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Paul Lendvai: „Mich empört die Einseitigkeit der Kritik an Israel“

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Paul Lendvai

©Bild: Matt Observe

Der 95-jährige Journalist und Autor Paul Lendvai hat die Tiefen und Höhen der europäischen Geschichte erlebt: als Jude von den Nazis verfolgt, als Linkssozialist von den Kommunisten in Ungarn ins Gefängnis geworfen, als Ungarn-Flüchtling, der zum überzeugten Österreicher wurde. In seinem neuen Buch „Wer bin ich?“ blickt er zurück. Und beantwortet die Frage selbst so: „Ein glücklicher Mann“.

Ihr neues Buch heißt „Wer bin ich?“. Wenn Sie diese Frage kurz beantworten müssten, Herr Lendvai: Wer sind Sie?

Ein glücklicher Mann. Ein Mann, der Glück gehabt hat, bisher.

Ein Mann mit vielen Facetten?

Ich hatte, als ich nach Wien kam, so viele Krisen, aber auch Glücksfälle durchgemacht, wie andere Menschen in 70 Lebensjahren. Ich habe Todesgefahr und Gefängnis überlebt. Je älter ich werde, desto öfter denke ich, wie viel Glück ich gehabt habe. 1944, als ich den Nazis entkommen bin. 1953, als Stalin gestorben ist, während ich im Gefängnis war. Ich wäre sonst noch Jahre dort gewesen. 1956, als unsere Wohnung von russischen Granaten zerstört wurde, wir aber unversehrt blieben.

Im Buch beschreiben Sie, dass seit dem Terroranschlag der Hamas Ihre jüdische Identität und das Gefühl der Bedrohung stärker geworden sind.

Den Anstoß dazu hat nicht nur der 7. Oktober gegeben, sondern auch die internationale Reaktion darauf. Statt Empörung gab es eine ungeheure Steigerung des Judenhasses. Mich empört die Einseitigkeit der Kritik an Israel: Wer demonstriert heute gegen den Überfall auf die Ukraine, das Blutbad im Sudan oder Myanmar? Das soll kein Whataboutismus sein – weder für die Terrorbande noch für die Netanjahu-Regierung. Aber wie nun Leute pauschal und ausschließlich mit Anti-Israel-Aussagen auftreten – das hat mich meines Judentums bewusster gemacht. Deshalb habe ich die Einladung zu einer kurzen Gedenkrede am 8. Mai am Heldenplatz angenommen. Dort habe ich meine persönliche Betroffenheit und meine Meinung zum Ausdruck gebracht. So wie in meinen Kolumnen aus aktuellen Anlässen im „Standard“. Darüber hinaus trete ich diesbezüglich öffentlich nicht auf.

Haben Sie die Empathielosigkeit gegenüber den Terroropfern und der Antisemitismus überrascht?

Sicherlich! Persönlich habe ich allerdings in Österreich den Antisemitismus nie gespürt, Gott sei Dank. Aber laut Innenministerium und israelitischer Kultusgemeinde ist er auch in Österreich stärker geworden. Es gibt aber nicht so massenhafte tätliche Angriffe wie etwa in Berlin.

Den Politikexperten gefragt: Warum stellen sich Menschen bei Demonstrationen auf die Seite der Hamas?

Mich empört nicht nur das, sondern auch, dass TV-Anstalten wie die BBC Konzerte übertragen, bei denen Rap-Sänger „Death to IDF“ singen. Im deutschen Fernsehen werden jeden Tag die Bombardierungen und die Opfer in Gaza gezeigt, während die bestialischen Morde beim Terrorangriff der Hamas oder die Ermordung der verschleppten Geiseln natürlich nicht oder nicht nachträglich dargestellt werden können. All das heizt natürlich den Antisemitismus an.

Es tritt inzwischen ein linker, intellektueller Antisemitismus wieder stärker zutage.

Eine Abgeordnete der SPÖ, die selbst palästinensische Wurzeln hat, hat zum Beispiel kürzlich im Fernsehen erklärt, Israel habe den Iran nur angegriffen, um von Gaza abzulenken. Was für ein Unsinn. Das erinnert mich daran, dass auch seinerzeit bei der Übertragung der Selenskij-Rede im Parlament die Hälfte der SPÖ-Abgeordneten fernblieben.

Wie erklären Sie sich das? Ist es Geschichtsvergessenheit?

Das geht zurück zum Jahr 1945, als die Verbrechen des Dritten Reiches, die Ermordung von sechs Millionen Juden, nicht zur Kenntnis genommen wurden. In Österreich geschah das erst viel später durch den Waldheim-Skandal. Es gibt tiefe religiöse Wurzeln des Judenhasses, verstärkt durch die linke Idee des Antikolonialismus, noch lebende nazistische Überbleibsel und natürlich auch die Masseneinwanderung von Menschen, die in ihren Ländern in diesem Geist erzogen wurden. Jetzt sollen sie hier, wo es ohnehin nicht genug Lehrer gibt, zu demokratischen Werten und einer Verurteilung des Antisemitismus bewegt werden. Ein fast aussichtsloses Unterfangen.

Wenn man etwas schätzt und schützen will, dann steht man auf, wenn es angegriffen wird und sagt: Ich bin ein Österreicher

Paul Lendvai

Welcher Moment Ihres Lebens hat Sie besonders geprägt?

Die Überlebensmomente. Das Wichtigste war die Flucht aus Ungarn, meine Heimat und meine Eltern zu verlassen. Ich kam mit einem geliehenen Koffer. Es gab auch andere wichtige Momente: 1944, als ich zum ersten Mal ohne Lebensgefahr und gelben Stern auf die Straße gehen konnte. Oder die Entscheidung, in Wien zu bleiben.

War von Anfang an klar, dass Sie nach Österreich gehen, oder war das dem Zufall geschuldet?

Es war meiner Offenheit geschuldet. Ich hatte bereits ein Affidavit für die Einwanderung nach Kanada. Aber beim Visum habe ich mein Leben erzählt: dass ich Linkssozialist war und dann Mitglied der KP wurde. Ich habe das Visum nicht bekommen. So lief es auch mit Amerika. Daher blieb ich hier. Aber ich war eigentlich schon damals nach der Ablehnung ganz glücklich gewesen. Ich habe um die österreichische Staatsbürgerschaft angesucht und sie zweieinhalb Jahre später, 1959, bekommen. In der Furche habe ich dann 1965 zur Borodajkewycz-Affäre und dem zutage getretenen Neo-Nazismus und Antisemitismus geschrieben und zum ersten Mal unter dem Titel „Ich bin ein Neuösterreicher“ öffentlich Stellung genommen.

Wann haben Sie sich als Österreicher gefühlt?

Ich bin hineingewachsen. Ich habe beim Heurigen Journalisten und Schauspieler getroffen, hatte durch meine Arbeit für Zeitungen Kontakte, Freundinnen und so weiter. Eine große Rolle hat meine Beziehung zu Bruno Kreisky gespielt, durch den ich viel aus der österreichischen Geschichte verstanden habe. Und wenn man etwas schätzt und schützen will, dann steht man auf, wenn es angegriffen wird und sagt: Ich bin ein Österreicher. Deswegen bin ich auch während der Waldheim-Affäre und als Österreich im Jahr 2000 wegen der schwarz-blauen Regierung angriffen wurde, im Ausland bei Vorträgen für Österreich aufgetreten. Dazu kommt ganz einfach: Man hat mich hier freundlich aufgenommen und nie angegriffen. Ich habe gesehen, dass man in diesem Land ohne Rücksicht auf Abstammung oder Akzent seinen Weg machen kann.

Gibt es diese offenen Arme noch?

Das weiß ich nicht. Es gibt persönliche Erfolgsgeschichten, aber man betrachtet die Minderheit, aus der dieser Mensch kommt, trotzdem als etwas Fremdes. Für jene, die heute kommen, ist es schwieriger. Hätte es 1956 nach dem Ungarn-Aufstand Demokratie gegeben, wären alle Leute sofort zurückgegangen. Heute erwarten das viele von den Syrern, die hierhergekommen sind. Aber es ist paradox: Jene, die sich am besten integriert haben und erfolgreich sind, wollen oft nicht zurück. Es sind eben oft die Besten, die sich aus Ländern wie Syrien oder Afghanistan auf den Weg machen. Jedenfalls war es mit den Ungarn, Tschechen oder Polen, die hierhergekommen sind, anders.

Weil eine kulturelle Nähe da war?

Ja, natürlich, auch bei den Sitten. Bei uns sieht man im Gegensatz zum Nahen Osten, geschweige denn zu Afghanistan, auf der Straße Frauen in kurzen Hosen oder mit Dekolletés. Und dann kommen Menschen, die sowas in ihrer Heimat nicht kennen. Die Probleme sind offensichtlich. Aber es gibt keine einfachen, realisierbaren Lösungen.

Es gelingt uns nicht, dass Zugewanderte und Aufnahmegesellschaft gut zusammenleben?

Es gelingt, aber nicht so gut, wie man das möchte und könnte. Ich hatte die Ehre, den Migrationsrat für Österreich mehrere Jahre zu führen. Wir haben einen hundert Seiten starken Bericht verfasst. Aber es wird immer wieder politisches Kleingeld mit diesem Thema gemacht. Wenn eine Familie mit acht Kindern hohe Zahlungen bekommt, denkt ein Pensionist, der das in der Gratiszeitung auf der Titelseite liest, natürlich nicht, dass das ein Einzelfall in der Statistik ist. Da gibt es emotionale Reaktionen. Selbst in einem Flüchtlingsland wie Großbritannien, wo es einen Regierungschef mit indischen und einen Londoner Bürgermeister mit pakistanischen Wurzeln gab bzw. gibt, wird nun eine Partei erfolgreich, die nur durch europafeindliche Agitation und Ausländerhass an die Macht will.

In Österreich war diese Agitation früher der FPÖ vorbehalten. In der Zeit von Sebastian Kurz ist sie in der ÖVP und der Mitte des politischen Spektrums angekommen.

Ich weiß nicht, ob man Kurz als in der Mitte bezeichnen kann.

Aber die ÖVP vor ihm.

Was Kurz gemacht hat, war ein eleganter, freundlich verkleideter Rechtsschwenk. In der Regierung hat er die wichtigsten Ministerien der FPÖ geschenkt und ist noch heute stolz darauf. Danach hat er mit Peter Thiel kooperiert, der eine extrem rechte, fast faschistische Ideologie vertritt. Aber ich will hier nicht Kurzologie betreiben. Wenn man nach Frankreich blickt oder auf Sarah Wagenknechts Partei in Deutschland: Auch die extreme Linke versucht, damit Stimmen zu gewinnen.

Wir haben in der Vergangenheit, etwa beim Nationalsozialismus, ­gesehen, wie leicht Menschen verdorben werden können

Paul Lendvai

Wie blicken Sie auf Europa, das durch Nationalismus bedroht wird?

Nationalismus ist die gefährlichste, weil die mächtigste Ideologie. Und eigentlich ein Unsinn, wenn man sieht, welcher Wohlstand durch offene Grenzen entstanden ist. Nationalismus und Korruption sind die größten Gefahren für unseren Wohlstand. Man muss sie bekämpfen – in der Schule, den Medien, in der Politik. Es ist lebensgefährlich, wenn man wie die FPÖ unter dem Deckmantel der Heimatpartei auftritt und gleichzeitig mit einer aggressiven, imperialistisch-nationalistischen Macht wie Putins Russland befreundet ist. Ja, es ist schwieriger, die EU als Erfolg zu verkaufen, und nicht als Instrument der Einmischung in die eigene Politik. Aber ich denke, sie ist die größte Errungenschaft – trotz aller Fehler.

Sie haben stets Freundschaften quer durch alle politischen Lager gepflegt. Wäre das heute noch möglich?

Wenn man nicht auf einem Auge blind ist, ist das auch heute möglich. Man muss den Hass bekämpfen, ich tue in meinen Artikeln und Bücher alles dafür, dass politische Gegner nicht als Feinde gesehen werden. Das Problem ist aber, dass die politische Elite so schwach ist. Doch es gibt Gegenbeispiele. Denken Sie an Erwin Pröll, den erfolgreichsten Regionalpolitiker der österreichischen Geschichte. Er hat immer auch linke Schriftsteller zu Gesprächen eingeladen, er hat Bücher mit Michael Häupl und Peter Turrini gemacht. Er hat in Niederösterreich eine Politik der Offenheit gemacht. Das ist genauso wichtig wie der Kampf gegen Korruption. Wir sehen bei der Benko-Geschichte, über die News lobenswerterweise berichtet, dass er die Rückendeckung und Mitwirkung ehemaliger Bundeskanzler hatte.

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 © Zsolnay Verlag

Trauen Sie Christian Stocker den großen Horizont, den Sie bei Erwin Pröll angesprochen haben, zu?

Ich habe Stocker im Standard einen öffentlichen Brief geschrieben, knapp vor Ende seiner gescheiterten Verhandlungen mit der FPÖ und Herrn Kickl. Ich glaube freilich nicht, dass das eine Rolle bei seiner Wende gespielt hat. Ich habe ihn dann später auch zu einem Gespräch getroffen und einen guten Eindruck gewonnen. Er hat eine klare, vernünftige Linie im Sinne der besten Werte der Zweiten Republik.

Was raten Sie einem jungen Menschen, der sich fragt: Wer bin ich?

Ich würde ihm raten, aus eigenen Fehlern, den Fehlern der Familie und des Landes zu lernen und nie Extremen – abgesehen vom Sport – nachzugeben. Außerdem: Nie aufzugeben, sondern zu kämpfen und auszuharren. Und zu lesen. Wir haben in der Vergangenheit, etwa beim Nationalsozialismus, ­gesehen, wie leicht Menschen verdorben werden können. Daher halte ich es für sehr wichtig, dass das Bildungswesen mit allen Mitteln gefördert wird, dass man Lehrerinnen und Lehrer anständig bezahlt. Davon hängt alles ab.

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 © Bild: Matt Observe

Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 30+31/25 erschienen.

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