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Daniela Unterholzner: „Menschen, die wohnungslos sind, brauchen vor allem eines: eine Wohnung“

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Daniela Unterholzer, Geschäftsführung Neunerhaus

©Christoph Liebentritt

Daniela Unterholzner ist – nach einem Quereinstieg vom Kulturmanagement in den Sozialbereich – seit 2017 eine der vier Geschäftsführenden des „neunerhaus“. Der Verein beschäftigt sich damit, obdach- und wohnungslosen Menschen Hilfe zur Selbsthilfe anzubieten und ist mit Konzepten wie dem Housing-First-Modell erfolgreich. Ein Gespräch über die Zukunftspläne der Sozialorganisation, Wohnungslosigkeit unter jungen Erwachsenen, knapper werdenden Budgets und den Blick über den Tellerrand hinaus.

Warum funktioniert die Housing-First-Methode, wie man zum Beispiel in Finnland gesehen hat, so gut?

Menschen, die wohnungslos sind, brauchen vor allem eines: eine Wohnung. Das ist eigentlich total simpel, aber in der Wohnungslosenhilfe nicht immer so gewesen. Es gab und gibt in vielen Ländern das sogenannte Stufenmodell. Das heißt, ich bin auf der Straße, dann komme ich in ein Notquartier, kann dort ein bisschen bleiben und dann habe ich vielleicht die Chance in ein Übergangswohnheim zu kommen, wo ich auch wieder ein paar Monate oder ein Jahr sein kann. Ich gehe quasi eine Stufe nach der anderen nach oben und wenn ich mich immer gut verhalten habe, dann bekomme ich vielleicht irgendwann eine eigene Wohnung. Das heißt, ich habe einen wahnsinnigen Druck und jedes Mal, wenn ich eine neue Stufe erreicht habe, bin ich an einem völlig neuen Ort, wo ich mich wieder komplett neu einfinden muss, mit neuen Berater:innen und so weiter.

Außerdem muss man davon ausgehen, dass viele der Menschen, die wohnungs- und obdachlos sind, schon Erfragungen damit gemacht haben, was es heißt, immer wieder die Bezugsperson zu verlieren. Das sind Menschen, die beispielsweise schon als Jugendliche von zu Hause ausziehen mussten oder selbst ausgezogen sind. Dieser ständige Wechsel der Lebensrealität macht sie einerseits zwar stark, auf der anderen Seite ist damit aber immer eine potenzielle Retraumatisierung verbunden. Und das alles neben der Gefahr, dass wenn ich in eine Krise komme und mich nicht ideal verhalte, ich natürlich auch wieder eine Stufe zurückwandern muss.

Ihr Nachbar könnte eine wohnungslose Person sein

Daniela Unterholzner

Housing First ist ein Modell, das in den USA entstanden ist und über Großbritannien 2012 vom „neunerhaus“ und dem Fonds Soziales Wien nach Wien gebracht wurde. Housing First stellt alles, was ich vorhin erzählt habe, auf den Kopf und sagt: Als erstes kommt die Wohnung. Wir geben dem Menschen diesen Vertrauensvorschuss und arbeiten mit ihm in der eigenen Wohnung. Das Modell funktioniert so gut, weil es damit arbeitet, dass die Menschen eine langfristige Perspektive haben und auch mal zur Ruhe kommen können, um sich zu sortieren.

Außerdem inkludiert Housing First, dass Ihr Nachbar eine wohnungslose Person sein könnte und Sie würden es nicht wissen. Das heißt, auch die Kinder dieser Menschen werden nicht von vornherein als die Kinder einer wohnungslosen Familie abgestempelt. Housing First bietet eine Chance auf einen Neuanfang – und zwar als Teil der Gesellschaft.

Österreich hat sich, wie alle anderen EU-Länder, dazu verpflichtet, Obdachlosigkeit bis 2030 zu beenden. Das ist auch das Ziel des Vereins „neunerhaus“. Die Anzahl der Obdachlosen ist über die letzten Jahre aber ziemlich konstant geblieben. Wie realistisch ist dieses Ziel?

„neunerhaus“ hat die Vision einer inklusiven Gesellschaft und ein wichtiger Teil dieser Vision ist, Wohnungs- und Obdachlosigkeit zu beenden. Für 2030 haben wir uns als Organisation nicht committet, das sind politische Mechanismen, die da mitspielen. Wir geben aber vieles dafür mitzuarbeiten, um dieses Ziel zu erreichen. Zum jetzigen Zeitpunkt passiert auf politischer Ebene einiges. Ich sehe es aber als nicht realistisch, dass dieses Ziel erreicht wird, mit dem, was aktuell getan wird. Da braucht es noch mehr!

Um Wohnungslosigkeit zu beenden, braucht es Wohnraum und der wird europaweit immer knapper

Daniela Unterholzner

Bis 2030 sind es gerade noch viereinhalb Jahre. Um Wohnungslosigkeit zu beenden, braucht es Wohnraum und der wird europaweit immer knapper. Bis eine Wohnung gebaut und besiedelt wird, braucht es mindestens drei bis vier Jahre. Auf europäischer Ebene wird die Taskforce Affordable Housing eingerichtet, die sich europaweit mit dem Thema leistbares Wohnen auseinandersetzt. Das sind gute Mechanismen. Auf Bundesebene ist das Ressort Wohnen beim Vizekanzler angesiedelt. Das Sozialministerium hat mit dem Wohnschirm auch einen guten Beitrag geleistet und Wien hat schon immer viel für leistbares Wohnen getan. Das heißt, die Tendenzen gehen in eine richtige Richtung. Es braucht nur viel mehr Geld und Geschwindigkeit, dass dieses Ziel erreichbar wird.

Warum war das Chancenhaus mit Fokus auf 18- bis 30-Jährige ein notwendiger Schritt und wie unterscheidet es sich zu den anderen Wohnhäusern?

Eine der Zielgruppen, mit der wir uns in der Wohnungslosenhilfe immer mehr beschäftigen sind die sogenannten jungen Erwachsenen. Das sind Menschen zwischen 18 und 30 und die Zielgruppe, die am meisten wächst – sowohl europaweit als auch in Österreich sind die Zahlen in dieser Altersgruppe in den letzten Jahren stark gestiegen. Das muss uns als Gesellschaft sorgenvoll stimmen, weil gerade in diesem Alter der Grundstein für das weitere Leben gelegt wird. Man lernt sich selbst kennen, man macht eine Ausbildung, man absolviert ein Studium, man will sich ausprobieren. Es ist eine Zeit, wo man auch Möglichkeit haben sollte, scheitern zu dürfen. Vielleicht bricht man ein Studium ab oder kommt drauf, dass einem der Job doch nicht liegt. Oder man zieht das erste Mal mit dem Partner zusammen und merkt, dass sich das doch nicht ausgeht.

Außerdem brauchen wir diese Leute am Arbeitsmarkt, weil sie sich ihr Leben aus einer Position der Stabilität heraus aufbauen wollen. Wir haben aber auch einen Arbeitsmarkt, der viel mit befristeten Dienstverträgen, Werkverträgen und nicht fixen langfristigen Anstellungen arbeitet. Und das erhöht das Risiko, dass ich in eine Situation komme, in der ich plötzlich ohne Gehalt oder ohne Versicherung dastehe und nichtsdestotrotz dann aber meinen Lebensunterhalt bestreiten muss. Auf der anderen Seite haben wir einen Wohnungsmarkt, der knapper wird, der Bürgschaften und Meldezeiten will und das geht sich oft nicht aus. Das heißt für junge Menschen wird der Zugang zu einer leistbaren Wohnung immer schwieriger und damit steigt das Risiko wohnungs- oder obdachlos zu werden. Und dementsprechend ist es extrem wichtig, diese jungen Erwachsenen – wenn sie denn in eine schwierige Situation kommen – aufzufangen und zu sagen: „Wir sind jetzt da und wir helfen dir, die nächsten Schritte zu setzen, um wieder in ein stabiles Leben zu kommen.“

Und deswegen war das Chancenhaus so wichtig. Da können junge Erwachsene einfach hinkommen, wenn sie keine Wohnung haben und entweder ist bei uns was frei oder wir sagen ihnen, wo sie hingehen können. Drei Monate können sie auf jeden Fall bei uns bleiben und wir schauen uns mit ihnen an, was die nächsten Schritte sind. Können wir sie bei der Arbeitssuche unterstützen? Wo könnte ein nächster Wohnplatz sein? Was ist gerade mit dem Elternhaus? Und genau mit diesen Themen, die in den Zwanzigern präsent sind, beschäftigen wir uns im neunerhaus Billrothstraße.

Sie haben Geschichte und Kunstgeschichte studiert und waren stellvertretende Direktorin des Instituts für Kulturkonzepte, bevor Sie Geschäftsführerin vom „neunerhaus“ wurden. Meine Frage ist, was kann die Kunst- und Kulturszene vom sozialen Bereich lernen?

Ich glaube, dass es grundsätzlich in jedem Bereich wichtig ist, über den Tellerrand zu schauen. Da kann der Sozialbereich von der Kunst lernen und umgekehrt. Ich glaube, das ist das, was das „neunerhaus“ ausmacht und wofür ich als Person stehe. Ich finde es ganz wichtig, einen Weitblick zu haben, da wir sonst die komplexen Herausforderungen in unserer Welt, vor denen wir stehen, nicht meistern werden können. Wir brauchen gegenseitiges Zuhören und Verständnis. Ich glaube, es geht weniger darum, welche Bereiche was von wem lernen, sondern was wir übergreifend lernen können.

In einem Interview mit dem Standard im November 2021 haben Sie gesagt: „Wir sind auf Spenden angewiesen, Jahr für Jahr mehr. Wir werden zwar vom Fonds Soziales Wien gefördert, aber wir können als Sozialorganisation nicht sicher sein, wie sich die Budgets in den nächsten Jahren verändern.“ Meine Frage ist, wie haben sich die Budgets in den letzten Jahren verändert?

Wir haben zwar solide Finanzierungen, weil wir über den Fonds Soziales Wien gefördert werden, aber auch der Fonds Soziales Wien und alle weiteren Fördergeber stehen vor großen Herausforderungen. Was wir auf jeden Fall wissen, ist, dass weniger Geld als in den letzten Jahren zur Verfügung stehen wird und wir wissen alle noch nicht, wie dieses weniger Geld innerhalb des Sozialbereiches verteilt werden wird. Ich kann nur appellieren, dass die Wohnungslosenhilfe das letzte Auffangnetz ist. Wenn die Wohnungslosenhilfe nicht helfen kann, dann bleibt nur mehr die Straße. Wir müssen uns als Gesellschaft im Klaren sein, dass wenn wir nicht wollen, dass Straßenobdachlosigkeit steigt, dann muss die Wohnungslosenhilfe entsprechend finanziert werden. Ich kann nur sagen, wir brauchen dringend Spenden.

Wir kämpfen dafür, dass der Sozialbereich, im besonderen die Wohnungslosenhilfe öffentlich entsprechend finanziert wird. Das sehe ich auch als Auftrag, dafür zahlen wir ja auch Steuern. Aber wir brauchen eine Zivilgesellschaft, die uns gerade in Krisensituationen, durchträgt. Auf die konnten wir uns bisher immer verlassen, zum Beispiel während Corona, wofür ich super dankbar bin. Trotzdem stimmt mich die aktuelle Situation durchaus nachdenklich.

Wie wichtig ist die ehrenamtliche Arbeit im Verein?

Wir sind vor allem in drei Bereichen besonders auf Ehrenamtliche angewiesen. Das ist die neunerhaus Zahnarztpraxis, wo wir größtenteils mit ehrenamtlichen Zahnärzt:innen arbeiten, das „neunerhaus“-Café, indem die Gastro rein über Ehrenamtliche funktioniert und die Tierarztpraxis, wo die Tierärzt:innen, wie auch die Assistent:innen, ehrenamtlich arbeiten sind. Das heißt, ohne ehrenamtliches Engagement wären diese drei Angebote schlicht nicht möglich.

Das sind fantastische Menschen, mit so viel Engagement. Und wir kriegen oft die Frage, wie man uns unterstützen kann. Da gibt es die Möglichkeit auf ehrenamtliche Unterstützung als Zahnärzt:in oder Tierärzt:in, oder als Mitarbeiter:in in der Küche im „neunerhaus“-Café, wo wir dringend Freiwillige brauchen. Ansonsten sind Geldspenden natürlich auch sehr wichtig.

Wie schafft man es, Vorurteile gegenüber obdachlosen Menschen aus der Welt zu schaffen?

Wenn ich in Wien mit einer Straßenbahn oder einer U-Bahn fahre, weiß ich nicht, ob die Person, die neben mir sitzt, wohnungslos ist oder nicht. Die sichtbare Obdachlosigkeit macht nur einen ganz kleinen Teil aus. Zum Abbau von Vorurteilen kann man sich gut unsere Website, unseren YouTube-Kanal, den Jahresbericht oder die neuner News anschauen. Weil man nämlich Fotos von den Menschen sieht und damit erkennt man, dass sie ausschauen wie jeder von uns. Dazu kann man sich die Geschichten anhören und durchlesen. Womit einem klar wird, dass es oft in unserer Gesellschaft weniger braucht, als wir denken, um in eine richtig schwierige Situation zu kommen. Und wenn man in einer solchen Situation ist, dann fängt einen entweder das Umfeld oder Geld auf. Wenn man das nicht hat, dann kann es eben passieren, dass man wohnungs- oder obdachlos wird. Das für sich zu realisieren, ist, meiner Meinung nach, das Wichtigste im Umgang mit wohnungs- und obdachlosen Menschen.

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