"Die Autismus-Diagnose
verhalf mir zu Selbstakzeptanz"

Erst mit 27 Jahren erfuhr Marlies Hübner, dass sie Autistin ist. Was hat die Diagnose verändert? Was heißt Barrierefreiheit? Und warum sollten sich auch Nichtautisten mit dem Thema auseinandersetzen?

von Autismus - "Die Autismus-Diagnose
verhalf mir zu Selbstakzeptanz" © Bild: Mascha Seitz
Die Autorin Marlies Hübner lebt in Wien und betreibt unter robotinabox.de einen der meistgelesenen Blogs zum Thema Autismus im deutschsprachigen Raum. Sie setzt sich aktiv für Diversität und die Inklusion behinderter Menschen ein.

Wenn über autistische Menschen gesprochen wird, hört man des Öfteren "die leben in ihrer eigenen Welt". Was sagen Sie zu dieser Aussage?
Wie entspannt wäre es, hätte ich eine eigene Welt zur Verfügung. Tatsächlich denke ich aber, dass das eine bequeme Ausrede für ist, mit der nicht-autistische Menschen die Marginalisierung von Autist*innen rechtfertigen. Sie in einer "eigenen Welt" zu verorten schiebt die Verantwortung weg, die Menschen in dieser Welt haben.

Was ist Autismus überhaupt?
Autismus ist ganz kurz gesagt eine Neurodiversität, eine Art des Seins. Durch andere neurologische Voraussetzungen im Gehirn ist die Wahrnehmung anders als bei nicht-autistischen Menschen. Wahrnehmung beeinflusst natürlich alles – die Kommunikation, die Reizverarbeitung und das Verhalten.

Ich habe eingangs den Begriff "autistischer Mensch" verwendet. Wie bezeichnen Sie sich – Autistin, Mensch mit Autismus, Mensch mit Behinderung? Worin liegen für Sie die Unterschiede?
Viele Autist*innen wünschen sich die Identity First Language statt der Person First Language. Ich auch. Das bedeutet, die Identität, also das Autistisch-Sein steht im Vordergrund. Statt Mensch mit Autismus sollte also Autist*in oder autistische Person/autistischer Mensch gesagt werden, weil Autismus untrennbar mit der Person verbunden ist und nicht von ihr getrennt gesehen werden kann. Autist*innen sind aber keine homogene Gruppe. Es gibt Personen, die das anders sehen und anders angesprochen werden möchten. Beim Thema Behinderung ist es ähnlich. Autismus hat oft einen Behinderungs-Wert. Das bedeutet, die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ist nicht vollständig möglich, man wird seitens der Gesellschaft behindert. Aber auch hier gibt es unterschiedliche Meinungen und Ansichten. Nur, weil ich meinen eigenen Autismus als Behinderung empfinde, kann ich nicht von mir auf alle anderen autistischen Personen schließen.

»Die Autismus-Diagnose verhalf mir zu Selbstakzeptanz«

Bleiben wir bei Ihrer persönlichen Geschichte. Wann haben Sie erfahren, dass Sie Autismus haben? Was hat die Diagnose mit Ihnen gemacht?
Wie viele autistische Frauen, die vor der Jahrtausendwende geboren wurden, habe ich meine Diagnose erst im Erwachsenenalter erhalten. Konkret mit 27. Frauen werden bei der Diagnostik oft übersehen. Dafür gibt es verschiedene Gründe. Die Diagnosekriterien sind zum Beispiel an männlichen Personen orientiert und man ging lange davon aus, Autismus beträfe vor allem Jungen und Männer. Frauen verhalten sich aufgrund ihrer Sozialisierung aber oft anders und zeigen andere Probleme und Auffälligkeiten, die dann übersehen oder fehldiagnostiziert werden. Auch bei mir ging man sehr lange davon aus, ich sei eben besonders schüchtern, merkwürdig und meine Probleme seien auf andere Ursachen zurückzuführen. Man sah Symptome wie Depressionen und Angststörungen, ohne aber zu schauen, wodurch sie ausgelöst wurden. Die Autismus-Diagnose erklärte all das. Sie verhalf mir zu Selbstakzeptanz, half mir, meine Bedürfnisse zu erkennen, zu validieren und mein Leben selbstbewusst danach zu gestalten.

»Es ist leider Teil einer Behinderung, an vielen Dingen des Lebens nicht teilhaben zu können«

Rückblickend: Wie haben Sie Ihre Kindheit und Jugend in Erinnerung?
Als schwierige und traumatische Zeit. Kinder gingen damals nicht gut mit dem Anderssein um, vor allem, wenn es keinen ersichtlichen Grund dafür gab.

Wie ist das heute - wenn Sie neue Menschen kennenlernen oder beispielsweise bei einem Vorstellungsgespräch - sagen Sie dann gleich, dass Sie Autismus haben?
Na ja, ich beginne kein Gespräch mit "Hallo, mein Name ist Marlies und ich bin autistisch". Die Erfahrung hat gezeigt, dass es sinnvoll ist, es zu erwähnen, um ich selbst sein zu können und um Verständnis für meine Art zu bekommen. Im beruflichen Kontext ist es mir wichtig, da ich ein ruhiges Arbeitsumfeld und eine gute Kommunikation im Team brauche. Es fällt mir auch schwer, Kraft für Termine außerhalb der Arbeitszeit wie Feiern und Team-Events aufzubringen. Das begründen zu können ist ebenfalls wichtig, um Verständnis und Akzeptanz zu schaffen. Es ist leider Teil einer Behinderung, an vielen Dingen des Lebens nicht teilhaben zu können, weil die Barrieren zu hoch sind oder die Kraft nicht reicht.

Das Buch von Marlies Hübner "Verstörungstheorien: Die Memoiren einer Autistin, gefunden in der Badewanne" gibt es hier.*

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Wir führen dieses Interview schriftlich; was wäre anders, wenn wir es telefonisch oder face-to-face führen würden?
Jede Kommunikationsform birgt andere Herausforderungen, aber auch Möglichkeiten. Schriftliche Kommunikation bietet mir eine freiere Zeiteinteilung für die Beantwortung, ich kann länger über Fragestellungen und Antworten nachdenken, kann Formulierungen ausprobieren und mich so genauer und bedachter ausdrücken. Ein Face-to-face-Gespräch ist im nicht-freundschaftlichen Kontext oft anstrengend und anfälliger für Missverständnisse, da man – ebenso wie am Telefon – zusätzlich nonverbale Kommunikationsebenen hat. Mimik, Gestik, Tonfall, Blicke und anderer Subtext ist für Autist*innen sehr schwer zu erfassen. Wir entschlüsseln diese Art der Kommunikation nicht intuitiv und haben große Probleme, alles außerhalb der Informationsebene zu verstehen.

Woran würde ich erkennen, dass Sie sich in einer Situation unwohl fühlen?
Ich denke, weil ich sehr angespannt und gestresst wirke und versuche, die Situation zu verlassen? Man kann nicht jede ungute Situation meiden, das kann niemand. Aber man kann sich bemühen, dass die Rahmenbedingungen für alle Personen angenehm und anpassungsfähig sind. Man sollte Personen mit von der Norm abweichenden Bedürfnissen mitdenken.

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Jenes Unwohlsein sollte im Idealfall gar nicht erst aufkommen - Stichwort Barrieren. Wie haben Sie Barrierefreiheit für sich definiert? Was heißt Barrierefreiheit?
Unwohlsein ist nicht zwingend eine Barriere. Barrieren machen es sehr schwer oder unmöglich, an etwas teilzuhaben. Menschen denken da vor allem an Rampen, aber Barrieren sind sehr viel mehr. Die beste Rampe nutzt wenig, wenn es keine behindertengerechte Toilette gibt. Auch die Möglichkeit für seh- oder hörbehinderte Personen, Veranstaltungen wahrzunehmen, Informationen zu bekommen, gehört zur Barrierefreiheit. Bei Autismus sind es eben Dinge wie Alternativen zum Telefon, Rückzugsräume, digitale Ausweichmöglichkeiten für Vorträge und Veranstaltungen. Es sind ausführliche Informationen, die man vorab abrufen kann oder Begleitpersonen, die man mitnehmen kann, die Barrierefreiheit schaffen können. Wobei das Wort "Barrierefreiheit" etwas irreführend ist, weil die tatsächliche Barrierefreiheit im Sinne vom Nichtvorhandensein jeglicher exkludierender Barrieren eine Utopie ist, die wir auf jeden Fall anstreben sollten, die aber auch aufgrund der Vielfalt von Behinderungen nicht erreichbar ist.

Im Zuge meiner Recherche bin ich auf den Begriff "masking" gestoßen. Könnten Sie erklären, was es damit auf sich hat?
Maskieren bedeutet, man passt sich der nicht-autistischen Gesellschaft und der wahrgenommenen Norm an. Das ist, als setzte man sich eine Maske auf, mit der man sein wahres Sein verbirgt. Masking ist sehr anstrengend und führt über kurz oder lang zu Depressionen, Erschöpfungszuständen und Burnout. Man bekommt aber oft vermittelt, sich maskieren und anpassen zu müssen und diesen Preis, also den Preis der eigenen psychischen Gesundheit zahlen zu müssen, um gesellschaftlich akzeptiert zu werden. Auch 2020 räumen wir dem Anderssein kaum Raum ein und verlangen von Menschen, physisch und psychisch einem Ideal zu entsprechen.

»Am wichtigsten ist Geduld mit sich selbst zu haben und die eigenen Grenzen zu respektieren«

Sich in sozialen/gesellschaftlichen Strukturen zurechtzufinden kostet Kraft. Für autistische Menschen vermutlich wesentlich mehr. Wie tanken Sie Ihre Kraftreserven wieder auf? Woher nehmen Sie Ihre Energie?
Die Regeln für soziale Situationen sind ungeschrieben. Es gibt einen Konsens, der sich aber durch viele Faktoren mal mehr oder weniger ändern kann. Das erfassen Autist*innen aber nicht intuitiv, was soziale Situationen schwierig macht. Das permanente Analysieren und Nachjustieren in solchen Situationen ist wirklich sehr anstrengend und verbraucht oft mehr Kraft, als man hat. Energie zu tanken ist schwierig, weil das sehr langwierige Prozesse sein können und man nicht mit einer Nacht Schlaf wieder erholt ist. Ruhe, Reizarmut und die Beschäftigung mit Spezialinteressen können helfen. Am wichtigsten ist aber Geduld mit sich selbst zu haben und die eigenen Grenzen zu respektieren.

© Mascha Seitz Marlies Hübner

Das Bild zum Thema Autismus wurde bei vielen durch Filme, Bücher oder Prominente geprägt. Was halten Sie von Filmen und Büchern wie "Rain Man", "Das Rosie-Projekt" oder "Mercury Puzzle"?
Oft sind die autistischen oder autistisch interpretierten Personen, die popkulturell Erwähnung finden, männlich und mindestens hochbegabt, wenn nicht gar Genies. Das hat mit der Realität nichts zu tun und vermittelt Zerrbilder, die wiederum Vorurteile schaffen. Darum stehe ich solchen Filmen kritisch gegenüber. Marginalisierte Gruppen, die ohnehin schon mit Diskriminierung und Exklusion zu kämpfen haben, sollte man auch in Kunst und Kultur verantwortungsvoll und überlegt darstellen.

Im Autismusspektrum findet man jede Art der kognitiven Leistungsfähigkeit und jede Art von Geschlechtsidentität. So wie es auch bei Nichtautist*innen ist. Wir sind weder alle verkannte Genies, noch haben wir alle eine kognitive Einschränkung – was auch eine eigenständige Behinderung wäre und nicht mit Autismus zusammenhängt. Natürlich kommt beides vor, aber es ist nicht die Regel.

»Ihr Autismus sollte keine Rolle spielen«

Auch durch die Person Greta Thunberg hat das Thema an Präsenz gewonnen. Ist das gut?
Für Greta Thunberg steht nicht Autismus im Fokus ihrer Arbeit, sondern Klimaschutz. Dass Menschen ihren Autismus auf oft gewaltsame, diskriminierende Weise und in Verbindung mit Falschinformationen und Verschwörungstheorien thematisieren, zeigt, wie wenig Platz Menschen mit Behinderung im Rampenlicht gegeben wird. Es scheint für manche Menschen ein Affront zu sein, dass eine junge Frau mit einer Neurodiversität zur Stimme einer global höchst relevanten Bewegung wurde und mit ihrer Expertise sowohl politisch als auch medial gehört wird. Ihr Autismus sollte keine Rolle spielen. Dass und wie er es trotzdem tut, zeigt uns, welches Bild Menschen von Autist*innen und behinderten Personen haben.

»Ich wünsche mir sehr, dass wir als Gesellschaft endlich akzeptieren, dass Menschen mehr als eine Art der Wahrnehmung haben«

Was machen Aussagen wie "mich stresst das auch extrem", "mir ist auch manchmal alles zu viel" von nicht-autistischen Menschen mit Ihnen?
So etwas zu hören ist sehr bitter. Natürlich ist auch nicht-autistischen Menschen hin und wieder alles zu viel, aber sich auf eine Stufe mit einem behinderten Menschen zu stellen ist dreist. Ein neurotypischer Mensch kann und wird nie wissen, wie es ist, keine Filter zu haben, alles wahrzunehmen. Er wird nie erfahren, wie belastend und chaotisch die Welt ist, wie hürdenreich Kommunikation ist und wie erschöpfend ein ganz normaler Alltag ist. Einfach mal die Privilegien checken ist ganz generell eine gute Sache. Das mache ich ja auch, wenn es um andere marginalisierte Gruppen geht.

Abschließend: Was wünschen Sie sich von der Gesellschaft im Hinblick auf das Thema Autismus?
Die Wünsche, die ich habe, betreffen nicht nur Autist*innen, sondern alle von Diskriminierung und Marginalisierung betroffenen Menschen. Veränderung muss für uns alle geschehen, sonst geschieht sie für niemanden. Ich wünsche mir sehr, dass wir als Gesellschaft endlich akzeptieren, dass Menschen mehr als eine Art der Wahrnehmung haben. Ich wünsche mir, dass wir Marginalisierung als gesellschaftlich schädlichen und rückständigen Mechanismus erkennen, von dem wir uns wegentwickeln müssen. Dass wir den Platz für Menschen mit Behinderung in der Mitte der Gesellschaft sehen und das Inkludieren von Menschen jeder Art ein völlig normaler Vorgang ist. In Österreich wird sehr stark auf Behinderung herabgesehen, es ist den Menschen ein Bedürfnis, Parallelgesellschaften wie Heime und Werkstätten aufrecht zu erhalten und sich mit der jährlichen "Licht ins Dunkel"-Spende ein gutes Gewissen zu erkaufen. Das muss aufhören.

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