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Militärexperte Markus Reisner: „Wir sollten es nicht so weit kommen lassen, dass es Opfer geben muss“

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21 min

Markus Reisner

©Matt Observe

Putin hat alle Zeit der Welt, einen möglichst hohen Preis für das Ende des Kriegs in der Ukraine herauszuverhandeln, erklärt der Militärexperte Oberst Markus Reisner. Und er warnt: Österreich ist nicht so sicher, wie es sich fühlt. Die Lage mitten in Europa sei prekär, das Bewusstsein für die Bedrohungslage unterentwickelt. Und dass uns jemand rettet, falls wirklich etwas passiert – unwahrscheinlich.

Derzeit verhandeln ­Russland und die USA über die Zukunft der Ukraine. Putin sei bereit, direkt zu verhandeln, hieß es zuletzt. Was ist davon zu halten?

Lassen Sie mich ganz kurz ausholen und ein Resümee der drei Monate Präsidentschaft Trump darstellen. Das ist ganz entscheidend. Der Krieg in der ­Ukraine muss immer auf der strategischen, der operativen und der taktischen Ebene ­betrachtet werden. Und das vermischen wir oft aus meiner Sicht. Auf der strategischen Ebene geht es um die Frage, wie dieser Konflikt mittel- oder langfristig enden wird. Zugunsten der Ukraine oder zugunsten Russlands? Eine mögliche Verhandlung ist wie ein Pokerspiel. Die beiden ­Kontrahenten sitzen einander gegenüber, jeder hat ein Kartenblatt, und die Frage ist, wer als Erster zuckt, also wer zu erkennen gibt, dass er die schlech­teren Karten hat. Wer hat in diesem Pokerspiel zwischen Trump und Putin als Erster gezuckt? Trump. Weil er faktisch zu erkennen gegeben hat, dass er diesen Konflikt möglichst rasch beenden möchte.

Die Ukraine, immerhin betroffen, spielt in diesem Pokerspiel der Mächtigen gar nicht mit?

Weder die Europäer noch die Ukrainer spielen noch mit. Und Putin hat das Momentum auf seiner Seite, weil er jetzt den Preis bestimmen kann, um den dieser Krieg beendet wird. Und er hat alle Zeit der Welt.

Wie hoch wird der Preis sein?

Man sieht, dass Putin weiter auf Zeit spielt. Mittlerweile steht ja im Raum, dass die Ukraine 20 Prozent ihres Territoriums zumindest temporär verliert. Ich glaube aber, dass Putins Preis noch viel höher ist. Wenn Russland für die Zukunft ausschließen möchte, dass Moskau unmittelbar durch weitreichende Waffen oder Drohnen bedroht wird, muss es das gesamte Gebiet östlich des Dnepr be­herrschen. Entweder durch die Präsenz eigener Soldaten oder im Rahmen eines Waffenstillstands, der durch russlandfreundliche Truppen überwacht wird. Putin hat nach wie vor das Maximalziel vor Augen, also die Zerstörung der ­Ukraine als staatliches Gebilde und eine Aufteilung zugunsten Russlands.

Es gibt Stimmen, die sagen: „Gebt ihm halt die Ostukraine, damit endlich Ruhe ist und der Konflikt sich nicht weiter ausbreitet.“

Wenn Putin damit durchkommt, dann hat der Westen gezeigt, dass er nicht bereit ist, für die Ukraine bis zum Äußersten zu gehen. Und wenn er nicht bereit ist, das zu tun, selbst wenn es die europäische Sicherheitsarchitektur unmittelbar betrifft, was heißt das dann für andere Länder? Für China und Taiwan? Oder wenn die Türkei sagt, über Zypern müssen wir jetzt auch noch reden? Dann kann jeder machen, was er will. Und das völkerrechtliche Regelwerk, das wir uns nach Ende des Zweiten Weltkriegs gegeben haben, interessiert keinen mehr.

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 © Bild: Matt Observe

Viele verstehen nicht, dass die Ukraine nur ein Phänomen einer viel größeren Auseinandersetzung ist

Markus Reisner

Nur wegen der Frage, wie sich die USA und Europa in der Ukraine verhalten?

Viele verstehen nicht, dass die Ukraine nur ein Phänomen einer viel größeren Auseinandersetzung ist. Und zwar der Auseinandersetzung zwischen dem globalen Norden, dem, was wir früher als die Erste Welt bezeichnet haben, und dem globalen Süden, der Zweiten und Dritten Welt. Die Ukraine bzw. Osteuropa oder die Situation im Pazifikraum, das sind Reibepunkte, die das sichtbar machen. Russland führt diesen Krieg nicht alleine, sondern mit Unterstützung von China, Indien, Nordkorea und dem Iran. Und das ist keine Kleinigkeit. Alleine Nordkorea hat in den letzten beiden Jahren jeweils drei Millionen Artilleriegranaten an Russland geliefert. Hinzu kommen Soldaten. Die erfolgreichsten Waffen auf dem ­Gefechtsfeld sind derzeit First-Person-View-­Drohnen, die glasfaserdrahtgesteuert werden. Die Chinesen liefern im großen Stil Wickelmaschinen an die Russen, damit die diese Drähte wickeln können. Das ist aus meiner Sicht eine klare Beteiligung im Sinne einer ­Unterstützung Russlands.

Wenn der Westen die Ukraine aufgibt, welche konkreten Folgen könnte das haben?

Es gibt keine Antwort darauf, in welche Richtung sich das gerade entwickelt. Historiker werden uns in zehn, 15 Jahren erklären, warum es gekommen ist, wie es gekommen ist. Aber man sieht die zunehmenden Reibungspunkte in vielen Bereichen. China zum Beispiel hat eigentlich kein Interesse daran, dass die USA sich von der Ukraine-Krise abwenden, weil es dann selbst in Trumps Fokus gerät. Also versucht ­China, diesen Krieg am Laufen zu halten, auch wenn das offiziell natürlich nicht gesagt wird. Es geht bereits um eine Neuaufteilung der Welt. Die Welt wurde nach Ende des Zweiten Weltkrieges in zwei Blöcke aufgeteilt und dann faktisch unipolar geführt, nämlich durch die USA, Gewinner des Kalten Kriegs. Jetzt ordnet sich die Welt gerade wieder neu. Und die sogenannte Zweite und Dritte Welt, jene Regionen, für die wir zu Weihnachten oft gespendet ­haben, sind mittlerweile in der Lage, sehr, sehr präsent und voll Selbstvertrauen aufzutreten.

Wie kann die Rolle Europas in dieser schwierigen Situation aussehen?

Wir müssen unsere Sicherheitspolitik in eigene Hände nehmen. Wir brauchen ein emanzipiertes Verhältnis zu den USA, was aber nicht heißt, dass die transatlantische Partnerschaft für die nächsten Jahrzehnte gefährdet ist, weil sie alter­nativlos ist. Und man braucht auch ein ehrliches Verhältnis zu Russland. Was auch immer das in letzter Konsequenz bedeutet. Was aber nicht passieren darf, ist, dass Russland – und damit auch der globale Süden – das Gefühl hat, mit dem Angriff auf die Ukraine durchzukommen.

Es gab zuletzt Anzeichen dafür, dass das Problem ernst genommen und mehr in Sicherheit investiert wird. Reicht das aus?

Wenn man es historisch betrachtet, sieht man, dass erst die Betroffenheit Menschen dazu bewegt, Dinge wirklich ernst zu nehmen und nachhaltig zu verändern. Wir haben die Situation, dass an der Peripherie Europas ein schrecklicher Krieg tobt. Da werden Menschen in Stücke gerissen, die verrecken dort. Das ist schlimmer, als wir uns das jemals vorstellen konnten. Der Krieg ist nicht präziser, autonomer oder sonst was geworden, er ist nur schlimmer geworden. Europa sagt: „Wir haben ein ungutes Gefühl, man muss etwas tun“, aber wirklich dazu durchringen kann man sich nach wie vor nicht. Wir sehen zwar, dass Europa militärisch einiges geliefert hat, man hat aber zum Beispiel nicht begonnen, die leeren Lager wieder nachzufüllen oder die Waffensysteme, die man in die Ukraine geliefert hat, neu zu produzieren. Vor zwei Jahren konnte man in der Financial Times lesen, dass Europa und die Nato hier konkret nur in der Lage sind, fünf Prozent ihres Luftraums zu schützen. Fünf Prozent! Warum soll uns Russland da ernst nehmen?

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 © Matt Observe

Es muss noch Ärgeres passieren, damit Europa in die Gänge kommt?

Es geht uns zu gut. Die Menschen sind nur bereit, Veränderung umzusetzen, wenn sie betroffen sind. Wir sollten es aber nicht so weit kommen lassen, dass es Opfer geben muss, damit sich etwas verändert, sondern vorausschauend Handlungen setzen. Und das versucht man ja jetzt auch gerade zu tun. Russland reagiert darauf im Informationsraum, durch eine Spaltung der Gesellschaft, durch das Streuen von Neid und Missgunst, um diese Einigkeit zu verhindern. Das große Problem ist, dass Staaten heute die Deutungshoheit verlieren. Und damit auch die Vertreter der öffentlichen Institutionen. Man sagt: „Ich glaube dem Kanzler nicht mehr, der will uns nur verwirren. Aber ich habe auf You­Tube eine Erklärung gefunden, die war viel logischer für mich.“ Und genau dort setzt Russland an. Es versucht, diese Schwäche unserer Gesellschaft auszunützen, noch dazu mit den digitalen Möglichkeiten des 21. Jahrhunderts.

Die Wahrscheinlichkeit, dass russische Truppen nach Berlin marschieren, ist eher gering, aber der hybride Krieg ist schon voll im Gang?

Eine Einigung Europas wäre für Russland das Schlimmste. Man macht also das Gleiche, was die Sowjetunion in den 60er-, 70er- und 80er-Jahren gemacht hat, als die Friedensbewegung maßgeblich von sowjetischer Seite angesteuert wurde. Bei den Sowjets waren das „indirekte Strategien“, heute spricht man von hybrider Kriegsführung, aber das Prinzip ist gleich geblieben. Wir haben zum Beispiel die Situation, dass sogenannte Wegwerfagenten eingesetzt werden, Personen, die über Telegram rekrutiert werden, um einzelne Sabotage- oder Spionageakte auszuführen. Und das ist nur ein Beispiel. Krieg wird in verschiedenen Domänen geführt, unter anderem auch im Cyberraum. Und im Moment ist es so, dass Russland sich im Informa­tionsraum in unseren Gesellschaften austobt und wir eigentlich kaum Widerstand dagegen leisten. Das Ergebnis ­sehen Sie dann bei demokratischen Wahlen, wo plötzlich prorussische ­Parteien gewinnen.

Befinden wir uns also schon in einer Art von Krieg?

Wir befinden uns in diesem hybriden Krieg. Das hat ja auch das Bundesheer in seinem Risikobild dieses Jahr sehr drastisch zum Ausdruck gebracht. Viele der verwendeten Verfahren stammen aus der Zeit der Sowjetunion und sind bis heute gültig. Der Angriff erfolgt in mehreren Phasen. Am Anfang steht die hybride Kriegsführung, am Ende die offensive Handlung. Bei der Ukraine kann man ­diesen Ablauf genau nachvollziehen.

Könnte man diese Eskalationsstufen auch auf den Rest Europas übertragen? Zuerst Destabilisierung, dann irgendwann tatsächlich Angriff?

So ist es. Wir befinden uns am Anfang, beim Übergang von der Phase der Demoralisierung zur Destabilisierung. Es werden zum Beispiel Flüchtlinge nach Belarus eingeflogen und dann gezielt zur polnischen Grenze hinübergeschickt. Ich würde sogar behaupten – aber das ist jetzt eine unbewiesene ­Unterstellung –, dass wir auch gewisse Verbindungen herstellen könnten, wenn wir uns gewisse Attentate in Europa genauer anschauen würden.

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Trump und Selenskyj, nach dem Papstbegräbnis ins Gespräch vertieft. Putin hat indes alle Zeit der Welt für einen Frieden nach seinem Geschmack.

 © AFP/Picturedesk.com

Das führt zu der Frage: Was kann man tun dagegen? Müssen wir in den Medien mehr darüber reden?

Ich finde, wir haben in Österreich ein sehr gutes Programm, was das betrifft. Aber es ist schwierig, ich erlebe das auch regelmäßigen in Diskussionen. Wir haben in Österreich eine sehr prorussische Bevölkerung, die wenig bereit ist, anderen Ländern zuzugestehen, dass sie auch ihre Meinung haben. Dabei müsste gerade in Ostösterreich nach zehn Jahren ­Besatzungspolitik mehr Klarheit darüber herrschen, dass das, was die Polen, die Ungarn, die Bulgaren, die Rumänen, die Tschechen, die Slowaken erlebt haben, keine einfache Zeit war. Wir haben die österreichische Sicherheitsstrategie, in der sehr eindeutig formuliert ist, dass wir nicht einfach danebenstehen können, wenn das Völkerrecht gebrochen wird. Vor allem als neutrales Land, wo wir eigentlich wissen müssten, dass wir auch nur dann neutral sein können, wenn alle anderen das auch so anerkennen. Das Problem ist dieses typisch österreichische Denken: Wenn irgendwo was passiert, helfen wir nicht, aber wenn uns was passiert, wird schon wer kommen.

Ist Österreichs Neutralität noch zeitgemäß?

Die Neutralität ist das Ergebnis eines historischen Prozesses, an dessen Ende immer noch das Gefühl steht, dass die Neutralität uns quasi geschützt hat. ­Diese Diskussion ist mit dem Überfall der Russen auf die Ukraine schon in Gang gekommen. Aber es ist schwierig, sie grundsätzlich zu führen, weil die Betroffenheit der Menschen zu gering ist. Das wird sich erst ändern, wenn diese Betroffenheit zunimmt. Dann kann aber aus meiner Sicht alles sehr, sehr schnell gehen. Stellen Sie sich vor, es kommt wirklich zu einem Angriff auf den europäischen Infrastrukturknotenpunkt ­Österreich, weil Russland im Ernstfall wahrscheinlich nicht das hoch gesi­cherte Brüssel, sondern das schwächste Glied der Kette angreift, womit wir beispielsweise bei uns wären. Dann werden die Österreicher die Ersten sein, die ­sagen: „Um Gottes willen, wir armen Leute, man muss uns helfen.“ Und wenn es dann notwendig sein wird, der Nato beizutreten, werden wir es auch tun.

Die Österreicherinnen und Österreicher fühlen sich sehr sicher. Wird uns jemand retten, wenn etwas passiert?

Aus jetziger Sicht? Nein. Warum auch? Auf welcher Grundlage? Das sehen wir ja so schön jetzt in der Diskussion in der Ukraine. Auch das zeigt ja wieder, wie nebulös und nebensächlich wir geworden sind. Über diese Friedenstruppe, die in der Ukraine stationiert werden soll, wird viel diskutiert, es gibt ständig Treffen in Paris, London oder sonst irgendwo. Aber am Ende des Tages steht immer in der Fußnote: „Ja, also wir wären schon bereit, aber wir brauchten bitte die USA.“ Das heißt, ohne die USA als zuverlässiger Partner ist das alles nichts wert.

Österreich ist so schutzlos, wie seine Bevölkerung bereit ist, es schutzlos sein zu lassen

Markus Reisner

Ist Österreichs Lage mitten in Europa ein Problem?

Wenn es jetzt zum Beispiel zu einem ­Angriff auf die kritische Infrastruktur Deutschlands käme mit einem Blackout, hört der ja nicht bei uns an der Grenze auf. Oder wenn es zu einem Angriff mit Marschflugkörpern kommt, die fliegen nicht um Österreich herum.

Wie schutzlos ist Österreich, ist Europa?

Österreich ist so schutzlos, wie die Bevölkerung bereit ist, es schutzlos sein zu lassen. Momentan passiert schon einiges, das in die richtige Richtung geht. Wir haben zum Beispiel mit dem Risikobild eine klare Analyse unserer Umgebung, was das sicherheitspolitische ­Umfeld betrifft. Wir haben mit dem Aufbauplan des Bundesheers wirklich einen Plan, wie man in der Lage sein kann, gemäß der Verfassung dieses Land zu schützen.

In Deutschland werden Szenarien diskutiert, wonach Russland schon im Herbst einen Angriff auf das Baltikum durchführen könnte. Realistisch?

Ich bezeichne diese Situation immer als Schrödingers Russland. Wir hören auf der einen Seite immer, dass die Russen völlig unfähig sind, und auf der anderen Seite, dass sie uns in 20, 15, zehn oder drei Jahren angreifen werden. Wie passt das zusammen? Das eine ist eine Maßnahme der Informationskriegsführung, wo es darum geht, den Unterstützten zu überhöhen und den anderen herunterzumachen. Und das andere ist der Realismus hinsichtlich der geschwächten Fähigkeiten der eigenen Streitkräfte, der zunehmend um sich greift. Wir sollten es der Bevölkerung auch langsam sagen, damit sie versteht, dass es notwendig ist, zum Zwecke der Abschreckung nachzurüsten. Um eben nicht kämpfen zu müssen.

Dient das erwähnte Szenario vor allem dazu, die Bevölkerung wach­zurütteln, oder könnte es wirklich stattfinden?

Niemand kann genau sagen, was passieren wird. Es gibt keine Antwort darauf. Was wir erleben, ist Geschichte. Ich bin darauf trainiert, in Varianten zu denken. Was ist die gefährlichste und was ist die wahrscheinlichste Variante? Darauf muss ich mich vorbereiten, und erst dann kann ich beruhigt schlafen gehen. Stellen Sie sich vor, Sie gehen aus dem Haus hinaus und sehen am Himmel schwarze Wolken. Dann besorgen Sie sich einen Regenschirm, und wenn Sie Ihre Kinder auf einen Schulausflug schicken, geben Sie ihnen Regenmäntel mit. Das ist Vorbereitung. Vielleicht zieht das Gewitter ja vorbei. Aber einfach nur zu sagen: „Na ja, es wird schon nicht regnen“, wäre falsch. Es ist an der Zeit, die schwarzen Wolken am Himmel zu akzeptieren. Das ist der erste Schritt zur Resilienz.

Hinweis: Das Interview wurde geführt, bevor die USA und die Ukraine ihr Rohstoffabkommen beschlossen haben.

Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 18/25 erschienen.

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