Wie Österreichs Schulen besser werden könnten

Für mehr als eine Million Kinder und Jugendliche sowie für über 100.000 Lehrpersonen beginnt wieder der Schulalltag. Und damit setzen auch die Debatten über Österreichs Bildungssystem wieder ein, das zwar finanziell gut ausgestattet, aber in vielen Hinsichten verbesserungswürdig ist. Ein Überblick über die größten Bildungsbaustellen.

von Ein Stuhl steht vor einem Gebäude. © Bild: Getty Images/Alan Powdrill 2009

LEHRERMANGEL - Ein hausgemachtes Problem

Vor zehn Jahren waren sich die damalige Unterrichtsministerin Claudia Schmied (SPÖ) und der damalige Wissenschaftsminister Karlheinz Töchterle (ÖVP) noch einig: Das neue Lehrerdienstrecht, das u.a. teils drastische Verlängerungen der Ausbildungszeiten vorsieht, sei ein "wichtiges Etappenziel" und "ein historischer Schritt". Rückblickend betrachtet stellt sich die Sache freilich anders dar. Österreich ist heute mit einem gravierenden Lehrermangel konfrontiert.

Und das hat viel mit der 2013 beschlossenen und 2015 in Kraft getretenen Reform der Lehrerinnen- und Lehrerbildung zu tun: Für Volks-und Mittelschullehrer hat sich dadurch die Ausbildungsdauer im Vergleich zu früher fast verdoppelt. Die Lehrkräfte können zwar gleich nach ihrem Bachelor-Abschluss zu unterrichten beginnen, müssen nebenbei aber ihr Masterstudium absolvieren. Damit stehen sie nicht als vollwertige Lehrpersonen zur Verfügung und sind außerdem der Doppelbelastung von Studium und Beruf ausgesetzt. In Kombination mit einer Pensionierungswelle, die nach neuesten Zahlen des Bildungsministeriums 2023 - und damit früher als erwartet - ihren Höhepunkt erreicht, eine fatale Gemengelage. Dazu kommen der allgemeine Arbeitskräftemangel und die Jahre der Coronapandemie, die viele Menschen nutzten, um sich beruflich neu zu orientieren.

Tiefere Gründe

Die Gründe für den Lehrermangel in Österreich reichen aber tiefer, und darüber sprechen Politikerinnen und Politiker nicht so gerne: Wer sich ein wenig an Österreichs Schulen umhört, weiß, dass der Beruf der Lehrerin und des Lehrers oft als anstrengend und undankbar erlebt wird. Lehrpersonen in Österreich sind mit großen Klassen konfrontiert, in denen Schülerinnen und Schüler mit ganz unterschiedlichen Voraussetzungen zusammenkommen. Sie haben zu viele organisatorische Aufgaben zu erledigen und damit zu wenig Zeit für ihr pädagogisches Kerngeschäft. Sie werden nicht in ausreichendem Ausmaß von Support-Personal -Schulsozialarbeit, Schulpsychologie etc. - unterstützt. Der Lehrermangel verstärkt den Druck auf das verbleibende Personal zusätzlich.

"Wer soll sich das noch antun?" ist eine Frage, die man oft hört, wenn man mit Lehrerinnen und Lehrern spricht. Gefolgt von der Beteuerung, dass es sich um einen wunderschönen Beruf handele. Dessen Ausübung aber eben bestimmte Rahmenbedingungen verlangt, die es derzeit nicht gibt.

Größere Schrauben

ÖVP-Bildungsminister Martin Polaschek versucht mit der Kampagne "Klasse Job", Quereinsteiger an die Schulen zu holen, den Lehrberuf bei Schulabsolventen stärker zu bewerben und "eine neue Erzählung von Schule" zu etablieren. Abgesehen davon ist er bemüht, den Lehrermangel als bewältigbar darzustellen - nur 200 Lehrkräfte würden derzeit fehlen, weniger als im Vorjahr. Nachhaltiger wäre es wahrscheinlich, an ein paar größeren Schrauben des Schulsystems zu drehen, um das Selbstwirksamkeitsgefühl der Lehrerinnen und Lehrer zu verbessern und ihren Beruf damit nachhaltig attraktiver zu gestalten.

• 200 Lehrkräfte fehlen zum Schulbeginn 2023, gab Bildungsminister Martin Polaschek Anfang August bekannt. Er setzt stark auf Quereinsteiger in den Lehrberuf
• 23.100 Wochenstunden an Pensionierungen sind 2023 allein in der Primarstufe zu erwarten. Die Angabe erfolgt in Stunden, weil nicht alle Lehrpersonen im selben Ausmaß arbeiten
• 600 zertifizierte Personen haben sich für eine Stelle an einer Schule beworben. Das sind Quereinsteiger, die ein passendes Studium, ein Online-Assessment sowie ein Gespräch absolviert haben

WENIG AUFSTIEGSMÖGLICHKEITEN - Bildung wird vererbt

Aus dem Vergleich mit anderen Industrienationen geht klar hervor, dass Schulleistungen in Österreich besonders stark vom sozioökonomischen Hintergrund abhängen. Heißt: Wer aus einem bildungsaffinen und finanzstarken Elternhaus stammt, hat sehr gute Chancen, den Bildungserfolg seiner Eltern zu wiederholen. Umgekehrt sieht es bei Aufstiegschancen von Kindern aus benachteiligten Haushalten eher schlecht aus. Die bestehenden Verhältnisse werden im Bildungssystem also festgeschrieben.

Ein Grund dafür ist die frühe Trennung der Bildungswege: Schon nach vier Jahren Volksschule entscheidet sich, ob ein Kind in die AHS oder die Mittelschule kommt. Dabei handelt es sich um eine Entscheidung mit weitreichenden Folgen. Denn um die Durchlässigkeit des Systems ist es ebenfalls nicht gut bestellt - wer einmal in der Mittelschule ist, kommt nicht mehr so leicht auf das Gleis Richtung Matura und damit Richtung Hochschulstudium. Zwei Drittel der Studienanfänger sind in Österreich Akademikerkinder.

Familiäre Unterstützung

Ein zweiter Punkt: Wer in Österreich durch die Schule kommen will, braucht in den allermeisten Fällen externe Unterstützung. Durch Nachhilfe oder zumindest durch Eltern oder andere Bezugspersonen, die helfen. Sei es bei der Referatsvorbereitung oder beim Vokabellernen. Wer auf beides nicht zurückgreifen kann, hat ein Problem. Das wurde während der Coronapandemie sehr deutlich: Studien zeigen, dass Kinder mit starkem familiärem Back-up verhältnismäßig gut durch die Jahre des Home-Schoolings kamen, während weniger gut unterstützte Kinder weiter den Anschluss verloren. Probleme übrigens, mit denen sich die Pädagoginnen und Pädagogen dieses Landes jetzt in den Klassenzimmern auseinanderzusetzen haben - die gemeinsame Wissensbasis der Kinder droht verloren zu gehen.

Dass Bildung eigentlich schon viel früher beginnt, ist in der Forschung unumstritten. Eine Forderung, um der Ungleichheit im österreichischen Bildungssystem zu begegnen, lautet also, alle Kinder mindestens zwei Jahre in einem qualitätsvollen Kindergarten auf die Schulzeit vorzubereiten. Derzeit gibt es nur ein verpflichtendes Kindergartenjahr, die Qualität ist aufgrund des verbreiteten Personalmangels nicht immer gewährleistet. Die Benachteiligung beginnt schon im Kindergartenalter: Manche Kinder können bereits lesen, wenn sie in die Volksschule kommen, andere wissen nicht einmal, wie man einen Stift richtig hält.

"Gleichmacherei"

In Österreich ist es parteipolitisch vermintes Gebiet, viele unabhängige Experten sind aber der Meinung, dass eine möglichst lange gemeinsame Schulzeit das Problem der Bildungsungleichheit in Österreich lindern würde. So werden in Bildungsvorzeigeländern wie Finnland oder Estland alle Schülerinnen und Schüler gemeinsam unterrichtet, bis sie 15 Jahre alt sind. Kritikerinnen und Kritiker der Gesamtschule befürchten, dass sie "Gleichmacherei" befördert und zu wenig auf individuelle Talente und Veranlagungen eingeht.

ORIENTIERUNG AM MITTELMASS - Wenig Förderung

Ob hochbegabt oder besonders leistungsschwach: Kinder und Jugendliche mit besonderen Bedürfnissen kommen in Österreichs Schulsystem oft zu kurz, trotz des Anspruchs, durch die frühe Trennung auf individuelle Förderung zu setzen. Tatsächlich ist aber Orientierung am Mittelmaß in Österreichs Klassenzimmern der Standard. Allein schon wegen der Überlastung der Lehrerinnen und Lehrer: Für individuelle Förderung bleibt oft schlicht keine Zeit; Unterstützungspersonal, das Defizite ausgleichen oder Exzellenz fördern könnte, wird wegen des herrschenden Lehrermangels abgebaut.

Dabei wäre Talenteförderung ein wichtiger Faktor, um den Wirtschaftsstandort Österreich zu stärken und dem herrschenden Fachkräftemangel zu begegnen. Kritiker monieren: Anstatt sich nur auf die Schwächen der Kinder und Jugendlichen zu konzentrieren und darauf, sie mit Ach und Krach auf die geforderten Niveaus zu bringen, sollte man lieber ihre Stärken in den Mittelpunkt stellen.

AUTONOMIE VERSUS ZENTRALISMUS - Lokale Kompetenz

Der Trend ist eindeutig: In Ländern, die in Bildungstests regelmäßig gut abschneiden, haben die einzelnen Schulen viel Handlungsspielraum. In Estland zum Beispiel können die Direktorinnen und Direktoren ihr Lehrpersonal selber anstellen und wieder kündigen. Auch die Lehrpläne sind teilweise autonom sowie die Notengebung - die Schulen entscheiden selbst, ob und ab wann sie Ziffernnoten vergeben. Zugleich ist Transparenz ein zentraler Faktor. Die Kennzahlen der Schulen sind öffentlich einsehbar, die Entscheidungen der Schulleitung damit nachvollziehbar.

Das österreichische Schulsystem dagegen leidet unter komplizierten Strukturen und einem schwer durchschaubaren Kompetenzwirrwarr zwischen Bund und Ländern. Der Handlungsspielraum der einzelnen Schulleiterinnen und Schulleiter ist begrenzt, und damit auch die Möglichkeiten, einzelne Schulstandorte nach regionalen Bedürfnissen zu gestalten. Dabei wäre mehr Schulautonomie nicht nur wichtig für die Qualitätssteigerung der Schulen, sondern auch ein Erfolgsrezept, um wieder mehr junge Menschen für den Lehrerberuf zu begeistern: weg vom (Mängel-)Verwalten, hin zum (Zukunft-)Gestalten.

Dieser Beitrag erschien ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 35/2023.