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Am Donnerstagabend stellt Edelbauer das Buch beim Literaturfestival O-Töne im Museumsquartier vor. Die Wiener Autorin kann sich über mangelnde bisherige Erfolge nicht beklagen. Ihr Debütroman "Das flüssige Land" stand 2019 auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises, für ihren zweiten Roman "DAVE" bekam sie 2021 den Österreichischen Buchpreis, und ihr dritter Roman "Die Inkommensurablen" schaffte es 2023 in Deutschland auf die Longlist. Gut möglich, dass ihr mit dem neuen Buch Ähnliches gelingt.
"Die echtere Wirklichkeit" nähert sich einem der zentralen Gesellschaftsprobleme unserer Zeit, dem Ersatz von Fakten durch Ansichten, über eine ungewöhnliche Grundidee, die Wissenschaftssatire und Politroman zugleich ist. Die in einem besetzten Haus unter haarsträubenden hygienischen Bedingungen lebende geheime Terrorzelle, die sich nach der griechischen Göttin der Wahrheit Aletheia nennt, glaubt, in langen Diskussionen und Lektürestunden in der Entwicklung der Menschheit die falsche philosophische Abzweigung, die geradewegs in den politischen Untergang führt, gefunden zu haben und ruft zur Umkehr auf. Aber wie findet man Gehör?
Mitten in die fruchtlosen Debatten platzt die nach einem schweren Autounfall behinderte Programmiererin Petra. Die Vorgeschichte des Unfalls, bei dem sie in einem Auslandssemester in Schweden ihre beste Freundin Dorothee verloren hatte, bildet eine zweite Erzählebene. Dass sich Petra nur Byproxy nennt, sollte Leser und Gefährten hellhörig machen: Das Münchhausen-by-proxy-Syndrom bezeichnet eine psychische Erkrankung, bei der gesunde Menschen Krankheiten vortäuschen, um Zuwendung und Behandlung zu bekommen. Es ist also eine manipulative und unzuverlässige Protagonistin, mit der wir es zu tun haben. Die Frage nach der Wahrheit stellt sich also permanent.
Byproxy unterwandert und radikalisiert die unentschlossene Gruppe in einer harten Probezeit. Zur Verbreitung der eigenen Botschaft, die in einem nahezu unverständlichen Manifest festgehalten wird, soll ein Sprengstoffanschlag auf das Redaktionsgebäude der "Kronen Zeitung" dienen. Der Sprengstoff wird besorgt, das Attentat minutiös geplant - das Auskundschaften der Örtlichkeit durch Byproxy ist fast als Slapstick-Komödie geschrieben. Da wendet sich das Blatt schlagartig: Wenige Tage vor dem Anschlag stürmt die WEGA das vermeintliche Terroristennest.
"Die echtere Wirklichkeit" beinhaltet philosophische und evolutionsbiologische Exkurse, die echt harten Stoff bieten, ebenso wie Reportageelemente, die unterhaltsam zu lesen sind: Die beschriebenen rechtspopulistischen Wahlkampfreden im Bierzelt, angeheizt von der John Otti Band, könnten lustig sein, wenn sie nicht so naturgetreu wirken würden. Aber wer weiß schon zwischen Fakten und alternativen Fakten zu unterscheiden? Und wer mag beurteilen, ob das Credo der philosophischen Terroristen echter und wahrhafter ist als die Wirklichkeit, die sie nach ihrer Entdeckung für die Gerichtsverhandlung zurechtzimmern?
Die Behörden lassen sich von der Chaos-Truppe, die mehr mit Monty Python als mit der RAF gemein hat, täuschen. Aletheia unternimmt einen zweiten Anlauf, nimmt ein anderes Anschlagsziel in den Fokus und macht Ernst. Im rasanten Finish wird "Die echtere Wirklichkeit" endgültig zum Thriller.
Edelbauers Roman ist schwer zu fassen. Er führt als ebenso irritierende wie faszinierende Tiefenbohrung durch viele Schichten. Wie diese abgebaut und aktiv genutzt werden können, bleibt den Lesern selbst überlassen. Es muss nicht immer eine Terrorzelle sein. Ein Lesezirkel tut's vielleicht auch.
(Von Wolfgang Huber-Lang/APA)
(S E R V I C E - Raphaela Edelbauer: "Die echtere Wirklichkeit", Klett-Cotta, 448 Seiten, 28,80 Euro, Erstpräsentation beim Literaturfestival O-Töne, Museumsquartier Wien heute, 14. August, 20 Uhr)
STUTTGART - DEUTSCHLAND: FOTO: APA/APA / Klett-Cotta/Klett-Cotta