Die Forderung nach Liveübertragungen parlamentarischer Untersuchungsausschüsse wirkt vorerst kaum widersprechbar. Doch der Umgang mit aus dem Zusammenhang gerissenen Zitaten erhält durch Verbreitung via Social Media einen Negativturbo
Um sich über Österreichs Bundeskanzler vor 40 Jahren lustig zu machen, genügen fünf Worte: Es ist alles sehr kompliziert. Dieser Ausspruch von Fred Sinowatz reicht zur Komprimierung aller Häme über den aus ganz anderem Holz geschnitzten Nachfolger von Bruno Kreisky. Doch der Satz wird seit vielen politischen Gegner- wie journalistischen Kritikergenerationen vollkommen sinnbefreit aus dem Zusammenhang gerissen. In seiner Regierungserklärung von 1983 sagte der frühere Minister für Unterricht und Kunst: "Ich weiß schon, meine Damen und Herren, das alles ist sehr kompliziert so wie diese Welt, in der wir leben und handeln, und die Gesellschaft, in der wir uns entfalten wollen. Haben wir daher den Mut, mehr als bisher auf diese Kompliziertheit hinzuweisen, zuzugeben, dass es perfekte Lösungen für alles und für jeden in einer pluralistischen Demokratie gar nicht geben kann."
Der Kern dieser Demokratie ist ihre Öffentlichkeit und ein Grundwert die Transparenz ihrer politischen Vorgänge. Also wirkt es vorerst überzeugend, wenn sich letztlich alle Parteien zur Liveübertragung parlamentarischer Untersuchungsausschüsse bekennen. Den letzten Schwenk dorthin hat ÖVP-General Christian Stocker Ende November bei Claudia Reiterer "Im Zentrum" vollzogen. Worauf Georg Krakow die Forderung der ehrenwerten Transparency International nach solcher Ausstrahlung wiederholte. Denn es sei "von besonderer Bedeutung", dass U-Ausschüsse "ernsthaft, seriös und für die Bevölkerung durchgeführt werden. Eine Liveübertragung kann dazu einen Beitrag leisten, weil sich die interessierte Öffentlichkeit selbst ein Bild machen kann, wie sich Auskunftspersonen verhalten, wie sich Abgeordnete verhalten und wie der Ausschuss geführt wird." Doch weil nicht nur im Sinowatzschen Sinne alles sehr kompliziert ist, liegt genau darin auch das Problem. Es ist zu befürchten, dass dieses hautnahe Erlebnis der U-Ausschüsse das Vertrauen in Politik und ihre Glaubwürdigkeit noch mehr beschädigt.
Das liegt nicht an Fehlverhalten als Normalzustand sondern der überproportionalen Verbreitung von Pannen und der Präsentation von Aussagen ohne Zusammenhang. U-Ausschüsse mitten im Wahlkampf wären bei Liveübertragung ein unerschöpfliches Munitionsdepot für die Social-Media-Abteilungen der Parteien. Dabei geht es weniger um die massenhaft mögliche Bloßstellung rhetorischer Schwächen als die Suche nach einzelnen Sätzen, die isoliert gegen ihre Schöpfer verwendbar sind. Das ist zwar auch ein Kennzeichen der unseriösen Sparte von Journalismus, vor allem aber ein Kampfmittel politischer Kommunikation. Letztlich würde eine solche Vorgangsweise zwar der Politik insgesamt, also allen Fraktionen, schaden, doch das hat sie bisher nicht von solchem Negative Campaigning abgehalten.
In der Positiv-Unterstellung, dass dies nicht ausschlaggebend für die plötzlich umfassende Zustimmung zum "Live is Life" der U-Ausschüsse ist, bleibt der Wunsch der Parteien nach Publizität als Hauptgrund. Die Sehnsucht der Bürger nach diesen Erlebnissen ist beschränkt: "U-Ausschüsse live übertragen" erreichte 2023 mit 70.000 Stimmen nur Platz 74 von bisher 92 Volksbegehren. Dass der Wunsch nach mehr Öffentlichkeit ziemlich einseitig ist, zeigt auch die Ausstrahlung der Nationalratssitzungen, die vor einem Jahr nach massiven Interventionen der Parteien doch nicht bloß auf ORF III verbannt wurden. Von den zwölf Sendeblöcken für das dreitägige Dezember-Plenum u. a. zu Gesundheitsreform, Finanzausgleich und Verbotsgesetz erreichte auf ORF 2 nur ein einziger knapp 100.000 Zuschauer. Zum Vergleich: Die "Zeit im Bild" hatte an jedem dieser Sitzungstage mehr als eine Million Seher.
Wie Sinowatz einst seine Erklärung fortsetzte, wirkt übrigens inzwischen als eine Vorahnung heutiger Kommunikationsverhältnisse: "Helfen wir mit, dass die simplen Denkmuster in der Politik überwunden werden können und dass wir die notwendigen Auseinandersetzungen für einen demokratischen Willensbildungsprozess ohne Herabwürdigung der Politik führen können." So steht es im Protokoll der Nationalratssitzung. Online frei verfügbar. Konsumvoraussetzung: Lesefähig- und -willigkeit. Das erschwert die Transparenz offenbar ungemein. Doch die Vorstellung, der Ausschnitt "Das alles ist sehr kompliziert" hätte sich als frei interpretierbarer Videoschnipsel von YouTube über Facebook, Instagram und X/Twitter bis TikTok verbreitet, wirkt noch beunruhigender. Die Transparenz politischer Prozesse benötigt auch die Kompetenz parteilicher Absender und zivilisierter Empfänger.