Elisabeth Leopold: Mit 95 Jahren stärker und klüger als die meisten

Die Museumsgründerin ruft zu Vernunft und Zuversicht auf

Ärztin, Autorität in Kunstbelangen, Frau mit Weltblick: Jemand wie die Museumsgründerin Elisabeth Leopold, 95, würde als Wegweiserin in desorientierter Zeit dringend gebraucht.

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Interview - Elisabeth Leopold: Mit 95 Jahren stärker und klüger als die meisten

Wenn die Zeiten dumpf werden, rechtfertigt man Kunst über Umwegrentabilitäten. Oder man taxiert Bücher nach Gewicht, wie es im gegenständlichen Fall auch schon vorgenommen wurde. Aber diese Neuerscheinung hat wesentlich andere Qualitäten als ihre nachprüfbaren fünf Kilogramm: Das Schiele-Gesamtverzeichnis des epochalen Sammlers und Museumsgründers Rudolf Leopold ist wieder verfügbar. Seine Frau, Augenärztin wie er und kreativ an seiner Seite, seit er in den Fünfzigerjahren den kaum beachteten Egon Schiele wiederentdeckte, hat das vergriffene Buch aktualisiert und unter Einsatz eigener Mittel neu auflegen lassen. Das 2001 eröffnete Museum ist heute halb verstaatlicht, die Restitutions-Causen sind verstummt. Und Elisabeth Leopold ist mit ihren 95 Jahren als Medizinerin und Autorität in Kunstbelangen eine singuläre Auskunftsperson.

Das Wichtigste und Erste: Wie geht es Ihnen?
Gut geht's mir. Ich begrüße jeden Tag, den ich leben kann, ich liebe das Museum und gebe ein Buch nach dem anderen heraus, vom nächsten darf ich noch gar nicht reden, und ich arbeite an einem Vortrag für unser nächstes Symposion.

Ist es übertrieben, zu sagen, dass Sie und Ihr Mann Schiele überhaupt erst ins Bewusstsein gerückt haben?
Mein Mann hat 1956 seine erste Schiele-Ausstellung mit dem Stedelijk-Museum in Amsterdam ausgerichtet. Österreich war in der schrecklichen Zeit des Zweiten Weltkriegs in der Welt ja unbekannt geblieben, dem wollte man in Amsterdam abhelfen. Deshalb hat man österreichische Künstler gesucht und wurde auf den jungen Arzt Rudolf Leopold und seine Schiele-Sammlung aufmerksam. In unserer kleinen Wohnung waren die Meisterwerke noch dicht neben einander gehängt, und jetzt kamen die deutschen Kritiker nach Amsterdam und schrieben, der bisher unbekannte Schiele sei mit einem Schritt ins Zentrum der europäischen Kunst gerückt. Zehn Jahre später kam die große Ausstellung im Guggenheim in New York. Plötzlich kauften amerikanische Museen Schiele-Blätter, und auch Klimt war in aller Munde. Es war nämlich so, dass der Schiele den Klimt mitgenommen hat, nicht umgekehrt. Und 50 Jahre später waren wir ganz oben und hatten unser eigenes Museum. Es war schon etwas ganz Besonderes gewesen, wenn man an einem Sommertag aus dem Garten unseres Grinzinger Hauses mit den blühenden Oleanderbäumen ins Halbdunkel der ebenerdigen Räume gekommen war, und da hingen die Hauptwerke von Schiele. Aber man konnte sie nur noch in Stößen unterbringen, und der Aufbruch ins Museum war ein großer, notwendiger Schritt.

Darauf kommen wir später noch ausführlicher, Frau Professor ...
Nicht Professor sagen! Ich heiße Elisabeth Leopold. Ich bin im Prinzip ein einfaches Madl, hab aber sehr viel gelernt, auch sehr viel von meinem Mann. Deshalb fühle ich mich in wissenschaftlichen Kreisen wohler: Da vergisst man die Titel und nennt sich beim Namen. Kann man denn besser heißen als Leopold? Am ehesten kann ich mir eine goldene Nadel mit einem Ehrenzeichen vorstellen. Die hat man mir in Wien gegeben. Ich trag sie sogar manchmal.

Wohin das mit den Titeln führt, haben wir ja gerade bei der armen Ministerin Aschbacher gesehen.
Recht g'schieht ihr. Wir haben seinerzeit als Ärzte zwar keine Dissertation geschrieben, aber wir haben schon was beweisen müssen. Und wir hatten zwölf Rigorosen abzulegen.

Haben Sie aus Ihrem medizinischen Wissen Angst vor einer Infektion?
Angst ist zu viel gesagt. Ich bin eine große Verfechterin des Maskentragens, des Abstandhaltens und der frischen Luft. Ich bin für alle medizinischen Maßnahmen. Denn so lustig ist das Sterben an Corona nicht. Diese schrecklichen Lungenkomplikationen muss ich nicht unbedingt haben. Dass wir jetzt von den Zahlen zwischen 1.500 und 2.000 nicht herunterkommen, hat zwei ganz einfache Gründe: Erstens halten sich die Leute nicht. Es ist grauenhaft, dass 10.000 ohne Maske herumrennen und brüllen "Wir sind gegen die Maßnahmen". Das ist der Gipfelpunkt der Dummheit. Und das Zweite sind die Mutationen. Das alte Virus verursacht vier statt drei Ansteckungen, das neue sechs statt drei. Unsere einzige Rettung sind die Impfung und der Sommer. Ich verstehe die Merkel gut, dass sie länger zusperren will.

Werden Sie sich impfen lassen?
Sofort, sowie ich die Möglichkeit habe. Meine Tochter hat mich angemeldet, und ich warte in Geduld. Vordrängen werde ich mich nicht.

Wie sehen Sie nun den Umgang mit der Kultur in der Pandemie?
Ich sehe ihn als bittere Pille. ABER: Zuerst müssen wir auf die Gesundheit schauen, dann müssen wir auf die Wirtschaft schauen. Denn Gesundheit und Wirtschaft braucht die Kultur. Wir müssen es als bittere Pille hinnehmen, die Letzten zu sein. Zuerst kommt die Gesundheit, denn wenn wir weiter Pandemie haben, wird die Kultur zugrundegehen.

Es gab aber doch während der beiden Monate Öffnung im Herbst in keiner Kulturinstitution einen Infektionsfall, wie auch Experten anmerken.
Ich sage Ihnen offen: Ich kann diese Experten nicht mehr hören. Zuerst Gesundheit, dann lockern wir ein bissl für die Wirtschaft, und dann kommt langsam die Kultur. Das sagt einem der Verstand, so ist es nun einmal, so unglücklich ich war, dass ich nicht durch das Museum führen konnte. Es tut mir auch weh, dass die Kultur so wenig Einfallsreichtum aufbringt. Das Burgtheater müsste viel mehr ins Fernsehen bringen, nicht nur über die verschlungenen Wege des Computers. Und einmal in der Woche eine Opernaufführung, ein Konzert ... zum Neujahrskonzert hat es ja gereicht.

Wie würden Sie diese Krise denn aus Ihrer Lebenserfahrung einordnen? Sie wurden 1926 geboren, haben den Zweiten Weltkrieg erlebt ...
Ich bitte Sie, mir solche Vergleiche zu erlassen. Ich habe die Vergleiche so satt, wie ich die Experten und ihre Prognosen satt habe. Warten wir doch ab, wie wir da herauskommen. Und wenn wir es überstanden haben, gehen wir es mit frischen Kräften an. Ich bin von meinem Wesen her sehr optimistisch, ein sonniger Idiot. Ich bin sicher, dass wir in einem Jahr wieder ein herrliches Leben haben. Vielleicht, und das hat uns ganz gut getan, werden wir uns dann klar geworden sein, dass diese herrliche Blüte in der Wirtschaft und der Kultur keine Selbstverständlichkeit ist. Sie muss nicht so sein, sie muss erkämpft werden. Umso mehr wird sie uns beglücken. Ich finde es auch gut, wenn manche Flüge auf ewig gestrichen werden. Es muss nicht jeder auf die Seychellen fahren. Ich glaube, dass auch der Mondsee oder der Wolfgangsee unendliche Schönheiten haben. Viele Leute haben plötzlich Österreich entdeckt, das war doch ein kleiner Vorteil in dem Unglück.

Hätten Sie für möglich gehalten, dass Sie noch eine Krise wie die jetzige erleben würden?
Natürlich nicht. Bedenken Sie doch, wie die Welt jetzt aussieht! Wir haben in Europa schwere Nachteile, in Afrika, in Amerika. Es ist soweit, dass einander die Juden, die Christen und die Muslime die Hand reichen müssen, damit wir alle durchkommen.

Und wie leben Sie selbst seit dem Tod Ihres Mannes?
Ich tu immer was. Abgesehen davon, dass ich schlecht höre und langsamer gehe, habe ich ein schönes Leben. Natürlich sind die Abende manchmal bitter. Aber allein bin ich nicht, ich habe ja Bekannte, Freunde, Kinder und Enkel. Also bin ich nicht allein. Und das Wichtigste ist die Beschäftigung. Jeder, der in Pension geht, sollte sich ein zusätzliches Hobby nehmen. Er könnte auf arme Leute schauen und sich bei der Caritas betätigen. Oder zu malen beginnen. Oder sich in den Altersheimen engagieren. Ich war selbst Ärztin und weiß, welche Hölle so ein Heim sein kann. Manchmal ist das kein Leben, immer dieselben Leute und den ganzen Tag auf das Essen warten. Aber dann gab es eine Frau, die den ganzen Tag Deckerln gestickt hat, und der ging es besser. Es hilft sehr, sich handwerklich oder geistig zu betätigen, bis zum letzten Tag, wenn es möglich ist.

Und dass man in den Altersheimen wegen der Pandemie plötzlich keinen Besuch mehr empfangen konnte?
Ich habe großes Mitleid mit allen, die da betroffen sind. Das ist ganz schlimm. Aber das Zweite, ebenso Schlimme, ist die Familie mit vier Kindern in Zimmer, Kuchl, Kabinett, ohne Schule und ohne Auslauf in den Mietskasernen. Da kann nur Geistigkeit helfen. Jedes Kind muss doch ein Hobby haben, oder ein Schulfach, das ihm liegt. Aber ich kann leicht reden. Mir ist hundertfach klar, wie privilegiert ich mit der Kunst bin. Ich kann niemandem sagen, was er soll. Ich kann nur empfehlen: Sucht euch was!

Sollten die Kinder in die Schule gehen?
Natürlich. Ich habe da eine klare Meinung: Nicht die Kinder, die Eltern sind die Blöden. Ich gehe in Grinzing bei der Volksschule vorbei, und da stehen 25 Eltern. Keiner hat eine Maske, sie tratschen ganz nahe bei einander. Nur die Kinder mussten den ganzen Tag Masken tragen.

Was sagen Sie als Medizinerin, wie sich die Wissenschaft entwickelt hat? Wir waren immer gewohnt, von ihr Antworten auf alles zu bekommen. Jetzt hat sie selbst nichts als Fragen.
Seit ich mich als junge Ärztin mit Wissenschaft beschäftigt habe, weiß ich, dass jede wissenschaftliche Arbeit hinterfragt werden muss. Das stimmt alles bestenfalls mit Einschränkungen, und Bildung ist nicht alles. Das Gefühl für bildende Kunst hat nicht unbedingt mit Bildung zu tun. Ich kenne sehr einfache, fast primitive Leute, die sofort die geistige Kraft eines Bildes erkennen. Andererseits habe ich eine Ministerin erlebt, die mit den Worten "Na, des gfallt ma iiibahaupt ned" an einem Meisterwerk vorbeigegangen ist. Und wieviele Künstler sind einfache Menschen!

Ja, aber wem als der Wissenschaft sollen wir denn glauben?
Im Zweifelsfall jedenfalls den Ärzten und keinen so genannten Experten. Ich bin kein Freund von der Rendi-Wagner. Aber wie sie zuletzt sachkundig, mit einem plötzlich entwickelten Temperament vorgeht - da habe ich gesagt: großartig!

Kommen wir zu Ihrem Buch. Weshalb legen Sie dieses Standardwerk Ihres Mannes wieder auf, auch unter persönlichem finanziellem Einsatz?
Das Buch war 1972 nach zwanzigjähriger intensiver Forschungstätigkeit fertig. Mein Mann war immer zu spät dran. Nicht nur einmal ist er mit dem Auto um Mitternacht zum Westbahnhof gefahren, um dem letzten Zug etwas für den Verlag mitzugeben. Als er fertig war, war er schlafmittelkrank. Aber es hat sich gelohnt. Schiele ist für mich ein Zentrum des Jahrhunderts, faszinierend bis heute auch für die jungen Leute. Rudolf Leopold hat sich als junger Mann für das Können der alten Meister begeistert, er ist im Kunsthistorischen Museum vor den Werken von Breughel, Rembrandt und Vermeer, den er besonders geliebt hat, gestanden und hat gesagt: Ich will mein Leben mit Kunst umgeben. Also geht er los und sucht und findet Schiele und sucht seine Werke auf mehreren Kontinenten und schreibt ein Buch, das, Bild für Bild, aus dem Herzen geschrieben ist.

Offenbar vermissen Sie Ihren Mann noch sehr. Er war doch, in allem Respekt, ein Riesentyrann.
Gewissermaßen, aber wie ich ihn vermisse! Ich erinnere mich noch, wie wir mit dem damaligen Raiffeisen-Chef Konrad ein Gespräch hatten. Ich habe etwas dazwischengeredet, und mein Mann sagte: "Sei stad, des is ganz anders." Konrad war empört, aber ich habe ihn beruhigt: "Haben S' um mich keine Angst, ich bin schon in der Schule wegen meiner frechen Goschn außeg'flogen." Es ist mir also nichts passiert, glaube ich. Im Gegenteil, in meiner Bewunderung für sein wirklich geniales Auge war das leicht zu ertragen.

Heute wäre Schiele aber Spitzenkandidat für einen korrekten Shitstorm. Steuern wir nicht auf die neue Prüderie zu?
Schiele hat eine neue geistige Welt geschaffen, mit der Erkenntnis, dass ein Kuss von innen zu sehen ist. Die neue, korrekte Prüderie interessiert mich nicht, und es interessiert mich auch nicht im Geringsten, auf was wir zusteuern. Als denkender Mensch schaffe ich mir meine eigene Welt. Sollen die steuern, auf was sie wollen.

Wie geht es Ihnen denn damit, dass das Leopold-Museum nicht mehr von Ihrer Familie geführt wird?
Das will ich nicht sagen. Mein Sohn Diethard schreibt mit mir ein Buch, mein Sohn Rudi, der Cellist, spielt hier immer wieder, und meine Tochter Gerda ist Künstlerin. Wir sind mit dieser geistigen Welt sehr verbunden. Wir haben hier einen sehr guten Direktor. Unsere Gespräche sind nicht immer in gleicher Harmonie, aber das bewegt die Sache.

Wie übersteht das Museum denn die endlose Schließung? Gerät man in existenzielle Probleme?
Unsere beiden Direktoren sind wahnsinnig tüchtig. Wir kommen schon irgendwie durch, und bevor wir zusperren, werden wir schon Geld bekommen. Wir bekommen zwar schon jetzt zu wenig, aber sie können uns auch nur geben, was sie haben. Der Staat wird jetzt Milliarden brauchen. Wir müssen alle zusammenstehen.

Wie steht es denn um die Restitutions-Causen des Museums?
Wir waren immer sehr für die Restitution. Und zwar im Sinne der Washingtoner Konferenz mit dem Prinzip "fair and just solutions". Das heißt, dass man Erben auch auszahlen kann, und das wurde auch von der Kultusgemeinde akzeptiert. Denken Sie an die "Wally"! Wir haben auch ein Bild verkauft, um die "Häuser am Meer" halten zu können, denn dieses Endzeitbild ist großartig. Wie alte Männer stehen die Häuser am Rand des Abgrunds in diesem grauen Streifen. Die Frage "Wo gehen wir hin?" macht das Bild zu einem Testament Schieles.

Sind denn alle Restitutions-Causen erledigt?
Soweit es möglich war, ja. Leider gibt es eine Heerschar von Anwälten, die nichts anderes zu tun haben, als immer wieder Narben aufzureißen. Es sind nicht die Nachfahren der Ermordeten. Die waren immer bestrebt, mit uns auf gleich zu kommen.

Fühlen Sie gegen die Personen und Medien, die Ihren Mann damals derart angegriffen haben, noch Groll?
Ich bin ein sonniger Optimist und habe gegen niemanden Groll.

Wir haben schon zu Beginn über Angst gesprochen. Macht Ihnen die eigene Endlichkeit Angst?
Ich übe Vorsicht. Aber wovor soll ich mich fürchten? Ich werde sterben, und das nehme ich hin, denn so ist das Leben. Habe ich denn kein schönes Leben gehabt? Der Tod gehört zum Leben dazu. Dass ich nicht unbedingt in der Intensivstation liegen will, ist das andere. Aber so Gott will, wird es eine ruhige Todesstunde sein.

ZUR PERSON: Elisabeth Leopold Geboren am 3. März 1926 in Wien, studierte sie Medizin und wurde zur Augenärztin promoviert. 1953 heiratete sie ihren Berufskollegen Rudolf Leopold. Sie unterstützte ihn beim Aufbau einer einzigartigen Sammlung des damals kaum beachteten Egon Schiele. Das Museum in Wien wurde 2001 eröffnet, die Sammlung in eine Stiftung eingebracht. Nach dem Tod ihres Mannes 2010 wurde Elisabeth Leopold auf Lebenszeit in den Stiftungsvorstand berufen.

Das Buch: Ein monumentales Standardwerk: "Egon Schiele - Gemälde, Aquarelle, Zeichnungen" von Rudolf Leopold wurde von seiner Frau aktualisiert und bearbeitet. Soeben erschienen bei Hirmer, € 77,10