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Herthas Töchter: Die bewegende Geschichte, wie sich zwei Schwestern nach 78 Jahren doch noch fanden

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13 min

Helene

©News / Matt Observe

Eine Frau sucht ihr halbes Leben lang nach ihrer verschollenen Schwester. Und findet sie schließlich. Über die Geschichte von Susan und Helene – und über jene ihrer Mutter Hertha, die als Jugendliche in einem KZ inhaftiert war.

Es ist ein Tag im März, an dem sich Helenes Leben verändert. Sie schaut gerade fern, als es an der Wohnungstür läutet. Vor der Tür zwei Personen, die sie noch nie zuvor gesehen hat. Und die merkwürdige Fragen stellen. „Wissen Sie, wer Ihre leibliche Mutter ist?“ „Ja“, antwortete Helene. „War der Name Ihrer Mutter Hertha? „Ja“, antwortet Helene. Und dann zeigten die beiden ihr ein Foto, das Helene bei ihrer Erstkommunion zeigt. Da weiß die 78-Jährige, dass sie keine Betrüger vor sich hat, sondern die Übermittler einer ganz besondere Nachricht: Sie hat, erfährt Helene an diesem Tag, eine Schwester, die jahrzehntelang nach ihr gesucht hat.

Zwei Monate später trifft News sie in einem Wiener Gastgarten. Helene ist mit Jana gekommen, jener Frau, die damals – gemeinsam mit ihrem Ex-Mann – die frohe Botschaft verkündet hat, und die sie mittlerweile als Freundin betrachtet. Helene ist bereit, ihre Geschichte zu erzählen. Ihre eigene Geschichte. Die Geschichte ihrer Mutter Hertha. Und die von Susan, Helenes amerikanischer Halbschwester, die sie in ein paar Tagen endlich kennenlernen wird. Drei Geschichten, die am Ende zu einer werden.

Helene

Helene wird im Jänner 1947 in Wien geboren. Ihre Mutter gibt sie gleich nach der Geburt ab. Die kleine Heli wächst zunächst im Kinderheim auf, sie ist drei Jahre alt, als sie von einem kinderlosen Ehepaar adoptiert wird. Dort wächst sie – glücklich, erzählt sie – auf und erfährt erst mit 19, dass sie nicht das leibliche Kind ihrer Eltern ist. Sie kennt zwar den Namen ihrer Mutter, verfolgt die Sache aber nicht weiter. Helene führt ein ganz normales Leben. Sie heiratet, bekommt Kinder, wird älter und alt. Und dann auf einmal, der unerwartete Besuch durch den Helene erstmals mehr über das Schicksal ihrer Mutter erfährt: dass Hertha als junge Frau im KZ war. Dass sie Anfang der 50er-Jahre einen US-Soldaten heiratete, mit ihm in die USA zog und drei weitere Töchter bekam. Dass eine dieser Töchter, ­Susan, die älteste, sie seit Jahrzehnten sucht.

Und erstmals sieht Helene – 78 Jahre alt – ein Foto von ihrer leiblichen Mutter. Es steht jetzt in ihrem Schlafzimmer, neben dem Foto ihrer Adoptiveltern, erzählt sie. Sie weint manchmal am Abend, vor lauter Aufregung, und weil sie, in ihrer Adoptivfamilie als Einzelkind aufgewachsen, bald ihre Schwester kennenlernen wird. Helene schiebt den Ärmel nach oben und zeigt ihren Unterarm. Dort prangt eine frische Tätowierung. Ein Name: Susan.

Ein paar Tage später im Wohnzimmer von Jana. Die erste Begegnung der beiden Schwestern hat inzwischen stattgefunden. Jana ist so etwas wie die Moderatorin dieser Familienzusammenführung. Seitdem sie vor einiger Zeit von ihrer slowakischen Cousine, die als Ahnen­forscherin arbeitet, den Auftrag bekommen hat, Helene zu kontaktieren, fungiert sie als Dolmetscherin und Vermittlerin. Sie ist außerdem, hat sich herausgestellt, entfernt mit ­Herthas slowakischen Vorfahren verwandt.

Jana hat alle zum Schnitzelessen in ihre ­Ottakringer Wohnung eingeladen. Susans Familie ist da, ihr Mann, ihre Tochter, ihr Schwiegersohn und ihre Nichte; Janas kenianischer Ex-Ehemann und ihre gemeinsamen Söhne, ihr Lebensgefährte, ihre Mutter. Helene fehlt aus gesundheitlichen Gründen. Eine große Patchworkfamilie. „Wir sind eine bunte Familie, von ganz schwarz bis ganz blond“, sagt Jana. „Und Heli und ihr Sohn haben jetzt einen Platz bei uns gefunden.“

Während die Jungen kochen, erzählt Susan ihre Version der Geschichte. Irgendwann während des Gesprächs zeigt sie ihren Unterarm. Auch dort eine Tätowierung: Helene.

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 © News / Matt Observe

Susan

Susan wird 1955 in den USA geboren. Als Tochter einer Frau, der es nicht leicht fällt, sich in den USA zurechtzufinden. Sie kann kein Englisch. Ihr Ehemann verbietet ihr, mit den Kindern Deutsch zu sprechen. Hertha traut sich auch nicht, über ihre uneheliche Tochter zu sprechen. „Ich erinnere mich“, erzählt Susan, „dass sie uns in den Keller führte, eine Kiste öffnete und ein Bild von einem Mädchen bei der Erstkommunion herausnahm. Sie sagte, das ist eure Cousine Sylvia. Tatsächlich war es ein Foto von Helene, das ihre Adoptiveltern geschickt hatten. Mutter hat Helene immer geliebt, aber sie hatte das Gefühl, dass sie es geheim halten musste, damit die Leute nicht schlecht von ihr denken. Sie hielt es sogar vor uns geheim.“

Erst nach Herthas Tod Mitte der 90er-Jahre rückt der Vater mit der Wahrheit heraus und Susan beginnt sofort, nach der verschwundenen Schwester zu suchen. Sie kontaktiert zunächst das Rote Kreuz, das sich aber für unzuständig erklärt, da Helenes Schicksal nicht unmittelbar mit dem Zweiten Weltkrieg zusammenhänge. Es hilf nichts, dass Susan weinend erklärt, dass es sehr wohl am Krieg lag, dass ihre junge, gerade aus dem KZ entlassene Mutter sich nicht um ihr Neugeborenes kümmern konnte. Aber Susan gibt nicht auf, sondern macht es sich zur Lebensaufgabe, die verschollene Schwester zu suchen.

Und dann, 30 Jahre später, jener denkwür­dige Moment, in dem sie endlich fündig wird. „Ich wachte eines Morgens früh auf und sah, dass der Ahnenforscher, den ich beauftragt hatte, geschrieben hatte. Ich wollte das Mail zuerst gar nicht aufmachen, weil ich wusste, dass ich wieder enttäuscht sein würde. Ich war schon so kurz davor, meine Suche aufzugeben. Aber dann stand dort: ,Ich kann bestätigen, dass Ihre Schwester Helene noch am Leben ist.‘ Und anschließend ihre Adresse in Wien. Ich zitterte am ganzen Körper. Ich wusste nicht, ob ich weinen, lachen oder schreien sollte.“

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Hertha war keine 20 Jahre alt, als sie 1947 Helene auf die Welt brachte. Sie hatte keinen Kontakt zu ihrer Tochter, bewahrte aber deren Erstkommunionsfoto , das Helenes Adoptiveleltern geschickt hatten, ihr Leben lang auf.

 © News / Matt Observe
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Hertha

Hertha wird 1927 in armen Verhältnissen in Wien geboren. Sie ist sechs, als ihre Mutter stirbt und sie mit ihren beiden Brüdern ins Kinderheim kommt. Später heiratet der Vater erneut, die Stiefmutter behandelt seine Kinder aus erster Ehe schlecht. Mit 16 wird Hertha ins Konzentrationslager deportiert, zunächst ins Jugendlager Uckermark, dann nach Ravensbrück. Als Teenager interviewt Susan ihre Mutter für ein Schulprojekt und fragt sie nach ihrer Geschichte. Sie habe den Arbeitsdienst verweigert und nicht an den Jugendaktivitäten der Nationalsozialisten teilgenommen, erzählte Hertha damals. Zudem: Ihre Familie war bitterarm, die Nazis brauchten billige Arbeitskräfte. 1945 wird Hertha befreit und kehrt zu Fuß von Berlin nach Wien zurück, völlig erschöpft und entkräftet. Im Jänner 1947 bringt sie Helene zur Welt.

Die Jahre im KZ prägten ihre Mutter nachhaltig, erzählt Susan. „Wir haben immer gesagt, meine Mutter hat ihr eigenes Geschäft im Keller. Stapelweise Konserven, Papierprodukte, Seifen. Vom Boden bis zur Decke, in zwei verschiedenen Räumen. Und sie kaufte viele, viele Kleider, Hüte, Handschuhe, Mäntel, Pullover. Einige hatten, als sie starb, immer noch das Preisschild daran. Warum sie das tat? Mein Vater sagte, weil sie nie wieder frieren wollte. Und sie wollte schöne Kleidung haben. Sie kaufte Ohrringe, Halsketten, sogar einen Nerzmantel. Wir waren schockiert nach ihrem Tod. All die Kleidung, die sie in Kisten versteckt hatte. Es hat Jahre gedauert, bis wir das alles durchgegangen waren.“

Hertha hat auch einen großes Herz für andere Unterprivilegierte, erzählt ihre Tochter. In der Stadt Cincinnati, in der sie wohnt, leben auch viele vietnamesische und kambodschanische Flüchtlinge. Jedes Wochenende, wenn sie zum Einkaufen in die Innenstadt geht, nimmt sie ein anderes Kind mit, führt es zum Essen aus und kauft ihm etwas Schönes. „Sie wusste, wie es ist, zu hungern“, sagt Susan.

Hertha ist ihr Leben lang traumatisiert von den Ereignissen in ihrer Jugend. „Ich erinnere mich, dass wir als Kinder mit ihr im Wohnzimmer gesessen sind, ich und meine 13 Monate jüngere Schwester Linda. Sie hat die ganze Zeit geweint. Geweint und geweint und geweint, und wir wussten nicht, was los war. Sie hatte einen Nervenzusammenbruch und kam ins Krankenhaus, Elektroschocktherapie. Sie wollte sich von meinem Vater scheiden lassen, aber konnte nicht, weil sie nicht Englisch sprach und keine Berufsausbildung hatte.“ Erst als die Enkelkinder kommen, findet Hertha so etwas wie inneren Frieden, erzählt Susan.

Hertha, Susan und Helene

Die schwierige Lebensgeschichte ihrer Mutter prägt auch Susans Leben. Sie beschließt früh, dass sie eine ordentliche Ausbildung machen will, um von niemandem abhängig zu sein. Und einen Partner finden, der sie um ihrer selbst willen liebt. Beides gelingt ihr: Susan ist mit ihrer Lebensliebe, Patrick, immer noch zusammen. Und sie arbeitet jahrzehntelang als Geschichtslehrerin in einer Highschool. Keine Schule für Privilegierte, sondern eine öffent­liche Schule, mit afroamerikanischen, jüdischen und eingewanderten Schülerinnen und Schülern. „Ich wollte Geschichtslehrerin werden, damit die jungen Leute etwas über die Vergangenheit lernen und nicht wieder von Leuten wie Hitler oder Trump hereingelegt werden. Die aktuelle politische Situation in den USA fühlt sich an wie eine Niederlage.“

Jahrelang konnte sie nicht weinen, erzählt Susan. Die Tränen kommen jetzt. Beim Besuch im KZ Ravensbrück, das sie mit ihrer Familie besuchte, um Hertha besser zu verstehen. Und bei der Begegnung mit ihrer Schwester Helene, die ihre Mutter vor fast 80 Jahren in Wien zurücklassen musste. Herthas Töchter haben beschlossen, ihre Mutter als Heldin zu sehen. „Wenn jemand das KZ überlebt und dann eigenständig beschließt, in die USA zu gehen, ist das sehr heldenhaft.“ Ihre Mutter, sagt Susan, wäre glücklich, sie alle zusammen zu sehen. „Ich habe das auch zu Helene gesagt. Weißt du, Mutter schaut auf uns herunter. Sie wäre stolz auf uns alle und auf das, was sie geschaffen hat.“ Dann entschuldigt sie sich. Sie weint.

Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 21/25 erschienen.

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