In der Weltrangliste der Gegenwartskunst nimmt der Österreicher Erwin Wurm Platz 16 ein und distanziert damit selbst Hockney und Miró. Sein Leben mit Ehefrau und 13-jähriger Tochter pulsiert in ständiger Schaffensfreude. Doch zum 70. Geburtstag wandeln ihn die Endlichkeitsgefühle an, wie er im Gespräch einbekennt.
Man könnte es auch so ausdrücken: Der Künstler Erwin Wurm hat sich zwei Jugenden geschaffen und schien damit gegen Überfälle des Alters aus dem Hinterhalt dauerhaft geschützt. Die erste Jugend samt erster Ehe datiert aus dem vergangenen Jahrtausend, die Söhne Laurin und Michael sind 34 und 32, der Ruhm war damals kaum als vage Perspektive absehbar. Die zweite Jugend ist frisch und inspirierend: die Ehe mit der französischen Künstlerin Elise Mougin, die 13-jährige Tochter Estée, der Aufstieg in den Weltranglisten der bildenden Kunst: Das weltgrößte Kunstportal Artfacts führt den Österreicher, der die Grenzen der Heimat unter der Obhut des Galeristen Thaddäus Ropac hinter sich gelassen hat, auf dem 16. Platz der Gegenwartskunst, Tendenz: aufsteigend. Und wer da aller vor ihm logiert! Sieben sind schon verstorben, unter ihnen Warhol und Picasso. Hinter dem Österreicher rangieren u. a. Hockney und Miró.
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Artfacts richtet sich nach der Präsenz in internationalen Ausstellungen. Die aktuelle Weltrangliste der Gegenwartskunst:
1. Andy Warhol (†)
2. Pablo Picasso (†)
3. Gerhard Richter
4. Joseph Beuys (†)
5. Cindy Sherman
6. Bruce Nauman
7. Louise Bourgeois (†)
8. Georg Baselitz
9. Wolfgang Tillmans
10. Robert Rauschenberg (†)
11. Rosemarie Trockel
12. Sol LeWitt (†)
13. Thomas Ruff
14. Yayoi Kusama
15. Sigmar Polke (†)
16. Erwin Wurm …
28. Valie Export …
37. Maria Lassnig (†) …
46. Arnulf Rainer …
50. Franz West (†) …
59. Heimo Zobernig
Die Balance zwischen pulsierendem Künstlerleben und erbrachter Lebensleistung ist perfekt: Drei wohlgeratene Kinder wurden gezeugt, Bäume auf dem Anwesen im niederösterreichischen Limberg in großer Zahl gepflanzt. Und erst die Häuser! Das Schloss samt umliegender Landschaft wäre schon Nachweis genug für ein architektonisches Wollen außer aller Norm. Aber erst das Fetthaus, das im Gefolge der Body-Positivity-Bewegung jetzt „Big House“ heißt! Oder sein spindeldürres Pendant, das an die kleinbürgerliche Enge des elterlichen Haushalts in Bruck an der Mur erinnert! Ein solches Gebäude hing ann0 2006 kopfüber vom Dach des Museums moderner Kunst in Wien, als wollte es gleich auf die Passanten niederstürzen. Und dann diese Nachricht! Erwin Wurm wird am 27. Juli 70 Jahre alt.
Wie geht es Ihnen mit Blick auf das bevorstehende Datum? Ist Ihnen nicht etwas besinnlich zumute?
Mir geht es gut, was die Arbeit, das Verhältnis zu meiner Familie und meinen Freunden betrifft. Aber es ist schon ein Schock. Denn 70 ist nicht mehr jung, und da beginnt man dann schon darüber nachzudenken, wie lange man noch hat, um weiterzumachen.
Wie lang hat man denn? Vom Gefühl und von der Arbeit ewig, aber die Realität sieht anders aus.
Darf man das als Anwandlung einer zarten Altersdepression verstehen? Im Gegenteil, ich hätte gerne, dass mein derzeitiger Lebenszustand noch länger anhält.
Wie werden Sie Ihren Geburtstag begehen?
Ich bin mit meiner Familie in unserem Haus auf der griechischen Insel Hydra, wir haben Freunde eingeladen, es gibt ein Fest, wir werden essen und tanzen.
Wie ist dort die Situation? Ist die Insel eine Anlaufstelle für Migranten?
Nein, Hydra ist eine kleine Insel, die liegt nicht auf der Route der Migranten. Es gibt dort keine Straßen, keinen Autoverkehr, nur Esel. Man bewegt sich zu Fuß fort oder per Boot.
Mit Hydra verbinden viele Leonard Cohen, der dort seine Romane und seine ersten Lieder schrieb. Hat Sie das auf diese Insel geführt?
Nein, Thaddaeus Ropac hat uns nach Hydra eingeladen, und da haben wir uns in die Insel verliebt. Aber eine Verbindung zu Cohen gibt es: Seine Enkeltochter ist mit unserer Tochter befreundet.
Und wie wirkt sich der Geburtstag beruflich aus?
In der Gestalt von zwölf Einzelausstellungen, in England gab es bereits eine bei Ropac, eine in Berlin bei Johann König, eine wurde gerade in China in der Fosun Foundation in Shanghai eröffnet, eine in Portugal, in Italien eine in Venedig in der Bibliothek Marciana, dann kommen einige in Amerika und im Herbst folgt eine Retrospektive in der Albertina Modern.
Nun ist ja derzeit jeder künstlerische Kontakt mit Russland verpönt. Haben Sie keine Sorge, dass man Ihnen auch die Ausstellung in China verübelt?
Dann darf man wahrscheinlich auch bald nicht mehr in Amerika ausstellen. Ganz ehrlich, ich war jetzt öfter in China und habe ein prosperierendes Land gesehen, wo sehr viele Frauen Führungspositionen innehaben. Es ist eine Diktatur, Leute werden überwacht und Sie müssen aufpassen, was Sie sagen. Aber manchmal habe ich das Gefühl, bei uns kann man auch nicht alles sagen, wenn es nicht politisch opportun ist.
Steckbrief
Erwin Wurm
Erwin Wurm wurde am 27. Juli 1954 in eine Polizeibeamtenfamilie in Bruck an der Mur, Steiermark, geboren. Er studierte in Graz, Salzburg und Wien, wo er an der Angewandten später auch eine Professur bekleidete. Berühmt wurden neben seinen vermenschlichten Häusern, Autos und Nahrungsmitteln seine „One Minute Sculptures“ – Menschen posierten kurz mit Alltagsgegenständen. Wurm lebt in Limberg (NÖ) und ist in zweiter Ehe verheiratet. Er hat drei Kinder, 34, 32 und 13.
Bereiten Ihnen die bevorstehenden Wahlen Sorgen?
Es treten ausschließlich zugelassene Parteien an. Die einen sind links und die anderen rechts. Wir leben in einer Demokratie und die ist nicht in Gefahr so wie in Amerika oder in anderen Ländern. Ich mache mir also keine Sorgen. Irgendeine Partei wird gewinnen und dann werden sie sich zusammenraufen und eine Koalition bilden. Ich mache mir eher Sorgen, dass manche Politiker schlechte Arbeit machen und weiterhin das Land hinunterziehen. Als ich bekannter wurde und die Leute, auch Politiker, begonnen haben, sich um mich zu bemühen und mich einzuladen, fand ich es zunächst cool, dass mich dieser und jener Minister kennenlernen will. Das war auch eine Art Selbstbestätigung. Aber bald habe ich gemerkt, dass es auch eine Art Instrumentalisierung ist. Darum habe ich mich vollkommen zurückgezogen. Ich gehe nur noch selten zu Veranstaltungen – weil man nur vereinnahmt wird von links, von rechts, von oben und von unten.
Wie kann man sich Ihre künstlerische Arbeit vorstellen, wenn Sie nichts mehr zur Gesellschaft sagen wollen? Ziehen Sie sich in den Elfenbeinturm zurück?
Ich drücke mich nur noch durch meine Arbeit aus. Denn bei uns wird man sofort in parteipolitische Diskussionen hineingezogen. Das will ich nicht mehr. Für die Ausstellung in der Albertina mache ich eine große Arbeit über Schule. Meine Kritik am Konsum, an der Maßlosigkeit, am Umgang mit uns selbst setze ich natürlich fort. Es gibt viel Stoff.
Wie kamen Sie auf das Thema Schule?
Ich habe bereits vor einigen Jahren darüber gearbeitet, wie wir als Individuen sozialisiert werden. Auf der einen Seite durch Elternhaus und Familie, auf der anderen Seite durch Erziehungsanstalten wie Schulen, Universitäten. Dabei gehe ich zurück bis ins 19. Jahrhundert und führe das quasi bis in unsere Vergangenheit, in die 50er- und 60er-Jahre. Anhand von alten Lehrmitteln wie großen Wandtafeln kann man den Wandel der Geistesgeschichte, der Gesellschaft und der Vorstellung, wie die Welt zu sein hat, verfolgen. Man kann nachvollziehen, wie die Schule eine Gesellschaft geformt hat. Dieses alte Wissen hat heute zum Teil seine Gültigkeit verloren. Manches ist wirklich absurd, etwa die Lehre, dass man Speiseöl aus Kohle herstellen kann. Oder diese Karten der Kolonien, die zeigen, was man wirtschaftlich aus Kolonialländern herausholen kann. Die kommunistischen Lehrtafeln aus verschiedenen Ländern wie der UdSSR zeigen, wie Stalin vergöttert wurde. Dazu Anschauungsmaterial, wie einzelne Länder einander gesehen haben. Das ist extrem aufschlussreich, denn alles verändert sich permanent. An den Lehrplänen sieht man, wie Meinungen produziert oder weitergegeben wurden. Das ist abstrus.
Das muss damals auch der Umgang miteinander gewesen sein. Stimmt es, dass Ihre Lehrer die Schüler noch geschlagen haben und Mitschüler einander ohne Rücksicht verhöhnt haben, etwa wenn einer etwas mehr Gewicht hatte?
Das war alles normal. Einer in unserer Klasse meldete sich sogar am Telefon als der G’füllte. Alle wurden damals niedergemacht, die Dicken, die Dünnen, wer etwas krumme Beine hatte, Rothaarige, Frauen, Männer. Man hatte wenig Achtung voreinander. Gut, dass sich das geändert hat, denn das war ein unerträglicher Zustand.
Diese neue Rücksicht wirkt sich aber doch auch auf Ihre Kunst aus. Stimmt es, dass Sie deshalb Ihre berühmten Skulpturen „Fat House“ und „Fat Car“ umbenannt haben?
Die heißen jetzt „Big House“ und „Big Car“. Dabei meinte ich ursprünglich gar nicht Fettleibigkeit. Mein Vater war Kriminalbeamter, große, teure Autos waren für uns fette Autos. „Fett“ war ein Zeichen für PS-Stärke. Heute ersetze ich es durch „Big“, im Sinne von Think Big. Die Bedeutung aber bleibt die gleiche, meine Kritik an unserem Größenwahn, unserer Aufgeblasenheit, unserer Lächerlichkeit, unserer Selbstzerstörung und Weltzerstörung.
Ihr Biograf Rainer Metzger schreibt von einem Donald-Duck-Bild in Ihrem Vorzimmer. Wurden Sie, wie zuvor schon Manfred Deix, von Donald Duck und seinem Zeichner Carl Barks inspiriert?
Ich habe eine Seite aus einem Comic von Carl Barks aufgehängt, denn Donald Duck hat mich immer inspiriert. Er war meine Lieblingsfigur von Disney. Er verkörpert den verzweifelten Loser, er hat so etwas Erbärmliches und gleichzeitig Menschliches, das ist rührend. Aber ich musste diese Hefte als Kind heimlich lesen.
Hat sich Ihre Affinität zum Disney-Erpel auch in einem Kunstwerk niedergeschlagen?
Es gibt eine Vase, die ich für eine Berliner Porzellanmanufaktur entworfen habe, die heißt „Der Onkel“, das bezieht sich auf Donald Duck.
Wären Sie ohne Comics auch zur Kunst gekommen?
Keine Ahnung. Von meinem ersten Taschengeld kaufte ich mir Bücher und bin so irgendwie in die Literatur gekippt und dann auch in die Kunst. Da öffnete sich für mich eine Tür in eine andere Welt, in die nur ich Zutritt hatte. Auch bei den Eröffnungen wollte ich meine Eltern und Verwandten anfangs nicht dabeihaben.
Hat sich das geändert?
Meine erste Frau wurde von ihren Eltern unterstützt, Kunst zu machen. Die waren glücklich darüber, so etwas war für mich undenkbar, denn Kunst war für mich etwas Subversives. Es war mir richtig unangenehm, dass ihre Eltern da ganz nahe waren.
Gibt es eine Schaffensperiode, auf die Sie besonders gern zurückblicken?
Mich interessiert immer das Zukünftige, was meine Arbeit und auch was meine Familie betrifft. Ich bin kein Nostalgiker, der sagt, ja, die alten Zeiten waren so gut und die neuen sind so schlecht. Im Gegenteil, ich glaube, dass wir die Kraft haben, uns selbst immer wieder zu erneuern und weiterzuentwickeln. Ich hoffe, die Gesellschaft hat diese Kraft auch. Ich lebe das. Für mich sind die neuen Arbeiten das Spannende, die sind die Zukunft, sonst könnte ich mein eigener Archivar werden, und dazu habe ich keine Lust.
Liegt Ihnen deshalb nichts an einem eigenen Museum? Für Hermann Nitsch wurde bereits zu Lebzeiten eines eingerichtet.
Mir ist wichtig, dass meine Arbeiten in über 100 Museen weltweit zu sehen sind. Wir arbeiten daran, dass es noch mehr werden. Museen von einzelnen Persönlichkeiten in abgelegenen Orten sind gefordert, immer wieder neue Ausstellungen einzurichten, damit überhaupt Menschen hinkommen. Das finde ich keine guten Lösungen. Also ich werde hier in Limberg sicher kein Museum machen. Wir werden eine Foundation haben, weil wir mein Werk erhalten wollen und dafür sorgen, dass es auf verschiedenen Ebenen weiter diskutiert wird und auch in Zukunft präsent ist. Aber ein eigenes Museum? Nein danke.
Lassen Sie uns einen Blick auf den Kunstmarkt werfen. Die Kunstplattform Artfacts führt Sie derzeit auf Platz 16 der Gegenwartskunst, wobei auf der Liste auch Tote wie Warhol, Picasso und Rauschenberg stehen. Ist Ihnen diese Platzierung wichtig oder gar Ansporn?
Der Ansporn kommt von einem selbst. Weil ich es einfach liebe, Kunst zu machen, das ist mein Leben. Ich werde arbeiten, bis ich nicht mehr kriechen kann. Ich erinnere an Matisse. Der war gelähmt, hat liegend im Bett mit einem langen Stab noch gezeichnet. So etwas wird man nicht los. Das ist was Wunderbares. Das ist die höchste Freude überhaupt, als kreativer Mensch zu arbeiten.
Auch jetzt im Urlaub auf Hydra?
Sicher. Ich zeichne, überlege, und das jeden Tag. Ich brauche gute Literatur, lese Philosophen, am liebsten zurzeit Montaigne. Kunst zu machen, das macht mich aus. Das bin ich. Das ist mein Sein, mein Dasein, mein Lebenselixier. Das ist meine Freude, genauso wie meine Kinder, meine Freunde und meine Frau. Das ist einfach eine Grundstimmung, die mich ausfüllt.
Gibt es eine Arbeit, die Ihnen am nächsten steht?
Nein, alle meine Arbeiten sind mir gleich nahe. Das ist, wie wenn man jemanden, der zehn Kinder hat, fragt, welches ihm denn am liebsten ist. So etwas macht man nicht. Es gibt Werke, die werden im Moment besser wahrgenommen. Viele bringen mich wahrscheinlich mit den „One Minute Sculptures“ in Verbindung. Da geht es um die Psyche, um uns Menschen, um unsere Verrücktheiten, unsere Lächerlichkeiten und um unsere Stärken. Ich fühle mich derzeit auch immer mehr zu absurden Themen und zur Absurdität hingezogen. Das werden Sie auch bei einigen meiner Arbeiten in der Albertina Modern sehen. Die beziehen sich auf einen Roman von Samuel Beckett mit dem Titel „Wie es ist“, im Original „How It Is“. Da geht einer in einen Sumpf. Es gibt keinen Anfang, es gibt kein Ende. Das ist ein Symbol, ein Bild für unsere Welt. Wir stecken im Sumpf, versuchen, uns weiterzubewegen, und es scheint, dass wir keine Chance haben durchzukommen. Oder doch?
Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 30+31/2024 erschienen.