Wieder richtete sich die Aufmerksamkeit der Hochkulturmetropole Salzburg auf ein schwaches Stück: „Jedermann“ hat seine 105 Jahre mit nur leichten Blessuren überstanden, obwohl der Erkenntniswert – du kannst dein Geld nicht mitnehmen – höchstens überschaubar verblüffen kann.
Die „echte Salzburger Mozartkugel“ ist, lassen Sie mich ehrlich sein, um nichts bekömmlicher als ihre zahllosen Derivate im In- und Ausland. Darüber hinaus ist sie seit 2021 in rumänischer Hand (wo sich bereits die Original-Niemetz-Schwedenbombe aufhält). Erzeugt wurde die echte Mozartkugel bisher dennoch im tatortnahen Grödig (Flachgau), nun wird das Werk infolge Insolvenz geschlossen.
Der Mozartkugel zu entkommen, ist gleichwohl aussichtslos. Denken Sie nur an die „Original Salzburger Mozartkugel“, die noch um einen Dreh echter als die echte ist: 1890 vom Salzburger Konditor Paul Fürst ersonnen und seither klugerweise weder nach Rumänien noch sonstwohin veräußert, darf laut Gerichtsentscheid nur sie in silbernes Stanniolpapier mit blauem Aufdruck gewickelt werden. In dieser Couture nährt sie in fünfter Generation das Traditionsunternehmen.
Dabei kenne ich niemanden, dem die Mozartkugel als Kreation schmeckt. Zu schwer, zu bitter, in der degenerativen Milchschokoladeausführung wiederum zu süß – aber das Leben ohne sie scheint unvorstellbar. Es geht ihr da wie den Sängerknaben, deren Hervorbringungen das empfindliche Ohr foltern. Singende Knaben tragen den Misston aus physiologischen Gründen in sich, denken wir an den gefragten Nahostpolitiker „JJ“. Aber die Sängerknaben sind Teil der kollektiven Identität. Und noch etwas haben sie mit der echten Mozartkugel gemeinsam: Es geht ihnen wirtschaftlich miserabel, weil sich der Zulauf diesseits und jenseits der großen Teiche stark rückläufig entwickelt.
„Jedermann“, Mozartkugel zwei
Warum ich Ihnen das erzähle? Weil Mozartkugel und Sängerknaben ein Pendant haben, nämlich den „Jedermann“. Hofmannsthal selbst hat das 1910 in Berlin uraufgeführte Werk richtig – nämlich bescheiden – eingeschätzt. Zehn Jahre später suchte dann Max Reinhardt, ein Mann mit genialem Blick für das Essenzielle, den Identitätsstifter für die eben gegründeten Salzburger Festspiele. Er fand ihn in der idealen Synthese zwischen dem bigotten Versgeknittel des Mitgründers Hofmannsthal und der Fassade des Domplatzes.
Dass sich der Mythos mit Unterbrechung in der Nazi-Zeit 105 Jahre halten würde, hat allerdings keiner der damals Beteiligten vermutet. Der erste Titelheld, Alexander Moissi, mag von den acht Jahren, die er vor dem Dom antreten musste, selbst überrascht worden sein. Auf diese Rekorddauer brachten es später nur noch Walther Reyer und Peter Simonischek.
Zumindest in Reyers Fall erweist sich der Markenkern des Unternehmens „Jedermann“ als Marketing-Konstrukt: Der jeweils größte Bühnenschauspieler seiner Zeit verantworte in der einzigartigen Kulisse ein Ereignis außer aller Norm. Darauf hat man die Besucherschaft gehirnwäschehaft eingeschworen. Aber Reyer war gewiss nicht der größte Schauspieler seiner Zeit. Sein Mythos war anders generiert, und das verbindet ihn mit dem tatsächlich bedeutenden Simonischek: Er hat die Rolle bis zur Identifikation angenommen und das Getöse von Herzen genossen. Wer den großen Simonischek in den Sommern 2002 bis 2009 glücklich in den Salzburger Gastgärten Hof halten sah, konnte sich kaum vorstellen, dass nach ihm noch etwas kommen würde.
Nur eines ist noch schlimmer, als den Jedermann zu spielen – ihn nicht zu spielen
Nach Reinhardt
Dabei markierte Simonischek eine als riskant eingeschätzte Zeitenwende: Seit 1920 war Reinhardts Inszenierung in maximal leichter Adaption wiederaufgenommen worden. Simonischek aber war der Reform-Jedermann in der schönen, selbstironischen Regie Christian Stückls. Schauspielchef Jürgen Flimm hatte das verfügt. So wie dann sein Nachfolger Sven-Eric Bechtolf die witzige, duftige Märchendeutung von Brian Mertes und Julian Crouch erfand.
In die sollte 2017 Tobias Moretti einsteigen. Er überwarf sich mit dem Regie-Duo, der Perchtoldsdorfer Intendant Sturminger übernahm in waghalsig kurzer Zeit. Das Provisorium manövrierte sich, vor allem als Nutznießer des Corona-Debakels, sieben Jahre unter dem Bühnenboden durch und wurde dabei infolge streberhafter Klein- Klein-Aktualisierungen immer verkrampfter. Zuletzt wurden die Größen Lars Eidinger (non-binär im Mini) und Michael Maertens (als Umwelt-Unhold im Visier der Klimakleber) verschlissen, der Dom war da mit Kulissensperrmüll verbaut.
Damit sind wir wieder bei der „echten Mozartkugel“, deren Schicksal den Prasser zu ereilen drohte: Man kann in Salzburg keine Karten zurück-, sie aber in Kommission geben. Auf solch einen Glücksfall hofften stets die Vielen, die keiner „Jedermann“-Karte habhaft geworden waren. 2023 allerdings gingen zwar massenhaft Karten zurück, aber wenige wollten zugreifen. Da beschloss man, lieber den schuldlosen Maertens auszuzahlen, als den Goldesel an Obstipation verenden zu lassen. Die Neuinszenierung gelang.
Lohner, Voss und „Jedermann“
PS: Die größten Schauspieler ihrer Zeit? Ich habe seit 1992 zwei mir nächststehende auf dem Domplatz gesehen. Helmuth Lohner war der noch überzeugendere: ein eisiger, zynischer Kapitalist im weißen Anzug, ohne dass Reinhardts Konzept deshalb an flachen Agit-prop ausgeliefert wurde. Schauspielkunst war genug, um alles zu sagen. Es folgte Gert Voss, der die Gestalt ins Barock zurückholte und das vierklumpfüßige Geknittel doch in Licht auflöste, als habe er es unter Niveau soeben selbst erfunden Auch er hat von Jedermanns unschlagbarem Reputations- und Werbewert profitiert, ohne ihn zu genießen. Ihm verdanke ich die ultimative Definition des lukrativen Malheurs: „Es gibt nur eines, was noch schlimmer ist, als den Jedermann zu spielen – ihn nicht zu spielen.“
Jedermann 2025
Seit dem Vorjahr ist die elegante, weltläufige Inszenierung des kanadischen Musiktheaterregisseurs Robert Carsen im Einsatz. Zu kürzen wäre die Musical-artige, wasserkopfhaft aufgetriebene Tischgesellschaft. Die Un-Rolle der Buhlschaft ist bei Leila Piasko angemessen unauffällig untergebracht.
Großartig ist Philipp Hochmairs Sturz aus irren Unüberwindlichkeitsillusionen in die tiefste Einsamkeit. Die unüberraschende Erkenntnis, dass man sein Geld nicht in die Grube mitnehmen kann, gewinnt da tatsächlich Dringlichkeit. An Hochmairs Seite beeindruckt ein nicht spektakulär, aber perfekt gewähltes Ensemble.
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Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 30+31/25 erschienen.