George Deutsch überlebte als Kleinkind den Holocaust – durch eine Aneinanderreihung glücklicher Zufälle, wie er sagt. Und weil seine Eltern von anständigen, tapferen Menschen aus dem Umfeld der französischen Résistance umgeben waren. Mit Österreich schließt er jetzt, im Alter von 83 Jahren, „ein Stück weit Frieden“.
Dass George Deutsch an diesem Freitagvormittag in der Lobby eines Wiener Hotels sitzen und seine Geschichte erzählen kann, ist eigentlich ein Wunder. Oder die Folge mehrerer Wunder, Zufälle, glücklicher Fügungen, wie auch immer man es nennen möchte. Denn George wurde 1942 als Sohn jüdischer Eltern in Europa geboren. Und hat die Verfolgung, die Ermordung von Millionen Juden durch die Nationalsozialisten überlebt. Wie? Eine turbulente, fast filmreife Geschichte, die George bereit ist, zu erzählen. Und die im Wien der Zwischenkriegszeit ihren Anfang nimmt.
Ernst und Hansi 1926 geben sich Ernst Deutsch und Johanna „Hansi“ Kornreich dort das Ja-Wort. Ein flottes, sehr sportliches Paar. Die beiden betreiben eine Skischule im Wolfsgraben bei Klosterneuburg. Johanna wird 1935 österreichische Slalom-Meisterin. Auch Ernst fährt so gut Ski, dass ihm „die Skiprüfungskommission, die bereits in den 30er-Jahren von Nazi-Sympathisanten kontrolliert wurde, die Qualifikation nicht verweigern konnte“, erzählt George. Sein Vater wird der einzige jüdische staatlich geprüfte Skilehrer in Österreich. Alte Fotos zeigen Ernst mit einer Gruppe von lachenden Skischülern in zeittypischen Wollpluderhosen, -socken und Lederschuhen, Johanna auf Skiern mit offener Jacke und zerzausten kurzen Haaren.
Auch ihre Flitterwochen verbringen die beiden in den Bergen, in den Dolomiten. Aus Kostengründen beschließen sie, einen gemeinsamem Reisepass zu beantragen. Eine kleine, unscheinbare Entscheidung, die entscheidende Folgen haben wird – vielleicht das erste der vielen Wunder, das dazu führt, dass Familie Deutsch den Holocaust überlebt. Denn nach dem Einmarsch Hitlers in Österreich, der das Leben des jungen jüdischen Paares für immer verändern wird, findet Johanna Arbeit in einer Strickfabrik in Straßburg und darf aus Österreich ausreisen – und Ernst mit ihr. Wegen des gemeinsamen Passes.


Alte Fotos: Ein Werbeplakat für die Skischule Deutsch im Wolfsgraben bei Klosterneuburg. George Deutschs Mutter Johanna, genannt Hansi, war 1935 österreichische Slalommeisterin. Sie musste Österreich 1938 verlassen und überlebte den Holocaust, gemeinsam mit ihrem Ehemann und ihrem kleinen Sohn, in Frankreich – zuletzt versteckt in einem Dorf unweit von Lyon.
© PrivatSchon nach wenigen Monaten wird den beiden klar, dass sie auch in Frankreich nicht sicher sind. Ernst verliert seine Stelle in einer Skischule und wird als „feindlicher Ausländer“ interniert. Er meldet sich freiwillig zur Französischen Fremdenlegion, wird nach Algerien geschickt und bleibt dort, bis die Deutschen die Fremdenlegion 1942 auflösen und viele jüdische Legionäre direkt in Konzentrationslager deportieren.
Barbier und Barbie
Und hier, schon wieder, eine glückliche Wendung. Ernst lernt in Algerien den Franzosen George Barbier kennen, der ihm anbietet, mit ihm nach Lyon zu kommen und dort in seiner kleinen Möbelfabrik zu arbeiten. Ernst nimmt das Angebot an und arbeitet sich schnell zum Vorarbeiter hoch, obwohl er nie zuvor als Tischler gearbeitet hat.
Johanna folgte ihm nach Lyon, wo sie in zwei winzigen steingepflasterten Räumen über einer Bäckerei wohnen. Am 31. Jänner 1942, dem 16. Hochzeitstag seiner Eltern, wird George geboren. Unter dem Schutz des jungen Tischlermeisters Barbier, der, vermutet Deutsch, ein Mitglied der französischen Résistance gewesen sein könnte – und nur 800 Meter entfernt vom Hauptquartier von Klaus Barbie, dem berüchtigten „Schlächter von Lyon“. „Barbie versuchte, uns zu töten. Und Barbier versuchte, uns zu retten“, fasst George zusammen.
Ich bin sehr glücklich, hier in Wien zu sein. Aber ich kann nicht vergeben oder vergessen.
Auch in Lyon fühlen sich Ernst und Johanna nicht sicher. Sie wollen die Flucht in die Schweiz versuchen. Mit dem sechs Monate alten George reisen sie mit dem Zug in die französischen Alpen nach Samoëns, wo sie sich einer Gruppe von zehn anderen Flüchtlingen anschließen. Sie bezahlen einen Bergführer dafür, sie über den Col de Bostan in die Schweiz zu bringen. Doch es läuft nicht, wie erhofft. Der Guide verlässt die erschöpfte Gruppe kurz vor der Grenze. Und die lokale Bevölkerung alarmiert den Grenzschutz – erst wenige Tage davor war ein Gesetz erlassen worden, das keine weiteren Flüchtlinge erlaubte.
Um nicht von Nazis gefasst zu werden, müssen sie also umkehren und wieder Richtung Samoëns absteigen. Doch die Gruppe ist sich nicht einig, welche Route die richtige ist. Ernst und Johanna – mit dem kleinen George in einem Rucksack – beschließen schließlich, sich von den anderen zu trennen und ihrem eigenen Instinkt, ihrer Bergerfahrenheit, zu folgen. Eine lebensrettenden Entscheidung. Denn die anderen Flüchtlinge laufen den Deutschen direkt in die Arme. Ernst, Johanna und George gelingt die Rückkehr nach Lyon.
Die Véricel-Töchter
Freunde organisieren für Ernst gefälschte Papiere. Johanna und George überleben die Jahre bis 1945 in dem Dorf St. Martin en Haut, etwa 40 Kilometer außerhalb von Lyon, bei der sechsköpfigen Familie Véricel. Der Postbeamte des Dorfs warnt die Einwohner stets vor Gestapo-Besuchen. Wenn Alarm geschlagen wird, gehen die Véricel-Töchter in das Zimmer von Johanna und George, nehmen dort ihre Mahlzeiten ein und tun so, als würden sie dort wohnen – während der kleine George und seine Mutter sich auf dem Dachboden, im Keller oder im Wald verstecken.
Er verdanke sein Leben vielen Zufällen und glücklichen Wendungen, sagt George Deutsch. Und den vielen Menschen, die ihr eigenes Leben aufs Spiel setzten, um seines zu retten. George Barbier und dessen Mitarbeitern, die genau wussten, wer Ernst war, ihn aber nicht an die Nazis auslieferten. Dem Bäcker, über dessen Backstube Familie Deutsch wohnen durfte. Den Véricels in St. Martin en Haut. „Meine Eltern waren von so vielen anständigen und tapferen Menschen umgeben“, sagt George.
Ein Stück weit Frieden schließen
Zumindest in Frankreich. Die Gefühle gegenüber Österreich, dem Land, aus dem die Deutschs vertrieben wurden, bleiben ambivalent. Die Familie wandert 1949 nach Australien aus. Ernst etabliert sich dort als Möbeltischler, George schlägt eine Karriere als Ingenieur ein, heiratet, bekommt Kinder und Enkelkinder. Österreich-Besuche finden statt, hinterlassen aber keine positiven Gefühle.
Bis jetzt. Diesmal ist George Deutsch auf Einladung des Jewish Welcome Service in Wien, jenes Programm der Stadt Wien, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, von den Nazis vertriebene Wienerinnen und Wiener – und deren Nachkommen – wieder mit ihrer Heimatstadt zu versöhnen. Das Programm sieht unter anderem auch einen Festakt beim Bundespräsidenten vor. Eine wichtige Geste, die alte Wunden vielleicht nicht heilen, aber die Vergangenheitsbewältigung zumindest erleichtern kann.
Er sei dankbar, in Österreich willkommen geheißen zu werden, sagt George Deutsch. „Ich möchte mich bei allen Menschen hier in Wien bedanken, die uns so gut aufgenommen und mir geholfen haben, mit dem, was meinen Eltern und meiner Familie widerfahren ist, ein Stück weit Frieden zu schließen.“ Er sei, sagt George, in vielen Hinsichten „sehr glücklich“, hier zu sein. „Aber ich kann nicht vergeben oder vergessen. Wir sollten auch gar nicht vergessen. So etwas darf nie wieder passieren, auch wenn es immer noch vorkommt. Die Welt lernt leider nicht.“
Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 22/25 erschienen.