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Wogrollys Couch: Ludwig Janus und die Liebe vor dem ersten Schrei

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Ludwig Janus

©Mattes Verlag

Monika Wogrolly hat sich mit dem Pränatalexperten Ludwig Janus über die Auswirkungen der frühen Beziehung zur Mutter auf das spätere Leben aus.

Die Pränatalpsychologie existiert seit 101 Jahren. Ein Buch von Otto Rank, einem Schüler von Freud, „Das Trauma der Geburt“, zeigte 1924, dass es bei Erwachsenen häufig zu aus dem vorsprachlichen Erleben stammenden Gefühlen kommt. Während Freud diesen Zusammenhang nicht knüpfte, beschäftigt die Pränatalpsychologie indessen längst die wissenschaftliche Forschung

Die meisten Menschen sagen, ich kann mich nicht an meine Geburt erinnern, daher ist das doch egal.

Seit den 70er, 80er Jahren weiß man, dass alle vorsprachlichen Erfahrungen im Gedächtnis gespeichert sind, aber in unserem Erfahrungsgedächtnis, im sensorischen Gedächtnis, und eben nicht als Spracherfahrung.

Ich gebe Ihnen Beispiel, wenn ich eine Nabelschnurumschlingung bei der Geburt hatte, habe ich heute gewissermaßen Engegefühle im Hals oder ich kann es nicht ertragen, wenn mir ein Pullover über den Kopf gezogen wird. Das können wir jetzt als Nachklang dieser Nabelschnurerfahrung reflektieren, dass ich keinen engen Kragen tragen kann. Wir haben im sensorischen Gedächtnis und Gefühlsgedächtnis diese Dinge vorsprachlich abgebildet. Der entscheidende Durchbruch war, dass wir das auch als reale vorsprachliche Erfahrung heute reflektieren können.

Es gibt Menschen, die früh eine Trennung von der Mutter erlebten. Kann sich das auf das spätere Bindungsverhalten auswirken?

Ich hatte eine Patientin, die immer, wenn ihr ihre Partnerschaft zu eng wurde, Fluchtimpulse bekam. Dass sie irgendwie weg musste und die Beziehung konnte sich nicht fortsetzen. Es war immer On-Off, wenn Fragen aufkamen, wie: wollen wir zusammenziehen, wollen wir sogar heiraten, wollen wir ein gemeinsames Kind, wollen wir quasi eine neue Welt schaffen. Sie war Ärztin: Wenn sie morgens in die Klinik fuhr, imaginierte sie ihre Hinrichtung, eine psychotische Idee aus dem emotional traumartigen Zwischenhirngedächtnis.

Und als sie mir das gesagt hatte – sie hatte aber nichts Psychotisches – habe ich zu ihr gesagt, sie möge bitte ihre Mutter nach den Umständen ihrer Geburt befragen. Sie hatte dann mit ihrer Mutter gesprochen und es wurde klar, in der Mitte der Schwangerschaft hatte der Vater eine Liebesaffäre. Das Gefühl ihrer Mutter war dann so: Wenn er mich verlässt, dann will ich auch das Kind nicht mehr. Wir konnten in ihrer Psychotherapie dann eine Reihe von Nahtodvergegenwärtigungen damit in Verbindung bringen. Das entlastete meine Patientin. So wurde die Zeitachse wiederhergestellt.

Wir kommen mit 20 Prozent unserer späteren Hirngröße zur Welt, andere Primaten mit 80 Prozent ihrer späteren Hirngröße

Ludwig Janus

Was meinen Sie in Ihren Büchern mit der Aussage, der Mensch sei „unreif geboren“?

Wir werden nur mit dem Stammhirn und dem Mittelhirn geboren. Der Hippocampus, den wir für die emotionale Basisorientierung brauchen, reift erst mit etwa anderthalb Jahren aus. Und erst mit vier, fünf Jahren erreicht der Mensch die Fähigkeit, sich in die Perspektive  des anderen, die sogenannte  „Theory of Mind", einzufühlen, wodurch ich meine Mutter als von mir getrenntes Wesen – als „meine Mama“ in ihrer Realität wahrnehmen kann, die von mir unabhängig ist. Wir kommen mit 20 Prozent unserer späteren Hirngröße zur Welt, andere Primaten mit 80 Prozent ihrer späteren Hirngröße. Unsere Hirnentwicklung findet in den ersten fünf Jahren nach der Geburt statt. Die Umwelt hat eine riesige Bedeutung. In seinen Diskursen mit Otto Rank meinte Sigmund Freud, so wichtig könne doch die Geburt nicht sein.

Aber was hier wichtig ist, ist die Unreife: Wenn ein Fohlen zur Welt kommt, stellt es sich auf seine vier Beine und läuft schon herum. Der Mensch ist vollkommen abhängig von seiner Mutter wegen der Unreife. Evolutionsbiologisch werden wir gleichsam erst mit neun Monaten geboren. Wir müssten aber eigentlich für die Reife 21 Monate haben, wie der kleine Elefant. Und dann hätten wir auch hirnorganisch die Möglichkeit, uns zu orientieren. Das nennt sich auch „Birth Dilemma“. Das ist das Problem, das auch die Philosophen bedenken müssen. Heidegger hat ja von der Geworfenheit ins Nichts gesprochen. Bei Geworfenheit könnte man ja an die Tiergeburt denken. Das Tier wirft. Darum ist die Zusammenarbeit, die Kooperation zwischen Philosophie und Psychoanalyse und Kulturpsychologie so bedeutsam.

In meiner Schwangerschaft begegnete mir mitten im Wald ein großer Hund, der mich laut anbellte. Was kann mein Sohn heute als Erwachsener gegen die Angst vor bellenden Hunden tun?

Sie haben ihm eigentlich die halbe Brücke schon gebaut. Die andere Brücke wäre die Lektüre meines Buches „Wie die Seele entsteht – Unser psychisches Leben vor und nach der Geburt“. Dann kann er diesen Zeitstrahl wiederherstellen. Ihr Sohn wird verstehen: „Das war damals: Und damals habe ich den Schrecken meiner Mutter geteilt. Ich habe nicht gedacht, meine Mutter ist meine Mutter, und da ist der Hund und der bellt und meine Mutter ängstigt sich.

Und ich habe damals keine Möglichkeit gehabt, mir zu sagen, ich sitze ja im sicheren Uterus oder der Schäferhund wird schon wohl nicht. Sondern: Ich saß im Schrecken meiner Mutter. Und das habe ich im Zwischenhirn gespeichert. In der Zwischenhirnerinnerung kann ich das aber jetzt, wenn ich erwachsen bin, reflektieren.“ Er kann das Erlebnis von damals mit der heutigen Hundephobie in Verbindung bringen, wie in anderen Fällen das Engegefühl mit der Nabelschnurumschlingung oder die Tunnelangst mit einem Geburtsstillstand.

Wie kann eine Mutter mit ihrem ungeborenen Kind eine gute Beziehung aufbauen?

Es spürt die Hand auf dem Leib und dann reagiert das Kind. Früher, noch in meiner Zeit, wurden Säuglinge als Reflexwesen betrachtet. Man führte an ihnen Operationen ohne Narkose durch. Heute hat noch ein Kollege zu mir gesagt, das vorgeburtliche Wesen sei eine Biomasse. Das ist absurd. Die Mutter ist das Universum. Das ist meine erste Welterfahrung, wonach ich natürlich später in den Religionen und in den Märchen, in den Jenseitsräumen wieder suche. Vieles von unserer Religion ist eigentlich eine projizierte Pränatalpsychologie.

Haben Sie Tipps, sich die Liebe zu erhalten?

Ganz wichtig: Wechselseitig über die eigenen Familiengeschichten sprechen Wie bin ich zur Welt gekommen? Wie bist du zur Welt gekommen? Wie ich zur Welt gekommen bin, ist meine Mythologie. Jede Familie hat ja ihre komplexe Struktur. Und Paare sollen miteinander reden. Ich meine immer, Paarbeziehung ist eine unfreiwillige Psychoanalyse.

Nach außen sieht es so aus: „Die ist ja so nett, er ist ja so lieb. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie heute noch.“ Im schlimmsten Fall kommt aber gerade in Liebesbeziehungen dann eine höllische Dimension heraus, wo das Unglück der Geburt oder der frühen Beziehung zur Mutter sich dann reinszeniert. Und wo gerade diese vorsprachlichen Erfahrungen sich in der Paarbeziehung wiederholen, nur dass wir das heute reflektieren können.

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Steckbrief

Ludwig Janus

Ludwig Janus studierte Psychologie und Medizin und ist seit Mitte der siebziger Jahre psychoanalytischer Psychotherapeut in Heidelberg. Janus ist Pionier der vorgeburtlichen und vorsprachlichen Psychologie. Er erforscht die Einflüsse von Erfahrungen vor der Geburt und vor der Sprachenentwicklung auf den Menschen.

Über die Autoren

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