ist Hintergrundgeräusch in ihrem Alltag, nicht bloß Probealarm. Sie haben gelernt, worin sich die Einschläge von Drohnen unterscheiden von den Einschlägen ballistischer Raketen.
Die Zeit nach der Zeitenwende
Sie helfen uns, sich auf die Zeit nach der Zeitenwende einzustellen. Sie bringen uns bei, dass Landesverteidigung nichts mit Militarismus zu tun hat. Soldaten, und erst recht Soldatinnen werden geachtet, weil alle wissen, dass sie ihre Pflicht tun und wozu sie bereit sind. Die Bürger und Bürgerinnen der Ukraine lehren uns, dass das, was geschieht, nicht Ukraine-Konflikt heißt, sondern Krieg. Sie helfen uns zu verstehen, mit wem wir es zu tun haben: mit einem Regime, das die Ukraine als unabhängigen Staat vernichten will und das Europa hasst. Sie zeigen uns, dass dem Aggressor entgegenzukommen nur dessen Appetit auf noch mehr steigert und dass Appeasement nicht zum Frieden führt, sondern den Weg in den Krieg ebnet. Weil sie an vorderster Front stehen, wissen sie mehr als wir im noch sicheren Hinterland. Weil sie einem überlegenen Feind ausgeliefert sind, müssen sie schneller und intelligenter sein als er. Ukrainer, die unter dem Generalverdacht des Nationalismus stehen, zeigen uns, dass Patriotismus auch im 21. Jahrhundert nicht überholt sein muss. Sie sind uns militärtechnisch voraus, weil sie zum Kampf gezwungen waren zu einem Zeitpunkt, in dem wir uns noch erlauben konnten, Fragen des ewigen Friedens zu debattieren. Sie haben Waffen selber entwickelt, die ihnen aus Zögerlichkeit oder Furcht vorenthalten wurden. Sie sind der Spiegel, in den wir blicken und der uns daran erinnert, wofür Europa einmal gestanden hat und weshalb es sich lohnt, es zu verteidigen. Sie rufen uns zu: Habt keine Angst, nicht weil sie keine Angst haben, sondern weil sie ihre Angst überwunden haben. Ihre Schriftsteller geben ihr Äußerstes, um zur Sprache zu bringen, wofür anderen fernab die Worte nicht zur Verfügung stehen. Sie haben die ukrainische Sprache in die Welt hinausgetragen und ein Wunder der Literatur vollbracht. Ihre Dichter sprechen in tödlichem Ernst, einige haben dafür sogar mit ihrem Leben bezahlt. Ihr Präsident ist ein Mann, der seinen Landsleuten die Wahrheit zumutet, auch wenn er weiß, wie bitter sie ist. Sie kennen sich aus mit Verhaltenslehren des Widerstands und bringen den Europäern bei, was auf sie zukommt, wenn sie nicht endlich sich auf den Ernstfall vorbereiten. Sie haben die Erfahrung gemacht, dass man in Bedrohungslagen über Nacht Entscheidungen trifft, die in ruhigen Zeiten auf den Sankt-Nimmerleinstag verschoben werden. Stoische Gelassenheit ist für sie ein Luxus, den sie sich erst wieder leisten können, wenn der Krieg beendet ist. Auszuhalten, durchzuhalten, der unsäglichen Erschöpfung zum Trotz – das ist die Revolution der Würde in Permanenz. Sie sind es, denen wir unseren Frieden verdanken, und sie entrichten den Preis, der in Zahlen sich nicht berechnen lässt.
Sie und alle Menschen guten Willens sind es, denen zuerst und zuallererst der Dank gilt. Und an sie soll auch der Gruß von dieser Stelle aus gehen – aus der Frankfurter Paulskirche, dem Ort der deutschen Einheits- und Freiheitsbewegung, einem hot spot des europäischen Völkerfrühlings von einst. Es ist ein Gruß, hinüber zu den Verteidigern einer freien Ukraine, zu den Männern und Frauen, die trotz alledem ihrer Arbeit nachgehen, die ihre Kinder trotz Drohnenschwärmen zum Unterricht bringen, zu den Einwohnern Kyjiws, die in der Metrostation ausharren, zu den Lokführern, die ihre Züge pünktlich von Iwano-Frankiwsk nach Charkiw steuern.
Uns Europäern bleibt, so unwahrscheinlich es klingen mag: Von der Ukraine lernen, heißt furchtlos und tapfer sein, vielleicht auch siegen lernen.

Steckbrief
Karl Schlögel
Karl Schlögel ist ein deutscher Historiker und Publizist. Er gilt als einer der bedeutendsten Kenner Osteuropas und verbindet historische Forschung mit essayistischer Beobachtung und kulturgeografischem Ansatz. Mit seinen Büchern – sein bekanntestes und einflussreichstes Werk ist „Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik“ (2003) – prägte er maßgeblich das westliche Verständnis der osteuropäischen Moderne und der postsowjetischen Transformation. Schlögel warnte früh vor der expansiven Politik Russlands und betont die Eigenständigkeit der Ukraine.
Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 42/2025 erschienen.