Zeugnis: Die Regierung arbeitet sich langsam aus der Formkrise

Das News-Semesterzeugnis - wie immer von renommierten Politikjournalisten erstellt - zeigt, dass die türkis-grüne Koalition nicht so schlecht arbeitet, wie oft behauptet wird. Fast alle Ministerinnen und Minister verbessern sich gegenüber dem Jahreszeugnis. Die Durchschnittsnote für alle Regierungsmitglieder zusammen: ein glatter Dreier.

von Bundesregierung 2023 österreich © Bild: IMAGO images/SEPA.Media

Im vergangenen Sommer brachte das News-Regierungszeugnis einen ernüchternden Befund. Fast alle Ministerinnen und Minister hatten sich im Vergleich zum Semesterzeugnis im Februar 2022 verschlechtert, teils sogar dramatisch.

Und diesmal? Es ist zwar Mode geworden, die Regierungsperformance schlecht zu finden, die Bewertungen der Politjournalistinnen und -journalisten, die der Regierung zweimal im Jahr ein Zeugnis ausstellen, zeigen aber ein etwas anderes Bild. Am Beispiel von Regierungschef Karl Nehammer: Der Nachfolger von Sebastian Kurz (vergessen wir den Schallenberg'schen Interimsauftritt) hat zwar mit jeder Menge Problemen zu kämpfen und öffentlich nicht das beste Image, tatsächlich leiste er aber gar nicht so schlechte Arbeit, finden die Politikbeobachter. "Profil"-Chefredakteur Christian Rainer bezeichnet ihn als "Krisenkanzler mit großer Resilienz". Die miserablen Umfragewerte der Partei seien weniger in seiner Verantwortung als bei FPÖ und den Umtrieben seiner Vorgänger wurzelnd. Nehammer mache seine Sache "besser als erwartet und besser, als die Umfragen besagen", analysiert "trend"-Chefredakteur Andreas Weber. Er werde das schlechte Abschneiden der ÖVP bei der Niederösterreich-Wahl politisch überleben, brauche aber eine Erzählung, warum man die Bundes-ÖVP nach all den Affären wählen solle. "Hat er nicht und wird eine solche mutmaßlich auch nicht finden."

Hoffnungsträger

Für den Fall, dass der Druck auf Nehammer irgendwann doch zu groß wird, stünden schon zwei mögliche - und fachlich taugliche - Nachfolger bereit, zeigt das News- Regierungszeugnis. Sowohl Finanzminister Magnus Brunner als auch Verfassungsministerin Karoline Edtstadler halten sich konstant unter den top fünf. Beiden werden höhere Weihen zugetraut.

Brunner, der sich im Vergleich zum Juni 2022 um einen halben Notengrad verbessert hat, sei ein "lautloser Ausputzer, pragmatisch, postideologisch, in den Niederungen der Innenpolitik trittsicher", befindet Christoph Kotanko von den "Oberösterreichischen Nachrichten". Edtstadler, die ehemalige Parade-Türkise, die sich geschickt in die Post-Kurz-Ära gerettet hat, ist nach Ansicht von "Standard"-Journalist Michael Völker "sehr engagiert, ein Troubleshooter in der Partei und macht einen guten Job". Auch Edtstadler verbesserte sich im Vergleich zum Sommer 2022 um eine halbe Note - von 2,9 auf 2,5 - und liegt damit auf Platz drei hinter Leonore Gewessler und Magnus Brunner.

Grünes Zugpferd

Apropos Gewessler. Die grüne Umwelt- und Energieministerin gilt seit Beginn der Koalition als Zugpferd des kleineren Koalitionspartners - und vielen als wahrscheinliche nächste Grünen-Chefin. (Wenn auch nicht allen: Claus Pandi von der "Krone" sieht Justizministerin Alma Zadic als "stärkste Reserve der Grünen".)

Gewessler arbeitet zielstrebig und emsig im Hintergrund und weiß genau, was sie will. Vor einem halben Jahr, als die Angst vor der Gaskrise groß war, stürzte sie im Regierungszeugnis von "gut" auf "befriedigend" ab. Jetzt liegt sie wieder ganz vorne. Karin Leitner von der "Tiroler Tageszeitung" sieht sie als "unaufgeregte Facharbeiterin", die Gegenwind aus der ÖVP spüre. "Rückt mit stoischem Durchhaltevermögen in die Komfortzone jedes Einzelnen vor", urteilt News-Chefredakteurin Kathrin Gulnerits.

Gesundheitsminister Johannes Rauch, der im März den glücklosen Wolfgang Mückstein ablöste, hat sich im Vergleich zum Vorjahr deutlich verbessert. Im letzten Halbjahreszeugnis hatte Rauch noch mit der Pandemie zu kämpfen: Sein Corona-Management sei ein Trauerspiel, meinte damals Michael Völker; Karin Leitner fand ihn "in Sachen Corona-Schutz enttäuschend". Aber je mehr Corona in den Hintergrund rückt, desto mehr kann sich Rauch auf seine Aufgaben als Sozialminister konzentrieren. Und das offenbar mit Erfolg. Oder zumindest mit Ehrgeiz. Er wolle "herkulisch die Finanzierung des Gesundheitssystems reformieren", formuliert "Presse"-Journalistin Ulrike Weiser. Rauch müsse erst liefern, sagt "Profil"-Chef Christian Rainer: Er sei nach fulminantem Start in den Hintergrund getreten und könne sich nun um das so zentrale Thema "Soziales" kümmern: "Wir sind gespannt."

Von eins auf sechs

Während Rauch sich vom siebten auf den vierten Platz verbessern konnte, rutschte Arbeitsminister Martin Kocher vom ersten auf den sechsten. Warum?"Überzeugt als Person, kriegt aber nicht viel weiter", kritisiert Ulrike Weiser von der "Presse"."Das Großprojekt Arbeitslosengeldreform ist gescheitert.""Kurier"-Journalistin Johanna Hager charakterisiert den parteifreien ehemaligen IHS-Chef knapp als "Marathonläufer ohne Lauf bei Reformen".

Das Beispiel Kocher zeigt gut, welche Vor-und Nachteile Quereinsteiger in die Politik haben. Fachwissen und Außenperspektive stehen Mängel im politischen Handwerk gegenüber. "Trend"-Chefredakteur Andreas Weber urteilt über Martin Kocher: "An großer Arbeitsmarktreform gescheitert -auch weil er kein gelernter Politiker ist. Sein Expertentum ist dennoch ein Gewinn für diese Regierung." Auf den hintersten Plätzen gibt es zwei Neuzugänge: Landwirtschaftsminister Norbert Totschnig fiel vom zehnten auf den elften Platz. Begründung von Politikkommentator Johannes Huber ("Die Substanz"):"Nicht wahrnehmbar. Dabei sollte er sich gerade auch um ländliche Regionen kümmern, die eine Perspektive brauchen."

Karner fällt zurück

Dramatischer fällt der Absturz von Innenminister Gerhard Karner aus, der nun ex aequo mit Bildungsminister Martin Polaschek auf dem letzten Platz liegt (Letzterer hat sich im Vergleich zum Vorjahr aber immerhin leicht verbessert).

Nachdem in Österreich jahrelang nur über Corona diskutiert worden war, kommt nun auch das Thema Asyl zurück ins Bewusstsein, auch wegen des bemerkenswerten Wahlerfolgs der FPÖ bei der niederösterreichischen Landtagswahl. Politkolumnist Johannes Huber analysiert pointiert: "Bester Mann der FPÖ in der Regierung. Vermittelt, dass das Asylwesen, für das er zuständig ist, kollabiert." (Zweitbester Mann der FPÖ in der Regierung wäre demnach Außenminister Schallenberg, der, so Huber, "bei den Leuten zu wenig um Verständnis für die Sanktionen gegen Russland wirbt".) Andreas Weber vom "trend" argumentiert ähnlich: "Warum die ÖVP mit Dauerdramatisierung und -emotionalisierung des Asylthemas der FPÖ die Nummer eins absichert, bleibt ein strategisches Rätsel." Bildungsminister Martin Polaschek (4,2 im aktuellen Ranking statt 4,4) mache zu wenig deutlich, in welche Richtung er das Bildungssystem entwickeln will, so der Tenor der Politikexpertinnen und -experten. Christian Rainer vom "Profil":"Noch nicht ganz in Wien und in der Politik angekommen, was allerdings auch ein Vorteil sein kann. Wo bleibt die Neuausrichtung des Bildungssystems (von wegen soziale Durchlässigkeit versus Elitendenken)?"

Staatssekretäre

Nicht explizit im News-Regierungszeugnis abgefragt wird die Performance der vier Staatssekretäre, namentlich Susanne Kraus-Winkler (Tourismus), Andrea Mayer (Kultur), Florian Tursky (Digitalisierung und Telekommunikation) und Claudia Plakolm (Jugend). Christoph Kotanko von den "Oberösterreichischen Nachrichten" über die junge Jugend-Staatssekretärin - quasi Schulnachricht noch ohne Noten: "Sie hat Perspektiven. Sie ist mit 28 eine mustergültige Berufspolitikerin, hat eine klare Sprache und ein Gespür fürs Timing."

Das Zeugnis im Detail:

Regierungszeugnis News 2023
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Dieser Beitrag erschien ursprünglich im News-Magazin Nr. 06/2023.