Die Stunden
zwischen den Sitzen

Was machen die Abgeordneten zwischen den Sitzungen? Sie haben oft 70-Stunden-Wochen

Keine Regierung, keine Sitzung: Der Nationalrat ist in Warteposition, bis ÖVP und FPÖ ihre Koalitionsverhandlungen abgeschlossen haben. Doch was machen die Abgeordneten eigentlich zwischen den Plenartagen?

von
Beruf Nationalrat - Die Stunden
zwischen den Sitzen

Was politikabstinente Bürgerinnen und Bürger vom Nationalrat mitbekommen: Alle paar Wochen Sitzung, viele Menschen -aber längst nicht alle 183 Abgeordneten harren mehr oder weniger aufmerksam auf ihren Plätzen aus. Einer oder eine spricht (nicht immer spannend, manchmal aber auch rhetorisch herausragend), manche brüllen dazwischen (nicht immer konstruktiv, manchmal aber auch nachvollziehbar). Schlaflose können in ORF III bei Übertragungen der Parlamentssitzungen spätnachts den Eindruck gewinnen: Parlamentarismus, das ist oft zähes Ringen -mit Themen, mit Materien, mit der Regierung, mit dem politischen Gegner und mit dem Schlaf.

Wenn nicht im Plenarsaal gesessen wird, regiert das Vorurteil, was die Arbeit der Parlamentarier betrifft. Verdienen viel, haben Privilegien, nicken eh nur ab, was die Regierung vorlegt, und: Was machen die eigentlich den ganzen Tag?

Dienstag, kurz nach neun Uhr, im niederösterreichischen Hollabrunn: Neos-Abgeordneter Nikolaus Scherak betritt ein Autohaus - nicht als Kunde, sondern um sich vom Chef Markus Hager schildern zu lassen, wo er die größten Probleme für Unternehmer in diesem Land sieht und was er sich von der Politik wünscht. Scherak macht solche Besuche regelmäßig, zumindest einmal die Woche, obwohl einander die Beschwerden gleichen und er deshalb wohl alle kennt. Was Autohändler Hager am Herzen liegt: dass die Politik viele große Worte, aber keine Strategie für die Elektromobilität findet; dass Unternehmer Schwierigkeiten haben, Kredite zu bekommen, während Start-ups von Investoren und Politikern hofiert werden; dass die Lohnnebenkosten das Anstellen eines zusätzlichen Mitarbeiters verhindern; dass die Zettelwirtschaft immer schlimmer wird. Und: "Warum setzen sich die Neos nicht dafür ein, dass Unternehmer, die in Schwierigkeiten gekommen sind, auch Arbeitslosengeld bekommen?" Scherak nickt: "Das nehmen wir mit." Und wirbt auch gleich für Indra Collini, die Spitzenkandidatin seiner Partei bei der Landtagswahl. Hager verspricht, eine der für das Wahlantreten bitter benötigten Unterstützungserklärungen zu liefern. Mission erfüllt.

»Nach zwei Tagen ist man körperlich fertig«

"Im Wahlkampf habe ich täglich drei solche Termine gemacht", erzählt Scherak später. Zwischen den Wahlen wird sein Terminkalender von vielen weiteren Dingen bestimmt: In der letzten Legislaturperiode arbeitete er in gut einem Dutzend Parlamentsausschüssen, als stellvertretender Klubobmann ist er für die Vorbereitungen der Plenarsitzungen, die Koordination des Klubs, die Verhandlungen in der Präsidiale zuständig. "Wirklich anstrengend sind die Plenartage. Ich bin immer im Saal: zuhören, zwischendurch Mails beantworten, komplexe Abänderungsanträge inhaltlich prüfen und Reden vorbereiten. An manchen Tagen komme ich auf acht Redebeiträge -und da will man ja keinen Unsinn verzapfen." Und am Ende sind es ganz banal die unbequemen Sitze im Plenarsaal, die zehren: "Nach zwei Tagen ist man körperlich fertig." Tagt das Parlament nicht, geht es weiter mit Wahlkreis-Terminen, drei, vier Abendveranstaltungen pro Woche sind auch einzuplanen. "Eine 40-Stunden-Woche ist vollkommen illusorisch, eher sind es 60 bis 70 Stunden."

Und dabei fällt bei ihm als Neos-Abgeordneten weg, was "typische Wahlkreisabgeordnete vom Land" auch noch absolvieren müssen: "Die sollen bei jeder Veranstaltung im Bezirk dabei sein, und Bürgermeister sind sie vielleicht auch noch."

Amt und Ehrenamt

Kai Jan Krainer, Budgetsprecher der SPÖ im Parlament, listet auf, was er vor dem Termin mit News schon alles im Kalender hatte: um 8.30 Uhr ein Treffen mit einem Unternehmer aus seinem Wahlkreis, dem 3. Wiener Gemeindebezirk; die Arbeit an parlamentarischen Anfragen, ein Mittagessen mit einem Richter am Bundesverwaltungsgericht, der ihm über die Probleme bei Asylverfahren berichtet hat. Was noch folgt: die Vorbereitung auf zwei Tage in Brüssel, wo es um Handelspolitik gehen wird, und eine Abendveranstaltung mit neuen Parteimitgliedern. "Normalerweise gibt's die einmal pro Jahr. Heuer ist es schon die vierte. Allein seit der Wahl sind 50 neue Mitglieder dazugekommen", erzählt der SPÖ-Mandatar. Am Freitag, zurück in Wien, steht Krainer hinter einem Punschstand der SPÖ-Landstraße, dessen Reinerlös an die Aidshilfe gehen wird. "Das mache ich jedes Jahr am Welt-Aids-Tag."

Zur Arbeit in Ausschüssen und im Plenum komme eben auch noch "Basispflege": die Demokratiewerkstatt des Parlaments, Führungen für Schülergruppen, Wahlkreisarbeit und Parteiarbeit. "Aber die sehe ich ehrenamtlich." Und: "Wenn du das oft und lange machst, kriegst du total das Gefühl dafür, wie die Wahl ausgehen wird."

Den Druck, wieder gewählt werden zu müssen? "Verdrängt man. Aber er ist da, auch weil man weiß, wie viele es nicht mehr schaffen -entweder durch die parteiinterne Vorauswahl oder das Wahlergebnis. Darum verstehe ich auch, warum viele Abgeordnete in ihren Berufen bleiben", sagt Krainer. "Du bist als Abgeordneter nicht pragmatisiert." Dennoch bekomme man für Bezüge oder deren Fortzahlung (für maximal zwölf Wochen nach dem Politikerdasein) oder die Rückkehr in den alten Beruf oft das Wort "Nehmer" entgegengeschmettert.

Doch das ist nicht das Einzige, was Krainer grübeln lässt. Nach 15 Jahren im Parlament ist es auch die Erkenntnis: "Demokratie hat nichts mit Recht-Bekommen zu tun, sondern mit Mehrheit." Darum sei Disziplin in den Abgeordnetenreihen oft gefragt. Aber: "Zweifel hast du oft. Darum ist es immer wichtig, dass alle wissen: Was heißt das, was die da beschließen?"

Burnout und Politik

Der Sozialpsychologe Andreas Olbrich- Baumann hat in einer Studie Abgeordnete schon 2004 nach ihrem Arbeitspensum befragt. Das Ergebnis: Mandatare kommen auf eine durchschnittliche Wochenarbeitszeit von 63,64 Stunden und eine Tagesarbeitszeit von elf Stunden. Freizeit: nicht einmal zwei Stunden pro Tag. 60 Prozent fühlen sich ausgebrannt. Stichwort Burnout. Sie berichten über stressbedingte Beschwerden wie Muskelverspannungen, Rücken- oder Kopfschmerzen, Schlafstörungen. Fast jeder Zweite hat fast täglich starke Schmerzen, jeder fünfte Politiker schluckt täglich Medikamente. Allerdings: Alle befragten Bundes-und Landespolitiker sagten, sie waren in den letzten zwölf Monaten trotz Krankheiten kein einziges Mal im Krankenstand.