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Kafkas Meisterwerk „Die Verwandlung“ als zeitlose Symbolik des Antisemitismus

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Peter Sichrovsky

©Bild: News/Ricardo Herrgott

Franz Kafkas berühmte Erzählung wird oft als Parabel auf das Außenseitertum gelesen. Doch die Metapher vom „Ungeziefer“ weist weit über die Literatur hinaus – bis in die Realität von Judenhass, Ausgrenzung und den historischen Kontext des Ghettos.

„Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt“, eröffnet Kafka seine Erzählung.

„Als jüdische Frauen, Männer und Kinder eines Morgens aufwachten, fanden sie sich in der Gesellschaft zu ungeheuren Ungeziefern verwandelt“, Israels Gegenangriff nach dem 7. Oktober hat das Leben der Juden verändert. „Was ist mit mir geschehen?“, dachte Gregor Samsa. „Was ist mit uns geschehen?“, dachten sie in Paris, Rio, Sydney und Toronto.

Wie Gregor, der Reisende für Tuchwaren, hatten sie ein nahezu normales Leben. Bis die Gemeinschaft, in der sie versuchten, unerkannt einzutauchen – wegen eines Konflikts fernab ihres Alltags – sie verantwortlich erklärte, zu Ungeziefer, zu Schädlingen verurteilte.

Fremdheit

Kafka schrieb die Erzählung im Herbst 1912. Er war 29 Jahre alt. Aufgewachsen mit nicht-religiösen jüdischen Eltern, die sich als völlig integriert erlebten, fühlte er sich fremd von Kindheit an. Beschrieb es als dreifache Fremdheit: Deutschsprachig unter Tschechen, Jude unter Christen, Schriftsteller unter Kleinbürgern. Kafka starb 1924. Sein Gefühl der Fremdheit war wenige Jahre später mörderische Realität. Franz Kafkas Schwestern, Gabriele, Valerie und Ottilie – ermordet im Konzentrationslager.

Kurz bevor er die Erzählung schrieb, im August 1912, traf Kafka Felice Bauer in der Wohnung seines Freundes Max Brod. Felice kam aus einer jüdisch-orthodoxen Familie. Eine Heirat mit ihr würde einen streng religiösen Alltag bedeuten, für Kafka von einer Fremdheit in die andere. Der Briefwechsel zwischen Franz und Felice, ein Dokument der Weltliteratur, geht immer wieder auf dieses Problem ein.

Ghetto

Der zu Ungeziefer verwandelte Gregor wird von Eltern und Schwester in sein Zimmer verbannt, die Möbel rausgeschafft, die Tür verschlossen – das jüdische Ghetto. Ungenießbares Essen schiebt die Schwester in das Zimmer, bis Gregor endlich stirbt, abgemagert, bewegungslos. Befreit und glücklich durch die ‚Endlösung‘ beschließt die Familie, einen Ausflug ins Grüne zu machen.

Kafkas Werk wurde durch Germanisten zu Tode interpretiert, das jüdische Element meist übersehen oder ignoriert, ist doch der ‚Außenseiter‘ die zentrale Botschaft. In der Erzählung ‚Bericht an die Akademie‘ versucht ein gebildeter Affe, das Auditorium zu überzeugen, auch nur ein ‚Mensch‘ zu sein.

Kafka in seinem Tagebuch: „… könnte ich sein, was ich will, hätte ich ein ostjüdischer Junge sein wollen, im Winkel des Saales, ohne eine Spur von Sorgen, der Vater diskutiert in der Mitte mit den Männern, die Mutter, dick eingepackt, die Schwester scherzt mit den Mädchen – und in ein paar Wochen wird man in Amerika sein.“

Eine weitere Eintragung: „Die ganzen Nachmittage bin ich jetzt auf den Gassen und bade im Judenhaß. Prašivé plemeno (Räudige Rasse) habe ich sie Juden nennen hören. Ist es nicht das Selbstverständliche, daß man von dort weggeht, wo man so gehaßt wird? Das Heldentum, das darin besteht, doch zu bleiben, ist eines der Schaben, die auch nicht aus dem Badezimmer auszurotten sind.“

Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 35/2025 erschienen.

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