Als Jude mit russisch-ukrainisch-litauischen Wurzeln hat der Geiger und Dirigent Julian Rachlin in den wildesten Stürmen der Weltpolitik Quartier bezogen. Sein israelisches Orchester leitet er bisweilen aus dem Bunker, Boykottmaßnahmen machen ihm zu schaffen. Am 10. September 2025 eröffnet er das von ihm geleitete Herbstgold-Festival in Eisenstadt.
Wie ein Atemholen sei das, wieder im Land zu sein und dem eigenen, gut vorverkauften Festspiel entgegenzusehen, sagt der Intendant. Am 10. September eröffnet in Eisenstadt das Herbstgold-Festival. Friedlich trifft sich da die Elite klassischer Musik. Höher als mit dem Pianisten Sir András Schiff, dem Schauspieler John Malkovich oder der Violinvirtuosin Janine Jansen kann man nicht greifen. Auf gleicher Höhe logiert der österreichische Geiger, Bratschist und Dirigent Julian Rachlin, der den ikonischen Haydn-Saal als Ausübender und musikalischer Leiter mit Ideen und Inspiration durchflutet.
Hier hat, schon damals im Auftrag des Hauses Esterházy, Joseph Haydn umfängliche Segmente der klassischen Musik erfunden. Und hier ist jetzt ein Ort der Konzentration auf die Kunst, wie man ihn anderswo bald wird suchen müssen. Österreich und Deutschland könnten da schon bald die letzten Enklaven sein. Denn die Welt der klassischen Musik ist von ihrer Planetenbahn hoch über Völkern, Religionen und Ideologien ein riesiges Stück abgekommen.
Aufrüstung in Worten und Taten
Denn auch in diesem Bereich wird aufgerüstet, täglich aggressiver mit Worten und Taten. Und Rachlin logiert mitten zwischen den Fronten. Im gegenständlichen Fall als Musikchef des Orchesters von Kristiansand im Süden Norwegens und des Jerusalem Symphony Orchestra.
Beide Klangkörper sind in bestem Zustand, auch die Norweger haben zuletzt dank Rachlin noble Aufführungsorte wie den Wiener Musikverein erreicht. Aber in der Lokalzeitung von Kristiansand erschien kürzlich das Bild eines hungernden Kindes in Gaza, daneben ein kleineres Rachlin-Konterfei mit Text: „Wie ist es möglich, dass wir heute unserem Chefdirigenten applaudieren, und morgen applaudiert man ihm in Jerusalem und Tel Aviv?“
Es könnte eng werden
Jetzt könnte es bald eng werden. „Das Orchester liebt mich und möchte mit dem Ganzen nichts zu tun haben, und mein Vertrag läuft nach einer kürzlichen Verlängerung noch sieben Jahre. Aber das Orchester ist staatlich, und wenn es nächstens einen offiziellen Boykott Israels geben sollte, bekomme ich das Problem von ,Sophie’s Choice‘.“
Das Bild hat es in sich: Gut möglich, dass sich Rachlin bald entscheiden muss wie Meryl Streep in der Auschwitz-Tragödie aus dem Jahr 1982: Eines ihrer Kinder werde leben, eines sterben, hat sie der sadistische Aufseher wissen lassen. Die Entscheidung liege bei ihr.
„Ich bleibe in Jerusalem“
„Aus Jerusalem werde ich sicher nicht weggehen“, beantwortet Rachlin die sich aufdrängende Frage. „Dauernd will jemand einen Kommentar von mir. Und ich antworte, dass es mir völlig fremd ist, mich über Politik zu äußern, wenn nicht einmal Historiker, die dem Thema das ganze Leben widmen, darauf eine Antwort haben. Ich sage das nicht, weil ich zu feige bin, sondern weil ich 60 Tage im Jahr in Jerusalem bin, wo Juden mit Arabern leben und es zwischen ihnen überhaupt kein Vertrauen gibt. Dass man da jetzt die Musik hineinziehen will, ist ein Desaster.“
Einfach könnte das Ganze sein inmitten der mörderischen Verstrickungen, sagt der atemlos beredsame Hochenergetiker, dem man den kürzlich erreichten Fünfziger nicht ansieht. „Wir möchten den Menschen einen unvergesslichen Abend mit den größten Komponisten der Menschheitsgeschichte schenken. Mehr wollen wir nicht.“
Nicht willkommen
Aber wie soll das einer umsetzen, dem die Zerreißproben quasi genetisch eingeschrieben sind? Auch die russischen Freunde sind isoliert, und sie sind schon biografisch bedingt zahlreich: Der Bub emigrierte im Alter von drei Jahren mit der jüdischen Familie aus der Sowjetunion und blieb, mehr dem Zufall folgend, in Wien hängen. Der Großvater wurde im ukrainischen Mariupol geboren, der Vater in Tiefrussland, Mutter und Sohn in Litauen. „Und wer leidet? Immer die Menschen, es gibt überall gute und weniger gute. Natürlich haben wir eine Verantwortung“, fährt er fort. „Aber dass Künstler, nur weil sie Russen sind, nur noch in Russland und China auftreten können, ist eine Tragödie.“
So schließen sich um ihn jetzt mehrere Klammergriffe gleichzeitig. Exemplarisch in Polen: Dort habe man ihm zuerst verboten, Tschaikowsky zu spielen. Vor drei Wochen sei dann Jerusalem Symphony aus Warschau ausgeladen worden.
So wie schon fast überall. England hat eine Tournee storniert, neun Konzerte in allen wichtigen Städten des Landes. „Auch Japan ist zu“, skizziert er das globale Ausmaß des Verhängnisses. „Dort stellt man israelische Orchester auf dieselbe Stufe wie russische. Und in China sind wir not welcome.“ Der Monolog legt an Leidenschaft zu. „Jerusalem Symphony steht für eine Stadt, die alle Religionen vereint und nur Frieden haben will. Wir spielen auch arabische Musik und planen eine CD mit jüdischen, muslimischen und katholischen Gebeten.“
Im Bombenkeller
Die jeweilige allerhöchste Instanz ist in der Tat dringend gefordert: Die jährlichen 60 Tage Jerusalem halten auch außerkünstlerische Abenteuer sondergleichen bereit. Das Amt hat er am 4. Oktober 2023 vor ausverkauftem Haus angetreten. Am 5. spielte man in Tel Aviv und war am 8. in Aschdod im Süden des Landes angekündigt. Der ruhige Tag dazwischen in Tel Aviv endete im Morgengrauen. „Wir wurden um sechs Uhr früh durch gewaltige Detonationen geweckt, teils von Raketen, teils von der Raketenabwehr. Wir haben einiges gelernt in diesen Stunden: Wenn die Sirenen heulen, hast du 60 Sekunden Zeit, dich im Bunker zu verstecken, bis die Rakete einschlägt. Und je weiter im Süden Israels man lebt, desto weniger Sekunden bleiben einem.“
Als im vergangenen Juni der Krieg mit dem Iran ausbrach, war man unfreiwillig wieder an der Front. Statt im Konzertsaal den Saisonabschluss zu begehen, saß man drei Tage im Bunker, feierte dort den 80. Geburtstag des Vaters, wurde im Dunkel der Nacht mit dem Auto nach Eilat an die ägyptische Grenze transportiert und schaffte es endlich unter Maschinengewehrbedeckung nach Sharm el Sheikh.
Wie soll man mit der Hamas verfahren, der auch das Leben der eigenen Bevölkerung nichts wert ist?
Bei uns kocht derweil unter dem Vorwand der Israel-Kritik der Antisemitismus hoch, als gäbe es kein Gestern. Rechte und Linke werden täglich dreister, Letztgenannte mit arabischen Importnazis als Entourage. Darin kann Rachlin nichts Überraschendes erblicken: „Jetzt gibt es wieder einen Grund, das, was immer da war, hervorzuholen. Es war halt lang nicht salonfähig.“
Und zum Grundsätzlichen: „Es gibt viel Protest gegen Netanjahu. Die Leute gehen massenhaft auf die Straße. Aber wie soll man mit einer Organisation wie der Hamas verfahren, die nur Destruktion will und der auch das Leben der eigenen Bevölkerung nichts wert ist? Dass da ein Massenmord war, steht gar nicht mehr zur Debatte.“
Herbstgold
Wie ein Aufatmen ist es da, auf das bald beginnende Herbstgold-Fest zu kommen. Keine Frage, dass hier auch russische Künstler auftreten. Jerusalem Symphony folgt im nächsten Sommer, sagt Rachlin.
Als er vor acht Jahren im Haydn-Saal debütierte, kamen 300 Leute. Heute sind die 1.200 Plätze erfreulich belegt, am dichtesten, wenn der Chef selbst in seinen beiden Eigenschaften antritt. „Wenn man etwas mit viel Liebe macht, spricht es sich irgendwann herum. Da geht es oft gar nicht mehr nur um die Musik, Konzerte gibt es ja überall. Es geht um eine gewisse Energie, eine gewisse Luft, die an bestimmten Orten herrscht. Um das Boutiquen-Feeling, das Kleine, aber Feine betreffend.“
Das Jahresmotto „Ekstase“ soll der allgemeinen Depression entgegenwirken. „Die Musik“, sagt Rachlin, „ist nicht nur in guten Zeiten eine Notwendigkeit. Sie vereint besonders in schwierigen Zeiten.“


Rico Gulda
© Andreas Tischler / picturedesk.comRico Gulda: Der General
Wer den epochalen Friedrich Gulda, einen der größten Pianisten der Musikgeschichte, ein wenig näher kennen durfte, konnte ihn auch bewegt bis zu Tränen erleben: Eben habe er seinem jüngsten Sohn Rico Klavierunterricht erteilt – diese Begabung, dieses Vertrauen!
Heute ist Rico Gulda 57 und hat eine beachtliche Karriere hinter sich. Denn eines Tages hat er erkannt, dass die andere Seite, die des Gestaltens und Ermöglichens, die seine ist. So hat er bis vor Kurzem das Betriebsbüro des Wiener Konzerthauses geleitet und ist seit Frühjahr Generalintendant der Esterházy-Privatstiftung.
Er koordiniert damit die musikalischen Aktivitäten des Hauses, dessen Kapellmeister Joseph Haydn wesentliche Segmente der Klassik erfunden hat. Das Herbstgold-Festival unter Intendant Julian Rachlin gehört ebenso dazu wie die Oper von St. Margarethen.
Höhepunkt: das Europakonzert der Berliner Philharmoniker unter Kirill Petrenko am 1. Mai 2026, das in 80 Länder übertragen wird und eine Spendenaktion für die Ukraine einschließt.
Rachlin in Hochbetrieb
Beim eigenen Festspiel im Hochbetrieb zu musizieren, ist naturgemäß etwas Besonderes. Und doch Routine, denn um ihn ist es nicht stiller geworden, seit er mit 14 Jahren den Eurovisions-Wettbewerb gewann und die durchaus riskante Laufbahn des Wunderkinds einschlug.
Tollkühn erschien es vielen, als er vor 18 Jahren, von existenzbedrohenden Fingerproblemen vollkommen wiederhergestellt, die Virtuosenkarriere zurückzusetzen begann. Der große, ihm väterlich verbundene Dirigent Mariss Jansons bot sich als Lehrer an, das Studium verlief gründlich und erfolgreich.
„Ich bin jetzt 50 und habe noch zehn, maximal 15 Jahre im Top-Segment auf der Geige“, erklärt er den sukzessiven Wechsel. Die solistische Tätigkeit hat er auf 30 Prozent zurückgefahren. „Diese Konzerte sind für mich noch viel wichtiger als früher“, sagt er und nennt als Beispiel die bevorstehende Tournee mit dem Orchester des Hessischen Rundfunks unter Alain Altinoglu. Er spielt das Sibelius-Konzert, eines der „vier Grand Slams neben Beethoven, Tschaikowsky und Brahms“. Zehn Jahre hat er es nicht angerührt, jetzt blieben ihm mitten in den Vorbereitungen auf das Herbstgold-Festival drei Wochen, um das Beabsichtigte wieder auf Weltformat zu bringen.
Das Programm
10. 9. Sir András Schiff, Chamber Orchestra of Europe. Mozart, Dvořák.
11. 9. Das furiose Janoska-Ensemble mit „Vier Jahreszeiten“.
12. 9. BBC Symphony, Rachlin, Jean Guihen Queyras, Cello. Dvořák, Beethoven.
13. 9. Janine Jansen, Chamber Orchestra of Europe unter Rachlin: Mendelssohn, Beethoven.
14. 9. Duo-Abend Schiff-Rachlin: Mozart, Schubert, Beethoven.
17. 9. Kammerkonzert in Spitzenformation: Brahms-Sextett, Schönberg.
18. 9. John Malkovich liest Ramirez Hoffman.
19. 9. Andrè Schuen singt Schuberts „Winterreise“.
20. 9. Das junge Ensemble LGT mit Mahler, Schubert, Glass.
20. 9. Kristiansand Orchestra unter Rachlin, Alexandra Dowgan, Klavier. Grieg, Dvořák.
21. 9. Kabarettistisch-virtuoses Finale mit Igudesman & Joo.
Einen unschätzbaren Verbündeten im Sinn gemeinsamer Unerschrockenheit hat er im Finnen Klaus Mäkelä gefunden, der mit seinen 29 Jahren ein halbes Dutzend Spitzenklangkörper leitet. Mit dem renommiertesten im europäischen Raum, dem Amsterdamer Concertgebouworchester, waren beide im Frühjahr unterwegs, Rachlin spielte zum Gedenken an die russische Komponistin Sofia Gubaidulina deren „Offertorium“. Bei Chicago Symphony, Mäkeläs Orchester in Übersee, trifft man nächstens wieder zusammen. Auch Mäkeläs Oslo Philharmonic hat sich gemeldet.
So fädelt sich Rachlin in seinen beiden Eigenschaften in eine immer dichtere Karriere. Zu den beiden Chefpositionen in Israel und Norwegen kommen noch 15 Konzerte als „artistic partner“ der Staatsphilharmionie Rheinland-Pfalz. Unter den Klangkörpern, mit denen er als Dirigent in nahen Kontakt tritt, nennt er respektable wie das Scala-Orchester in Mailand, die Bamberger Symphoniker, das Orchester Svizzera Italiana, die Dresdner Philharmoniker, das Chamber Orchestra of Europe, dazu Formationen in England, Japan, China.
Ekstase, sagt Julian Rachlin, ehe er zu Sibelius und den Herbstgold-Vorbereitungen zurückeilt, sei mehr als ein Festspielmotto: ein Lebensgefühl, unerlässlich in Zeiten, in denen ungewiss sei, ob die nächste Generation noch in die Konzertsäle finde.
Julian Rachlin
Geboren am 8. Dezember 1974 in Vilnius, Litauen, als Sohn jüdischer Musiker mit russischen und ukrainischen Wurzeln, konnte er im Alter von drei Jahren mit den Eltern die antisemitische Sowjetunion verlassen.
Man blieb in Wien hängen, nachdem der bedeutende Violin-Pädagoge Boris Kuschnir das Talent des Buben erkannt hatte. Mit 14 gewann er den Wettbewerb Eurovision Young Musicians und begann seine Frühkarriere unter Maazel, Muti, Mehta und Haitink. Vor 18 Jahren begann er zusätzlich eine Karriere als Dirigent. Seit 2021 leitet er das Herbstgold-Festival. Er lebt in Wien und ist mit der Geigerin Sarah McElravy verheiratet.
Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr.36/2025 erschienen.