"Das überlagert Corona, das überlagert alles"

Warum die Frauenmorde nur die Spitze des Eisbergs sind, man das Verständnis von Männlichkeit kritisch hinterfragen sollte und es sich lohnt, damit schon bei den Buben zu beginnen.

von Frau mann Gewalt © Bild: iStockphoto

Mehr als ein Dutzend Frauen wurden alleine in diesem Jahr in Österreich von Männern ermordet. Männergewalt, die laut Experten auf einem toxischen Verständnis von Männlichkeit basiert. Doch was heißt eigentlich Männlichkeit? Was bedeutet es, ein Mann zu sein? Das hinterfragt der Verein Poika gemeinsam mit Buben bereits ab dem Volksschulalter. Was die Jungs dabei lernen (sollen), wo es in der Gleichstellung hierzulande hakt und wie es gelingen könnte, künftige Generationen gleichberechtigter zu gestalten, darüber spricht Poika-Gründer und -Obmann, Philipp Leeb, im Interview mit News.at.

Herr Leeb, warum haben Sie Poika gegründet und was macht Ihr Verein?
Philipp Leeb: Ich war früher Lehrer und habe den Verein 2008 aus der pädagogischen Überlegung heraus gegründet. Es braucht Räume, um Burschenarbeit in die Schule hineinzubringen, um über Themen zu reden, über die Buben sonst vielleicht nicht reden. Da geht es zum Beispiel um eigene Gewalterfahrungen, Gedanken über Gewalt allgemein und natürlich um Männlichkeit. Was ist Mann sein? Was bedeutet das in der heutigen Zeit? Und es ist damit ein Teil von Friedens- und Demokratieerziehung.

Wie groß ist die Nachfrage an Ihren Workshops – und wann fragen Schulen bei Ihnen an?
Die Nachfrage ist groß! Wir machen null Werbung und trotzdem kennen uns die Schulen mittlerweile. Angefragt wird sowohl als auch; es ist einerseits Interventionsarbeit, viele der Anfragen sind mehr so Feuerwehr-mäßig, aber es gibt auch Schulen, die das jedes Jahr für bestimmte Schulstufen machen, um einmal das Thema Gender und Rollenbilder hineinzubringen.

Was wollen Sie den jungen Männern vermitteln? Was ist das Ziel?
Es geht darum, Männlichkeit kritisch zu betrachten. Nicht zu sagen „Ihr seid alle böse“, aber wir wissen, dass so und so viele Gewalttaten von Männern begangen werden, wir wissen, dass wir in einer Gesellschaft leben, die patriarchal organisiert ist; in der Covid-Zeit haben wir hauptsächlich Männer und kaum Frauen gesehen. Und diese Bilder machen was mit uns. Wir fragen: Was sehen wir darin? Wollen wir mächtig sein? Was bedeutet Macht? Wie gehen wir mit Macht um? Was ermächtigt uns überhaupt? Und: Wie geht es Frauen und Mädchen in unserer Gesellschaft? Wie geht es Personen, die sich abseits dieser Geschlechternormen sehen? Diese Hierarchien, diese Unterschiede bearbeiten wir.
Prinzipiell ist ein großer Druck da, eine große Konkurrenz. Burschen tun sich oft total schwer untereinander und man braucht schon eine gute Basis, das auszuhalten.

» Wenn es um Frauenmorde geht, geht es um die Spitze des Eisberges«

Wie wirkt sich das auf die Frauen aus?
Die Mädchen leiden massiv darunter. Das wird ja immer unerwähnt gelassen. Wenn es um Frauenmorde geht, geht es um die Spitze des Eisberges. Mit alltäglichen Übergriffen an Frauen und Sexismus könnte man jeden Tag alles füllen, das überlagert Corona, das überlagert alles. Das ist eigentlich die größere Pandemie – ohne diese zu relativieren.

Ich denke, da müssen Männer unterstützend sein, sichtbar mitmachen und auch aufschreien, aber sagen: Wir wollen euch nicht überschreien, wir wollen euch nicht schützen, sondern wir stehen mit euch und sind solidarisch. Das passiert nach wie vor zu wenig.

»Da müssen Männer unterstützend sein, sichtbar mitmachen und auch aufschreien«

Sie sagten vorhin, die Konkurrenz unter den Burschen ist groß. Sich gegenseitig zu messen im Sinne von: "Wer ist schneller, besser aber auch stärker?", diese Körperlichkeit, das fängt früh an. Ist das biologisch gegeben oder anerzogen?
Das tragen wir mit, wir sind eine Leistungsgesellschaft. Es gibt diesen biologischen Ansatz, dass man sagt, das sei in uns Männern drinnen, aber da sag ich: Nein, Körperlichkeit hat kein Geschlecht. Wenn ich 100 Männer hernehme, muss ich erkennen, dass nicht 100 Männer gleich sind. Da ist schon sehr viel sozial konstruiert und eingelernt.

Wie kommt man als Bub/Mann aus diesem eingelernten Korsett wieder raus?
Das braucht einen Reflexionsprozess. Da brauche ich ein Umfeld dafür und selbst den Ansatz, zu sagen: Ich will nicht so leben, was kann ich tun? Wie kann ich aussteigen? Im Prinzip ist es einfach, man muss nur darüber nachdenken und sich mit anderen austauschen.
Wichtig ist auch, zu seinen Taten zu stehen und Gewalt nicht zu relativieren („War ja nur eine Watsche“) und auch zu wissen: Man kann sein Verhalten jeden Tag ändern, das ist wie mit dem Rauchen aufzuhören. Aber es ist natürlich schwer, weil man es eingelernt hat.
Dafür gibt es Räume, wo man sich Hilfe holen kann. Die Bubenarbeit ist hier ein Bereich, der präventiv ansetzt und wenn man erwachsen ist, kann man zur Männerberatung gehen.

»Man kann sein Verhalten jeden Tag ändern, das ist wie mit dem Rauchen aufzuhören.«

Warum fällt es Männern oder Buben oft schwer, sich diese Hilfe zu holen?
Die Scham ist halt sehr groß: Buben wollen keine Opfer sein, sie wollen nicht schwach sein und in der Gruppe ist es natürlich auch sehr herausfordernd. Wir holen in unseren Workshops diesen Druck gut heraus, indem wir sagen: Alles was hier gesagt wird, bleibt hier und wir hören dir zu. Und allein das sind sie oft gar nicht gewohnt!

Die Anzahl der Frauenmorde in Österreich ist erschreckend. Oft haben diese auch mit Zurückweisungen zu tun, dass Männer damit nicht umgehen können. Wie kann man schon Buben beibringen, damit bzw. mit Gefühlen überhaupt besser umzugehen?
Das ist ein Bereich, der eigentlich ins soziale Lernen hineingehört. In der Sexualpädagogik geht es viel um eine gewaltfreie Beziehung. Wie stehe ich zu meinem Körper, wie autonom bin ich? Auch als Bursch. Burschen erleben ja tendenziell mehr Gewalt im öffentlichen Raum und untereinander. Mädchen schlagen sich nicht gegenseitig, Burschen machen das in einer Tour. Das ist eine Körperlichkeit, die ist schon einmal seltsam. Das ist eine Zurichtung auf: Ich bin der Starke und du bist der Schwache. Und das sind wieder Machtgefälle.

Darum ist auch die Arbeit wie die Ihres Vereins natürlich immens wichtig. Wie gut fühlen Sie sich dabei unterstützt von öffentlicher Seite? Und wie hat sich das in den letzten Jahren verändert?
Es ist mehr in den Fokus gerückt, aber es ist ausbaufähig. Bubenarbeit gehört eigentlich in die Ausbildung all jener, die mit den Buben arbeiten.
Auch abgesehen vom Finanziellen ist die Unterstützung viel zu wenig in dem Bereich. Wir haben aus eigener Kraft geschafft, dass das ein bisschen sichtbarer geworden ist, aber es wäre schon Unterstützung, nicht angefeindet zu werden, so wie von der konservativen oder rechten Seite, von der es dann heißt: Da werden die Burschen verzogen, das sind keine echten Männer.

»Das ist vielleicht typisch Österreich, aber es heißt oft: Die Geschlechterordnung muss aufrecht erhalten werden.«

Solche Anfeindungen müssen Sie tatsächlich hören?
Ja natürlich. Das ist vielleicht typisch Österreich, aber es heißt oft: Die Geschlechterordnung muss aufrecht erhalten werden. Da muss ich zum Beispiel Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein lobend erwähnen. Ich glaube, das ist der erste Minister, der so offen als Mann in seiner Betroffenheit über die Frauenmorde gesprochen hat. Wie lange hat das dauern müssen?
Ansonsten bekommen wir im Großen und Ganzen immer nur von Frauenseite Lob. Von Männerseite braucht es tatsächlich viel mehr Unterstützung.

Gewalt wird oft mit geflüchteten Männern assoziiert. Sie haben mit jungen Männern aus verschiedenen Backgrounds zu tun: Wie sehen Sie das? Und wie wirkt sich dieses immer wieder gezeichnete Bild auf die jungen Männer aus?
Die Frage ist immer: Wo zieht man die Trennlinie? Ich ziehe sie gerne im Traditionellen und das Traditionelle können Jungs mit Migrationsherkunft haben, aber das haben wir in Österreich genauso. Unsere Gesellschaft ist patriarchal. Da kann ich nicht sagen: Das ist nur in Afghanistan so.

Ich mag das also nicht ethnisch trennen. Ich habe viel mit afghanischen Männern gearbeitet und manche sagen natürlich: „Bei uns ist das so“ woraufhin ich sage: „Ja, aber dieses ‚uns‘ ist jetzt in diesem zeitlichen Moment gar nicht wichtig. Sondern wir sitzen hier, was ist dir wichtig?“ Und da kann schon die erste Transformation passieren.

»So wie Frauen sich emanzipieren von dem Rollenbild, müssen und können das Männer auch machen.«

Also natürlich gibt es die Familie bzw. den Ort, wo man herkommt, aber dann gibt es den Ort, wo man im Leben weitergeht. Das ist bei uns genau dasselbe. Ich bin traditionell aufgewachsen mit Machos um mich herum und habe dann gelernt, mich davon zu emanzipieren. So wie Frauen sich emanzipieren von dem Rollenbild, müssen und können das Männer auch machen. Die große Angst dabei ist einfach der Verlust der Privilegien.

Wie kann es uns als Gesellschaft gelingen, die Vorstellung von Männlichkeit zu verändern?
Da ist an allen Ecken und Enden was zu tun: Das sind Eltern, die Kinder erziehen, aber auch politische Rahmenbedingungen, die viel öfter viel klarer ein gleichberechtigtes Bild schaffen sollen.
Und es sollten nicht immer vermeintliche Feindbilder bekämpft, sondern vielmehr gesagt werden: Wir haben das Problem, das ist ein männliches, wie können wir das angehen? Wie können wir Burschen von diesen Selbstbeschreibungen („Ich bin ja so, weil ich bin ein Mann“) wegholen? Das heißt, wir brauchen Zeit und eine modernere Schule, wo offener Austausch passiert.

Sehen Sie eine Chance, dass sich da tatsächlich etwas ändert?
Es ist ein holpriger Weg, aber ja. Übergeordnete Strategien, wie etwa von der UNO, von der EU und so weiter, die passieren ja, auch wenn es auf der anderen Seite Backlash-Bewegungen wie die Identitären oder die katholische Kirche gibt.

Was ist das wichtigste, das Sie Eltern/LehrerInnen/ErzieherInnen von Buben mitgeben würden, damit künftige Generationen gleichberechtigter und auch gewaltfreier miteinander leben?
Es gibt natürlich viele Faktoren, aber wesentliche sind: Den Kindern zuhören. Sich immer wieder Zeit nehmen, um den Kontakt nicht zu verlieren.

Außerdem sind wir Träger unserer eigenen Ideen der Welt: Also dass wir selbst nachdenken, wie wir Geschlechtergleichstellung sehen und auch danach handeln (da geht es nicht nur um das Binnen-I, sondern auch darum, etwa im Haushalt anzupacken). Also dass wir ganz klare Haltungen zugunsten der Menschheit oder des Friedens wahren, denn das ist das Menschenbild, mit dem unsere Kinder aufwachsen. Und sich auch offen darüber auszutauschen – und Unterstützung holen, wenn man nicht weiter weiß.

»Wir sind Teil der Lösung «

Und ich weise auch immer auf unseren Defizit-orientierten Blick hin: Natürlich gibt es Burschen, die machen wirklich Probleme, die brauchen Hilfe. Aber es gibt ganz viele andere Burschen, die nicht so sind. Und die muss man bestärken. Da spielt leider auch noch eine Komponente rein, die an den Schulen passiert: Sehr viele Lehrpersonen sind rassistisch! Und wenn da Burschen, die ohnehin schon nicht so anerkannt sind, auch noch aufgrund ihrer Herkunft oder Religion abgewertet werden, verstärkt das ein marginalisiertes Männerbild. Eines, das sie in ihrer Heimat vielleicht gar nicht haben, weil dort sind sie nur der Ahmed, aber hier sind sie der Afghane, der Muslime, der Böse. Mit vielen Stempeln und so weiter.

Aber auch für österreichische Kinder gilt: Wenn ein Kevin oder ein Peter von zuhause nur hört „Aus dir wird nichts“, verstärkt das Gewaltbilder Das heißt, wir sind Teil der Lösung.

Mit Blick auf die kommende Generation: Was verschiebt sich vielleicht bereits im Bezug auf Gleichstellung und Männlichkeit?
Ich kann es nicht sagen. Ich will zuversichtlich bleiben, weil ich viele junge Männer schon kennengelernt habe, wo ich mir dachte: „Super, es geht alles gut.“ Aber es ist natürlich viel Arbeit, der oben erwähnte „holprige Weg“ trifft es wohl ganz gut.