Der Mama-Code

Experten über die Mutter-Kind-Beziehung: Wie unsere Mütter uns fürs Leben prägen

Sie sind unsere erste große Liebe - und die hält ein Leben lang. Aber nur selten ohne Turbulenzen. Wie uns Mütter prägen und auch dann über uns bestimmen, wenn wir längst erwachsen sind.

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Muttertag © Bild: iStockphoto.com/Lesley Lister

Einige hundert Kilometer müssen es schon sein. Weniger geht nicht. "Nur wenn diese Distanz zwischen uns liegt, halte ich meine Mutter aus", sagt Elisha J. Wallen-Holubek. Klingt nach einem zerrütteten Verhältnis, nach einer Beziehung, in der es nicht mehr viel Zuneigung gibt. "Falsch", sagt der 38-jährige Gastronom. "Es gab schon in meiner Kindheit nie wirklich viel Zuneigung. Weil meine Mutter immer das Geld verdienen musste, weil ich das älteste von sechs Kindern bin. Da konnte sie einfach nicht mütterlich sein. Das erste Geschenk von ihr bekam ich erst im Vorjahr zu meiner Hochzeit. Mit 37 Jahren. Meine Mutter ruft auch nie an - und wenn wir uns treffen, dann auf Facebook."

Das mag für die Behüteten unter uns schlimm klingen, Wallen-Holubek sieht es aber nicht dramatisch. Ja, er ist seiner Mutter sogar durchaus dankbar. "Ich bin mit 16 Jahren von zu Hause ausgezogen, das hätte ich nicht geschafft, wenn sie mich nicht zur Selbstständigkeit erzogen hätte. Ich durfte schon als Kind alles machen, musste aber auch mit den Konsequenzen allein zurechtkommen."

Das Loslassen beginnt mit der Geburt

Für die Familien-Psychologin Sandra Velásquez ist das Beispiel des Weltenbummlers, der erst seit acht Jahren in Österreich lebt, zwar nicht gelebter Durchschnitt, aber auch kein Grund für feuchte Mitleidsaugen. "Wie die Mutter uns behandelt, ist für uns die Grundlage, wie wir mit unserer Umwelt umgehen und Beziehungen aufbauen", sagt sie. Abkapseln heißt das Zauberwort. Wann wir uns von der Mutter, unserer ersten großen Liebe lösen, ist nicht so wichtig. Bedeutend ist vielmehr, wie wir das tun.

Das Loslassen beginnt nämlich schon mit der Geburt, dann, wenn der Vater als dritte Person dazukommt. Das Kind beginnt sofort, neugierig die Welt zu erkunden. Am besten gelingt das naturgemäß, wenn es eine sichere Basis hat, gleich bei den ersten Gehversuchen kurz zur Mutter zurückblickt, aber trotzdem ein paar Schritte weg macht. "Problematisch wird es, wenn die Mütter zu übervorsichtig sind", sagt Velásquez. "Dann kann sich das Kind nicht ausreichend entfalten." Und das hat Konsequenzen: Wer sich schon von kurzen Anrufen der Mutter auf die Palme bringen lässt, hat diese Abkapselung nie ganz bewältigt und fühlt sich noch immer wie ein Kind. "Im Extremfall brechen Erwachsene dann sogar mit der Mutter“, warnt Velásquez, "und lösen sich psychisch gewaltsam."

Söhne haben engere Beziehungen

Soweit muss es aber nicht kommen, wenn man nur ein paar Naturgesetze kennt. Das wichtigste, das hat wohl jeder schon irgendwann geahnt, ist: Söhne haben ein anderes Verhältnis zur Mutter als Töchter. "Das liegt daran, dass Buben in der Regel länger gestillt werden, sie werden auch mehr beschützt und öfter gehalten", weiß Velásquez. Töchter dagegen verbindet mit der Mutter das Frausein, die körperliche Entwicklung. Sie werden tendenziell mehr zur Selbstständigkeit erzogen.

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Diese These wird übrigens von nüchternen Zahlen bestätigt. Söhne genießen die Versorgung im "Hotel Mama" und ziehen durchschnittlich erst mit 21,8 Jahren von Zuhause aus. Töchter sehnen sich eher nach einem unabhängigen Leben, sie verlassen das Elternhaus laut Statistik schon zwei Jahre früher.

Bianca Maier hielt sich brav daran, zog mit 19 Jahren aus und sagt heute stolz: "Meine Mutter ist meine beste Freundin." Schon als Jugendliche war es die Mama, mit der die heute 35-jährige Assistentin in die Disco ging. Da kam es durchaus einmal vor, dass die Tochter früher nach Hause ging als die Altvordere. Nach dem ersten Sex, nach schmerzvollen Trennungen - Bianca rief immer zuerst die Mutter an, danach, wenn überhaupt, gleichaltrige Freundinnen.

Die Mutter als Freundin, ist das tatsächlich möglich? Kann man ihr als Kind jemals wie ein Erwachsener auf Augenhöhe begegnen? "Man kann", sagt die Psychiaterin Jutta Lenth. "Wenn die Mutter die Grenzen respektiert und das nötige Vertrauen in die Fähigkeiten des Kindes hat, sollte man damit keine Schwierigkeiten haben." Und ihre Kollegin, die Familien-Therapeutin Sandra Velásquez, konstatiert: "Gleichzeitig müssen beide Seiten unabhängig voneinander gut mit ihrem Leben zurechtkommen." Bei den Maiers trifft das zu. Mutter Angelika hat erst kürzlich ein eigenes Unternehmen gegründet, schneidert aus alter Kleidung neue, hippe Mode und vertraut dabei auch auf den Rat der Tochter.

Bei Julia und Sonja Wojta ist das, mit vertauschten Rollen, ähnlich. Die beiden betreiben gemeinsam eine Patisserie. Doch hier vertraut die Tochter auf den Rat der Älteren. "Als ich mein Jus-Studium abgeschlossen hatte, wusste ich nur eines: Ich würde in der Rechtsbranche nicht glücklich werden. Mein Traum war, mit meiner Mutter ein Kaffeehaus zu eröffnen." Nun ahnt man zurecht, dass diese nach dem gesponserten Studium ihre Bedenken hatte. Heute sagt sie: "Was gibt es für mich Schöneres, als mein Kind glücklich zu sehen?" Inzwischen backen die Wojtas nicht nur Süßes, sie halten auch Kurse ab. Wenn es stressig wird, fallen vielleicht einmal schärfere Worte, doch unisono ist man sich einig: "Wir sind die besten Kolleginnen."

Die Eifersucht der Mutter

Was aber, wenn die Mutter nicht so gut mit ihrem Leben zurechtkommt? Wenn sie Defizite hinnehmen musste, die sie bei ihren Kindern von Anfang ausräumen will? "Das kann fatale Auswirkungen haben", macht die Psychiaterin Jutta Leth klar. "Wenn es Müttern nicht gelingt, klar und eindeutig zwischen sich und dem Kind zu unterscheiden, kann das dazu führen, dass die Jungen mit Aufträgen durch das Leben gehen, die mit ihnen selbst gar nichts zu tun haben. Das ist für Sohn oder Tochter nicht zu bewältigen." Für Leth hilft bei diesen sogenannten "interpersonellen Konfusionen" oft nur noch eine Psychotherapie mit Selbsterfahrung.

Am besten also, man stoppt sich als Mutter selbst, wenn man bemerkt, dass man Erwartungen in den Nachwuchs setzt, die dieser nicht erfüllen kann oder will. Therapeutin Velásquez rät: "Es gehört für eine Mutter eine große Portion Mut zu sagen: Probiere es, und ich bin da, wenn etwas schief geht. Im Idealfall haben Mütter ein Netzwerk, um sich mit anderen Müttern austauschen zu können."

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Am häufigsten treten diese falschen Erwartungen freilich auf, wenn das Kind einen Partner präsentiert, der so gar nicht in die Vorstellungswelt der Mama passt. Und, kaum verwunderlich: Auch hier gibt es Unterschiede zwischen Söhnen und Töchtern. Dieses Mal haben es jedoch die Buben schwerer. "Mütter meinen oft, dass sie viele Entbehrungen auf sich genommen haben, um den Sohn zu erziehen. Und dann sehen sie vielleicht, dass die Früchte jemand anderer erntet", kennt Velásquez das Problem. Ist das vielleicht auch der Grund, warum sie gar nicht so unglücklich darüber sind, wenn der Sohn sich im Hotel Mama dauerhaft wohlfühlt? Velásquez nickt zustimmend und meint: "Viele sind einfach zufrieden, wenn sie von den Söhnen wieder gebraucht werden."

Und bei den Töchtern? "Bei ihnen ist die Wahl eines Partners zumeist weniger problematisch. Nur wenn Mütter im Leben der Tochter etwas sehen, was sie selbst nicht hatten, kann das in Eifersucht ausarten. Doch das sind Einzelfälle."

Eine Beziehung ohne Worte

Viel häufiger, und jetzt kommen wir zu den positiven Eigenschaften der Mutter-Kind-Beziehung, ist das blinde Verständnis der Generationen über Jahre. Vielleicht nicht in politischer Hinsicht, häufig nicht, wenn es um Fragen der Mode, des guten Benehmens, der Regeln im Haushalt geht. Ganz sicher aber, wenn es um Gefühle geht. Mütter wissen, wenn es ihren Kindern schlecht geht - und das zumeist völlig ohne Worte. Besonders bewegend schildert das die Dolmetscherin Marianna Tesarek, die mit ihrem Mann und den beiden Kindern in Wien lebt, während ihre Mutter in Pushinwohnt, 100 Kilometer von Moskau entfernt: "Trotz der großen Distanz spürt meine Mutter einfach, wenn es mir nicht gut geht. Sie sagt, dass sie dann nicht schlafen kann." Ist es also wirklich so, dass für Mütter die Nabelschnur zumindest auf der Ebene der Gefühle weiter besteht? Velásquez: "Das weibliche Gehirn ist sehr auf das Emotionale und die Feinfühligkeit programmiert. Klar spüren Mutter dadurch, wie es ihren Kindern geht, ohne dass man dafür viele Worte braucht."

Umgekehrt ist es übrigens oft genauso: Ein Baby hört bereits im Bauch das Herz der Mutter, ihre Stimme und bekommt hormonelle Veränderungen mit. So fangen die Kinder von klein auf emotionale Signale ein, die sie unbewusst interpretieren lernen und der Mutter gegenüber wohl nie zur Gänze ablegen.

Der Vater hat’s schwerer

Spätestens jetzt, es würde die Gender-Gerechtigkeit verlangen, sollte man noch den Vätern einige Zeilen widmen. Immerhin erweitert die Präsenz des Papas den Beziehungshorizont eines Babys, steht er zumeist für Leistung, Macht, Aktivität und Durchsetzungskraft in der Familie. Und oft ist er auch die (gefahrlose) erste Liebe für die Tochter. Allein: Die Kraft uns zu prägen, die Art uns zu sensibilisieren und die Fähigkeit, uns trotz inniger Zuneigung so schnell zu nerven, das kann er einfach nicht. Deshalb, so fordert die Familien-Therapeutin Sandra Velásquez, sollten wir alle unserer Mutter zumindest einmal im Leben ein Wort sagen. Nämlich "Danke!" Vielleicht an diesem Sonntag.

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