Die insgesamt erfreuliche Bilanz der Festspiele Reichenau führt zu weiteren Überlegungen: Weshalb glänzen hier Könner, die man im Theateralltag vermisst? Und wird man bald nach Reichenau fahren müssen, um das Beste aus zerstörten Ensembles zu sehen?
Fünf unterschiedlich gelungene, aber allesamt lehrreiche Premieren habe ich binnen Wochenfrist zu Füßen der Rax absolviert, einmal auch an der Außenstelle im verwunschenen Südbahnhotel auf dem Semmering. Alle Produktionen sind noch bis 3. August zu sehen, lassen Sie sich durch das Folgende also nicht aufhalten (bzw. doch aufhalten, je nachdem, wieviel Glauben Sie mir schenken).
Zu melden habe ich: einmal ein Wunder in letzter Minute – Doderers Abschiedswerk „Die Wasserfälle von Slunj“ gelingt der Regisseurin Beverly Blankenship außer aller Norm. Einmal auch Unmut (über die Torpedierung der für unsinkbar gehaltenen Komödie „Arsen und Spitzenhäubchen“ im Vollrausch entgleister Regieeingebungen). Aber dafür viermal Gutes. Und in allen Fällen das Gefühl animierter Melancholie über soviel schauspielerische Exzellenz, die sich in den Spielplänen der großen Bühnen nicht immer abbbildet.
Um bei dem im Schleudergang eingelaufenen Spitzenhäubchen zu bleiben: Roland Koch sollte zwar nicht blind auf eine Spätkarriere als Regisseur vertrauen. Aber wie kann es sein, dass dieser riesenformatige Charakterdarsteller am Burgtheater zuletzt nur in zwei Auslaufproduktionen aus der Vorgängerdirektion Kusej zu sehen war? (Auch von Birgit Minichmayr und Mavie Hörbiger sähe man gern das Doppelte des ihnen Anvertrauten). Und wieso muss man auf eine missglückte Premiere in Reichenau warten, um die singuläre Therese Affolter wiederzusehen? Wo doch sämtliche Häuser Europas am Altedamenfach verzweifeln?
Die großen Alten werden gebraucht
Nicht glücklicher steht es um die Population profilscharfer alter Herren (Branko Samarovski weiß am Burgtheater schon nicht mehr, wo er zuerst anpacken soll). Da entsann sich die Josefstadt – fünf Jahre ist das schon her – des unbeschäftigten Bühnenriesen Wolfgang Hübsch, der die Komödie „Monsieur Pierre geht online“ auf solche Höhe spielte, dass sie bis heute das Haus füllt.
Hübsch war heuer in Reichenau für die feine Dramatisierung von Joseph Roths „Hiob“ aufgeboten. Er brach sich während der Generalprobe die Schulter (möge er umstandslos genesen!), und das Weitere steht exemplarisch für die Selbstheilungskräfte des Theaters: Das Ensemble verbrachte die Nacht und den Tag bis zur Premiere damit, die fünf für Hübsch vorgesehenen Charakterrollen auf sie zu verteilen. Am Ende wechselten sogar die Regisseurin Alexandra Liedtke (schön für Salzburg, dass sie am dortigen Landestheater Führungsposition übernimmt) und der Wundergeiger Aliosha Biz das Fach! Und Joseph Lorenz, der den russischen Hiob Mendel Singer ohne Anfechtung zu ostjüdischer Talmifolklore auf denkwürdige Höhe spielt, führte zwischenzeitlich Dialog mit sich selbst.
Für Hübsch ist mittlerweile Günter Franzmeier eingesprungen, auch er Inhaber einer lehrreichen Biografie: Über Jahre hatte er dem Volkstheater ein prägnantes Gesicht gegeben, dann musste er den Dortmunder Besatzungstruppen des Katastrophendirektors Kay Voges weichen. Das leergespielte Volkstheater bemüht sich ab Herbst unter neuer Leitung um Wiederaufbau. Und Franzmeier repräsentiert jetzt das exponiert österreichische Ensemble des Josefstadt-Direktors Herbert Föttinger. Hier kann, auch mit den Staatsgästen Erwin Steinhauer und Robert Meyer, ein Ton erzeugt werden, der das Haus als einziges am Platz für Raimund, Schnitzler, Turrini prädestiniert.
Sorge um die Josefstadt
Und schon baut sich die nächste Geschichte auf. Wie ich an dieser Stelle melden konnte, kündigt die ab September 2026 amtierende Josefstadt-Direktorin Marie Rötzer 18 Ensemblemitglieder. Das widerspricht allen Gepflogenheiten des Hauses: Seit 1988 musste bei keinem Direktionswechsel auch nur ein Schauspieler gehen. Man vertraute der natürlichen Fluktuation wie ein bedeutendes Orchester, das seinen Klang über Generationen verfeinert. In Reichenau sah man zum Beispiel den kostbaren André Pohl an der Spitze der Rüpeltruppe aus dem „Sommernachtstraum“, die unter Maria Happels Anleitung im Südbahnhotel Prachtvolles vorlegt.
Ein Ort des Bewahrens
Pohl wird in der neuen Direktion nicht weiterspielen, und das bringt mich zur Coda dieser Geschichte: Die Festspiele von Reichenau waren seit ihrer Gründung anno 1988 ein Ort klugen Bewahrens. Damals waren es die durch Claus Peymann in die zweite Reihe beförderten Burg-Größen, die dem Ton der verlorenen Zeit nachlauschten. Als sich die Zeiten änderten, folgten ins Hintertreffen geratene Peymann-Kapazunder.
Aus den Konkursmassen der Direktionen Kusej (Burg) und Voges (Volkstheater) gibt es zwar nicht viel zu bewahren. Aber Föttinger, der wie seine Frau Sandra Cervik die Josefstadt verlässt, möchte man wiedersehen. Ebenso die josefstädtischen Alterspretiosen Michael König und Marianne Nentwich. Oder die nicht zu ersetzende Unterschiedspielerin Katharina Klar.
Lassen Sie mich zum Finale noch ein paar Namen nennen, denen ich in Reichenau wiederbegegnet bin und um die sich jeder Direktor sehr bemühen müsste: Julia Stemberger fällt mir da ein, Sebastian Wendelin und Florian Carove. Nicht in Reichenau tätig, aber im Bühnengeschehen arg vermisst: Isabella Knöll, vormals Volkstheater, oder Lili Winderlich, die von der regierenden Burgtheaterdirektion weder verlängert noch erkennbar ersetzt wurde.
So, das war mein gutes Werk der Woche. Ich empfehle mich in den Mindesturlaub.
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Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 28+29/25 erschienen.