Seit Jonas Kaufmann die Festspiele von Erl in Tirol leitet, hat man dort zur Spitzenklasse aufgeschlossen, obwohl sich der publikumsmagnetische Intendant als Sänger stark zurücknimmt. Im Interview wird er deutlich: zu dummer Regie, Anna Netrebkos Sorgen, Auftritten in Israel und dem mutigen Programm, das am 3. Juli eröffnet wurde.
Spektakulärer konnte man nicht ansetzen: Als Hans Peter Haselsteiner vor zwei Jahren das Engagement des Welttenors Jonas Kaufmann, 55, an die Spitze der Festspiele von Erl bekannt gab, war das ein Triumph der Kunst in einer wankenden Welt. Die Zeiten sind seither auch für Haselsteiner härter geworden, und der immense Schaden, den ihm Benko verursacht hat, ist nichts gegen den Verlust des Sohnes und Nachfolgers im Wirtschaftsimperium.
Am 3. Juli wird das von Bund, Land und Haselsteiner-Stiftung finanzierte Fest eröffnet. Wegen der zeitgleich stattfindenden Passionsspiele muss man mit dem 750 Besucher fassenden kleinen Haus vorliebnehmen. Deshalb wurde „Parsifal“ als große Wagner-Produktion schon zu Ostern gespielt, und Kaufmann tritt jetzt nur in einer Wagner-Gala am 5. Juli auf. Das Programm bietet neben drei konzertanten Verdi-Krachern auch Herausforderndes.
Das Festival kämpft wie alle Kultureinrichtungen gegen die Explosion der Kosten. Aber Haselsteiner ist gottlob ein Mäzen und kein Sponsor, der finanziell messbare Resultate sehen will. Die Stiftung, sagt Kaufmann, stelle ausgeglichene Bilanzen sicher. Die Republik deutet vorerst keinen Rückzug an. Aber man verstärkt die Drittmittelakquise.


„Mir widerstrebt der Gedanke, dass Hans Peter Haselsteiner ohnehin alles bezahlt“, beginnt Kaufmann das News-Gespräch. „Wir müssen auch auf die nächste Generation der Stiftung schauen, die sich auf so schreckliche Weise verschmälert hat.
Was sagt denn die?
Erst einmal nichts, solange es den Vater noch gibt. Aber wir wollen ja auch mittel- und langfristig über das Projekt nachdenken und nicht einfach sagen, wir wursteln vor uns hin, und wenn es vorbei ist, ist es vorbei.
Ihr Programm ist aber herausfordernd.
Es macht keinen Sinn, Best-of zu spielen und im dritten Jahr plötzlich ohne Repertoire dazustehen. Wir wurden klar als Wagner-Festival gegründet, und das zweite Steckenpferd, das wir mit Wagner teilen, ist der Belcanto. Dann zeitgenössische Musik. Es ist ein Todesurteil, sich nur auf Vergangenes zu berufen.
Haselsteiner wird nicht ungeduldig, wenn der Vorverkauf noch stockt?
Er sagte mir seinerzeit sinngemäß, dass er gern das Geld hergäbe, aber eben nicht wie König Ludwig allein im Saal sitzen möchte. Die Idee ist natürlich, dass sich möglichst viele Leute daran freuen. Ihm ist allerdings genauso klar wie mir, dass man mit zeitgenössischer Musik nicht den Kassenschlager im Programm hat. Aber wir haben bewusst gesagt, wir leisten uns das, weil ja aller Anfang schwer ist.
Nun treten Sie heuer in einer Wagner-Gala der Höchstliga auf, aber vor 732 Leuten, weil im großen Haus die Passionsspiele stattfinden …
Da bitte ich um Verständnis, dass ich nicht schlechter besetze, weil es im kleinen Haus stattfindet. Und im nächsten Jahr ist ja wieder Normalbetrieb: Im großen Haus der jährliche Wagner, wobei mir Regisseure lieber sind, die das Stück im Vordergrund stehen lassen. Nächstes Jahr ist das der „Fliegende Holländer“, den Josef Ernst Köpplinger vom Münchner Gärtnerplatztheater inszeniert. Aber gleichzeitig macht auch Deborah Warner Puccini und Berlioz. Insgesamt sind wir mit den zeitgenössischen Regisseuren bis 2030 durch, in den nächsten Jahren erwarten wir auch Calixto Bieito.
Der große Wagner bleibt bis zum Ende Ihres Vertrags sicher?
Ja, und hier müssen wir mit den Besetzungen schnell sein. Bei Wagner ist das Eis ja relativ dünn, darum müssen wir schauen, dass wir ein bisschen früher dran sind. Ich höre gerüchteweise aus Bayreuth, dass man sich früher wegen der Konkurrenz mit Salzburg gesorgt hat. Jetzt müssen sie auch auf Erl aufpassen, weil wir in den nächsten fünf Jahren, bis zum Ende meines Vertrages, jeden Sommer einen großen Wagner-Titel bringen.
Das Programm ist damit relativ klar. Heuer zu Ostern der „Parsifal“, nächstes Jahr im Sommer der „Holländer“, der „Ring“ war schon unter Ihrem Vorgänger das zentrale Projekt. Bleiben „Lohengrin“, „Tannhäuser“, „Tristan“, „Meistersinger“, vielleicht das Jugendwerk „Rienzi“ …

Singen Sie da jeweils die Heldentenorpartie?
Nein. Nächste Saison singe ich gar nichts, und beim weiteren werden wir sehen. Ich habe meinen Auftrag eher so verstanden, dass ich aufgrund meiner jahrzehntelangen Erfahrungen in dem Business und als Magnet für die Kollegen engagiert bin, weniger als Sänger. Ich habe genug Jobs und möchte mich auf meine Rolle als Intendant konzentrieren. Ich habe schon beim „Parsifal“ gemerkt, wie grenzwertig das ist, wenn man auf der Bühne steht und gleichzeitig mit der Technik reden möchte. Einmal die Akustik, dann das Händeschütteln von Ehrengästen. Bei der zweiten Aufführung des „Parsifal“ hatten wir einen Technik-Crash, die Blumenmädchen, die mich betören sollten, kamen nicht aus der Versenkung. Da habe ich als Parsifal das Orchester gestoppt und zum Publikum gesprochen … Da sitze ich noch lieber nervös im Publikum und frage mich, wer als Nächster wegen Verkühlung absagt.
Sie übernehmen aber einige Rollen?
Ich weiß es nicht. Wir werden es bei jedem Titel überlegen. Es ist natürlich auch eine Frage der Zeit, ich bin viel beschäftigt und ich finde es ja gut, dass die Regisseure bei uns die Gelegenheit haben, intensiv und viel zu proben. Wenn dann aber der Intendant in seiner Rolle als Sänger erst im letzten Moment kommt, ist das halt auch politisch schwer zu vertreten. Ich mache das anderswo ja auch so, ehrlich gestanden. Schon Domingo hat sich öfter ein Video schicken lassen und dann erst entschieden, ob er zur Probe anreist.
Woher nehmen Sie denn die erstaunlich vielen großen Namen in Ihrem Programm?
Anfangs dachte ich, ich arbeite mit meinem kleinen Telefonbuch, dann kommt hie und da jemand, und das war’s dann. Es ist anders gekommen, obwohl wir keine Sondergagen bieten können. Aber wir arbeiten mit Goodies, und das erste ist die Gegend, die wahnsinnig schön ist. Dann haben wir ein sehr schönes Hotel mit Frühstück, wo alle kostenlos unterkommen. Das ist sonst nicht üblich. Aber viel wichtiger noch ist die Arbeitsqualität. Alle Bereiche sind auf einem Topniveau, und jeder, der hier singt, sagt: „Wann kann ich wiederkommen?“ Es ist so ein Flow, man sitzt gemeinsam im Biergarten und freut sich auf die nächste Probe.
Könnten Sie bei der unmittelbaren Konkurrenz in Bayreuth singen?
Die Frage muss ich an Bayreuth weiterleiten. Ich habe dort 2010 ein einziges Mal gesungen, den „Lohengrin“. Im nächsten Jahr wurde ich von der Wiederaufnahme ausgeschlossen, weil die Proben total über den Haufen geworfen waren und ich gleichzeitig in London „Tosca“ aufgezeichnet habe. Seither habe ich nie wieder was gehört. Bayreuth als Werkstatt, wir schließen uns hier acht Wochen ein, und am Ende sehen wir … das hat viele Leute, die international im Geschäft sind, abgeschreckt. Zumal sich die Gagen nicht mit Wien und anderen Spitzenhäusern vergleichen können.


Wie sind denn die Gagen in Erl?
Sie orientieren sich relativ an österreichischem Spitzentheaterniveau. Sie sind natürlich wie immer klar abgestuft, und es gibt immer Leute, die zu wenig verdienen, weil sie eine kleine Rolle haben und trotzdem lange da sein müssen. Das ist die Krux, dass man als kleines Rädchen immer funktionieren muss und trotzdem schlecht verdient.
Was war denn die dümmste Inszenierung, an der Sie je teilgenommen haben? Lotte de Beers Pariser „Aida“ scheint hoch oben zu rangieren.
Sie sagte uns: „Ich bin eine moderne Frau und kann diese klassischen Mechanismen nicht ohne Kommentar so stehen lassen.“ Wir waren zu fünft, die verkohlte Aida-Puppe, drei Puppenspieler und ich. Meine Partnerin, die nur im Hintergrund die Stimme liefern durfte, sagte mir: „Du weißt schon, dass du ein Perverser bist, wenn du mit einer Puppe Sex hast?“ Ich habe ihr geantwortet: „Wer ist denn der größere Perverse? Ich, der ich Sex mit einer Puppe habe, oder du, die uns zusieht?“ Dabei ist die Sache klar: Da sind zwei Völker, die sind sich in vielen Dingen so ähnlich wie Russland und die Ukraine. Trotzdem führen sie Krieg miteinander, und es geht nicht darum, ob einer schwarz angemalt ist und der andere nur dunkelbraun. Es geht einfach darum, ein Ambiente zu erschaffen. Ein klassisches Beispiel für mich ist auch „Tosca“. Das muss keineswegs zu einer bestimmten Zeit in Rom spielen. Aber ich brauche ein Terrorregime und eine Situation, dass ich im zweiten Akt weiß: ein falscher Schritt, und aus ist es. Jetzt hatten wir in München eine Besetzungscouch im Filmmilieu, und bei Puccini sind die Emotionen so klar, dass ich als Sänger nicht weiterweiß, wenn zu den Emotionen kein Anlass ist.
Noch ein Beispiel?
Selbst so intelligenten Regisseuren wie Romeo Castellucci gelingt nicht immer alles, so war der ästhetisch höchst anspruchsvolle „Tannhäuser“ aus München, den ich bei den Salzburger Osterfestspielen gemacht habe, in der ersten Szene doch äußerst befremdlich. Die für mich vielleicht erotischste Musik in der Operngeschichte wurde begleitet von einer Venus im Fat Suit, die sich zwischen Fleischbergen räkelt. Das ist zumindest in meiner Welt nicht erotisch.
Am bevorstehenden „Ring“ bei den Osterfestspielen sind Sie nicht beteiligt?
Nein, ich bin auch nicht gefragt worden.
Und Salzburg im Sommer?
Da fehlt für eine richtige Produktion die Zeit. Zehn Tage für etwas Halbszenisches gingen, aber sonst ist mir der August relativ heilig. Ich habe vier Kinder, 27, 22, fast 20 und der Jüngste sechs. Und der Sommer ist die einzige Zeit, wo wir gemeinsam etwas machen können. Außerdem warte ich stündlich auf Nachwuchs von meiner Tochter.
Der Großvater macht Ihnen doch nicht zu schaffen?
Der ist mir total wurscht. Ich freue mich wahnsinnig drauf!


Und die Staatsoper? Sie haben dort zentrale Premieren gesungen, wobei Sie mit Serebrennikovs „Parsifal“ nicht überglücklich waren. Jetzt sehe ich nur zweimal „Fledermaus“.
Das liegt vielleicht daran, dass ich aus den eben erwähnten Gründen, aber auch wegen Erl, gerade keine Neuproduktionen machen will. Das Zeitmanagement ist sehr viel schwieriger als bei einer Wiederaufnahme, und am Ende des Tages sagt man manchmal, das hätten wir jetzt in einer Woche auch locker hingekriegt. Oder lieber gar nicht gemacht, schade um die Energie. Aber ich schwöre, dass ich in jeder Saison zwei Wiederaufnahmen mache. Wenn ich zwischen fünf und zehn Aufführungen in Wien singe, das gleiche in München in Zürich und Neapel, dann eventuell noch in Paris oder London, bin ich schon ziemlich voll. Und dann nochmals 25 Konzerte! Da genieße ich lieber meine Intendanz.
Würden Sie ein Opernhaus leiten wollen?
Ich sehe gerade, wie viel Spaß mir die Intendanz macht. Ich würde aber doch gerne noch ein paar Jahre zuwarten und meine Sängerkarriere vorantreiben. Aus der jetzigen, aktuellen Sicht würde ich sagen: Nein, wenn ich sehe, wie viele Stunden pro Woche Bogdan Roščić im Haus verbringt.
Wie stehen Sie denn zu den Cancel-Versuchen gegen Russen?
Es gibt Ausnahmefälle, wo Künstler sich mit ihrem Namen stark politisch engagiert haben. Das betrifft nicht Anna Netrebko, weil Sie mich das gleich fragen werden. Ich mag und kenne sie seit vielen Jahren und darf trotzdem sagen, dass sie sich da etwas ungeschickt verhalten hat. Aber irgendwann muss das vorbei, vergeben und vergessen sein. Sie sitzt ja zwischen allen Stühlen, wird von der westlichen Seite als russische Propagandistin gebrandmarkt und gleichzeitig von den Russen als Verräterin.
Aber sie ist ja glänzend beschäftigt!
Schon, aber sie hat große Häuser verloren. Und das bleibt auch so. Ich wollte gerade mit einem Freund ein Konzert in den USA organisieren, an dem sie teilgenommen hätte. Der Veranstalter hat abgelehnt. Dass man sich vom politischen Leben fernhält und sich auf die Kunst konzentriert, wird nicht mehr akzeptiert. Ständig muss man ein Statement abgeben, das ist auch die Folge der sozialen Medien, wo man sich unablässig produzieren soll.
Und die plötzliche Welle des Antisemitismus?
Da würde ich differenzieren. Antisemitische Hetze ist streng zu verurteilen, aber jetzt geht es um Israel. Ich glaube, über 50 Prozent der jüdischen Weltbevölkerung sind auch nicht gerade amused über Entscheidungen, die dort getroffen werden. Allerdings müssen wir Deutschen und Österreicher uns mit Kritik zurückhalten, nach dem, was hier angestellt wurde. Und jedenfalls ist es ein Wahnsinn, wie das, was Daniel Barenboim mit dem West-Eastern Divan Orchestra aufgebaut hat, jetzt wieder zerstört wird.
Würden Sie derzeit in Israel auftreten?
Ich persönlich würde aus Sicherheitsgründen jetzt keiner Einladung folgen. Für uns ist es nicht Alltag, sich jederzeit bereitzuhalten, in die Schutzräume zu gehen. Das hat nichts mit einem politischen Statement zu tun. Da gibt es andere Länder, wo man sich überlegt hinzugehen.
Die USA?
Ich habe dort mehrere Engagements und werde die natürlich wahrnehmen. Ich glaube nämlich nicht, dass es irgendjemanden interessieren würde, wenn ich jetzt die USA boykottiere.
Das Programm
3. Juli: Eröffnungskonzert mit dem Festspielorchester unter Asher Fisch. Pfitzner, Wagner, Debussy.
4. Juli (Premiere): „Picture a day like this“ von George Benjamin, Martin Crimp. Der Weg einer Mutter, die ihr Kind verliert, durch Trauer zum Licht. Sinnliche, betörende Moderne, dirigiert von Corinna Niemeyer, inszeniert von Daniel Jeanneteau, in junger Besetzung.
5. Juli. Wagner-Gala: „Walküre“, 1. Akt, mit Jonas Kaufmann, Ekaterina Gubanova, René Pape.
Und etwas Liszt.
11. Juli (Premiere): „Blaubarts Burg“ von Bartók, „Die menschliche Stimme“ von Poulenc. Regie: Claus Guth, Dirigent: Martin Rajna. Mit Florian Boesch, Christel Loetzsch und Barbara Hannigan.
12. Juli (Premiere):
„La Traviata“ von Verdi, konzertant mit Rosa Feola, Kang Wang.
19. Juli (Premiere):
„Rigoletto“ konzertant mit Ivan Rivas, Ludovic Tézier.
26. Juli (Premiere): „Il Trovatore“ konzertant mit Piero Pretti, Mattia Olivieri, Pretty Yende.
Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 27/25 erschienen.