Leitartikel
Der arme Martin
und die anderen
Europaweit sind die einst stolzen Sozialdemokraten nur noch Schatten ihrer selbst. Dabei gäbe es einen Ausweg
Er konnte einem richtig leidtun. All die Tage, Wochen und Monate eines kaum endenden Wahlkampfs. Martin Schulz, das letzte Aufgebot der deutschen Sozialdemokratie, rannte, schrie und schwitzte beim Versuch, Angela Merkel als Kanzlerin abzulösen. Ganz am Beginn, als er im Jänner die Partei übernahm, liebten ihn die Leute. Vielleicht einfach, weil er der Neue war. Der, den nur Beobachter Brüssels kannten, wo er EU-Parlamentspräsident war. Den anderen erschien er als einer der letzten aufrechten Genossen. Der Martin, Freund der Basis, Feind der Bosse. Je länger er dann da war, desto mehr schwand sein Glanz. Berater und Partei verbogen ihn, rieten ihm mal dies, dann das und lagen mit dem meisten falsch. Am Ende wurde er zum 20-Prozent-Mann, der selbst einer Merkel im freien Fall nicht das Wasser reichte. Als er ihr am Wahlabend vor laufenden Kameras patzig ins Gesicht sagte, für eine Koalition nicht mehr zur Verfügung zu stehen, war Schulz nach Langem wieder mal er selbst. Und jetzt, wo er sich schon als Phönix in der Opposition aufsteigen sah, soll der Arme Merkel die Kanzlerschaft retten. Mit seiner SPD zum dritten Mal in eine gar nicht mehr so große Koalition einsteigen, in der seine Partei jedes Mal Federn ließ. Tat einem Schulz schon im Wahlkampf richtig leid, ist der Grad an Selbstverbiegung, der ihm nun abverlangt würde, einfach zu groß. Schulz ist ein Gefühlsmensch. Aus dem Bauch heraus spürte er, dass eine Neuauflage der Koalition mit der "Ideenstaubsaugerin Merkel", wie er sie nannte, das Ende seiner SPD einläuten würde.