Europas Schicksalsmoment

Referendum in Katalonien

von Christoph Lehermayr © Bild: News/Ian Ehm

Vor dem vergangenen Sonntag mag die Katalonien-Frage ein Thema für einschlägig Interessierte gewesen sein. Triftige Gründe, die Anliegen der dortigen Separatisten zu unterstützen, gab es kaum. Verfügte doch Katalonien schon bisher über weitreichende Autonomierechte, von der eigenen Polizei bis hin zu einer von Madrid unabhängigen Bildungs-, Gesundheits- und Wirtschaftspolitik. Katalanisch ist neben Spanisch gleichberechtigte Amtssprache. Unterdrückt oder gar verfolgt werden die Katalanen also nicht -und nur das wäre, dem Völkerrecht folgend, Grund genug, sich ohne Zustimmung des Mutterlands abzuspalten. Weshalb Umfragen wohl auch nie eine Mehrheit für eine Unabhängigkeit ergaben.

Doch all diese Überlegungen scheinen seit Sonntag Makulatur. Denn da zeigte der spanische Staat seine hässliche Fratze. Von Madrid entsandte Paramilitärs, die prügelnd ein Referendum verhindern wollten, machten den Unterschied. Was in und um Barcelona passierte, erinnert an Bilder aus autoritären Systemen, geschah aber im Herzen Europas. Als Polizisten Passanten niederknüppelten, als sie Frauen von Stiegen stießen und sich helfenden katalanischen Feuerwehrleuten in den Weg stellten, in all diesen Momenten starb Spanien. Ein Spanien, das nicht auf Entspannung, sondern auf Eskalation setzte und so erst den Nationalisten zu deren größtem Sieg verhalf. Und der liegt, zynisch formuliert, in diesen Bildern und nicht etwa im Ergebnis des illegalen Referendums. Spaniens Premier Rajoy glaubte tatsächlich, mit Aussitzen und Draufhauen Erfolg zu haben. In Wahrheit trieb er erst damit selbst spanienfreundlichere Katalanen näher zu den Separatisten.

Anstatt aber in der Eskalation den vielleicht letzten Weckruf vor dem Fanal zu sehen, rasen beide Seiten weiter wie Schnellzüge ungehindert aufeinander zu. Es ist, und das übersehen viele, ein europäischer Schicksalsmoment. Eine Gemengelage, die bis zu einem Bürgerkrieg führen kann. Ein Szenario, das Folgewirkungen nicht nur auf den Rest Spaniens zu entfalten vermag, sondern auf separatistische Strömungen in ganz Europa, von Belgien bis zum Balkan. Die Büchse der Pandora wäre geöffnet und keinem geholfen. Sowohl Spaniens uneinsichtiger und unnachgiebiger Premier Rajoy als auch sein Gegenüber, der separatistische Scharfmacher Puigdemont, handeln in gröbstem Maße unverantwortlich.

Umso verwerflicher ist es, dass die EU, als einzige Instanz, die vermitteln könnte, nur unverfängliche Statements abgibt. Die Zeit des Schweigens und Wegschauens ist aber vorbei. Es braucht einen ehrlichen Makler, bevor ein Flächenbrand entsteht. Ob die EU 2012 zurecht den Nobelpreis für ihren "Kampf für Frieden und Versöhnung" erhielt, zeigt sich genau in diesem Moment.

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