Eine neue Studie zeigt: Für Ukrainer:innen, die vor dem Krieg flüchten mussten, sind gute Jobchancen und hohe Einkommen bei der Wahl des Ziellandes deutlich wichtiger als Sozialleistungen. Die Erkenntnisse stellen gängige Annahmen über sogenannte „Pull-Faktoren“ auf den Prüfstand.
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Der Angriffskrieg auf die Ukraine hat bis Ende Dezember 2024 rund fünf Mio. Menschen in verschiedene europäische Länder flüchten lassen. In Österreich leben laut Statistik Austria-Angaben aktuell rund 88.000 Ukrainer und Ukrainerinnen. In einer Studie im Fachblatt PNAS hat ein Forschungsteam nun untersucht, was diese Geflüchteten-Gruppe am ehesten zum erneuten Umsiedeln bewegen würde. Demnach sind Jobaussichten und Verdienstmöglichkeiten wichtiger als Sozialleistungen.
In einem erstaunlich rasch gesetzten Schritt wenige Tage nach Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine im Frühjahr 2022 hat die EU erstmals in ihrer Geschichte einer Flüchtlingsgruppe mehr oder weniger das Recht erteilt, in einem EU-Land ihrer Wahl um temporären Schutz anzusuchen. Damit müssen Ukrainerinnen und Ukrainer nicht die sonst üblichen Asylverfahren durchlaufen. Das wiederum macht sie zu einer Gruppe, die für die Migrationsforschung besonders interessant ist, wie das Team um den Erstautor der Untersuchung, Joop Adema, der seit heuer an der Universität Innsbruck arbeitet, in seiner Publikation schreibt.
Wenig Wissen über Rolle von Sozialleistungen als Pull-Faktor
Gerade die Rolle von Sozialleistungen als Faktoren für die Wahl eines Flucht-Ziellandes wird seit vielen Jahren nicht nur in Österreich höchst kontrovers diskutiert – wissenschaftlich belastbare Daten dazu seien allerdings erstaunlich rar, heißt es in der Arbeit. Tatsächlich sei die Rolle von verschieden gestalteten Sozialleistungen auf die Größe und Zusammensetzung von Flüchtlingsströmen noch weitestgehend ungeklärt.
Adema und Kolleginnen und Kollegen haben in der an der federführend vom Münchner Zentrum für Migration und Entwicklungsökonomik (ifo) aus durchgeführten Untersuchung in zwei Erhebungswellen über 3.300 geflüchtete Ukrainerinnen und Ukrainer in verschiedensten EU-Ländern, aber auch Norwegen oder der Schweiz einer Art Experiment ausgesetzt: Sie sollten zwischen zwei hypothetischen Ländern wählen, die sich hinsichtlich Entfernung zur Ukraine, Anwesenheit von Familie und Freunden, hypothetischen Kenntnissen der dortigen Sprache, der Möglichkeiten zum Finden eines Jobs, der der eigenen Qualifikation entspricht, dem Durchschnittseinkommen, sowie hinsichtlich der dort ausbezahlten Sozial- und Familienbeihilfen und Wohnkosten unterscheiden. Diese Faktoren wurden systematisch variiert. Alle Teilnehmer sollten entscheiden, wohin sie am ehesten weiterreisen würden.
Fragezeichen zur Wirkung von Kürzungen
„Wir haben herausgefunden, dass Arbeitsmöglichkeiten ein viel stärkerer Treiber für die Zielland-Wahl als Sozialhilfen sind“, schreiben die Wissenschafterinnen und Wissenschafter in ihrer Arbeit. Man sehe, „dass Lohnunterschiede eine fast vier Mal stärkere Rolle bei der Wahl des Ziellands von ukrainischen Geflüchteten spielen als Unterschiede in Sozialleistungen. Das heißt natürlich nicht, dass Sozialleistungen keine Rolle spielen“, wird ifo-Leiter Panu Poutvaara in einer Aussendung zitiert. Neben den Jobaussichten und guten Verdienstmöglichkeiten machen vor allem auch vorhandene Familien- oder Freundesnetzwerke und Kenntnisse über die Sprache vor Ort ein Zielland attraktiver.
Dass all das weit anziehender wirkte als in Aussicht stehende Sozialleistungen, lasse einen auch daran zweifeln, dass Kürzungen dieser Leistungen für Geflüchtete ein Land quasi signifikant vor Zuzug schützt. Und: „Staatliche Hilfe zu kürzen, könnte sich auch langfristig negativ auf die Integration auswirken“, so Co-Autorin Yvonne Giesing.
Umlegbarkeit auf andere Geflüchteten-Gruppen eher offen
Insgesamt hält das Team die von ihnen gefundenen Zusammenhänge prinzipiell auch auf andere Flüchtlingsgruppen umlegbar. Sie räumen allerdings ein, dass ukrainische Vertriebene im Schnitt ein höheres Bildungsniveau aufweisen als andere Flüchtlingsgruppen und ihnen daher Arbeitsmarktchancen tendenziell wichtiger sein könnten. Tatsächlich beobachteten die Forschenden auch, dass ukrainische Bürgerinnen und Bürger, denen Job-Aussichten und Sprachkenntnisse wichtiger sind, auch häufiger in Staaten lebten, die sozusagen besser zu diesen Werten passten.