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Trotz des brisanten Themas blieben Störaktionen aus. Einzig eine Aktivistin in der ersten Reihe des dicht gedrängten Publikums hielt Plakate hoch, auf denen sie eine "Reform des Staatsbürgerschaftsrechts" forderte und, passend zu der auf englisch gehaltenen Rede, die Lea Ypi salopp mit "Hi Vienna, hello Europe!" eröffnete, festhielt: "Austria is not a democracy if we can't vote".
Ypi weiß, wovon sie redet. Die 1979 in Tirana geborene Professorin für Politische Theorie an der London School of Economics hat in ihrem in mehr als 35 Sprachen übersetzten und 2022 auch auf Deutsch erschienen Buch "Frei. Erwachsenwerden am Ende der Geschichte" über ihre Kindheit in Albanien in der Endphase des Kommunismus geschrieben. In ihrer Rede nahm sie auch Bezug auf jene dramatische Wende, die sie miterlebte - als "gute" Migranten aus einem Land, das sie an der Ausreise hindern wollte, nach dem Umbruch und der Öffnung der Grenzen plötzlich zu "bösen" Flüchtlingen wurden, die im Westen nicht mehr einreisen durften. "Beinahe über Nacht erkannte der Staat das Recht auf Ausreise an. Und doch mussten Menschen erfahren, dass es nicht ausreichte, über einen Pass zu verfügen. (...) Plötzlich waren alle Einschränkungen unserer Bewegungsfreiheit nicht mehr von unserem eigenen Staat, sondern von außen auferlegte."
Die von der Erste Stiftung initiierte "Rede an Europa" soll eine grundsätzliche Reflexion über Gegenwart und Zukunft des Kontinents liefern. Bisher kamen Timothy Snyder (2019), Oleksandra Matwijtschuk (2023) und Omri Boehm (2024) der Einladung nach. Lea Ypi nahm in ihrer Rede Bezug auf die beiden Denkmäler vor und hinter ihr: die Statue des Aufklärers Gotthold Ephraim Lessing und das von Rachel Whiteread als inverse Bibliothek geschaffene Holocaust-Mahnmal. Lessings "Nathan der Weise" sei "ein guter Migrant. Erstens, weil er die Gesetze der Länder, die er besucht, achtet. Zweitens, weil er wohlhabend ist. Und drittens, weil er nicht versucht, sich anderswo niederzulassen und schlussendlich, wenn auch nach langer Zeit, wieder nach Hause zurückkehrt."
Harte Kritik übte Ypi an der auf Abschottung setzende Migrationspolitik des Westens: "Grenzposten, Streifenboote, die Festnahme und Unterdrückung von Migrant:innen, die einst von den westlichen liberalen Staaten verurteilt worden waren, sind in denselben Staaten mittlerweile zu einer gängigen Praxis geworden. Sie werden nicht nur toleriert, sondern als Zeichen der Stärke gefeiert. Der Westen hat ein System perfektioniert, das die Verwundbarsten ausgrenzt und die Qualifizierten anzieht, während er gleichzeitig Grenzen verteidigt, um 'unsere Lebensweise' zu schützen. Doch diejenigen, die in den Westen einwandern wollten, taten dies, weil sie eben diese Lebensweise attraktiv fanden. Nicht nur stellten sie keine Gefahr für das System dar, sie waren dessen eifrigste Verfechter."
Ein "System der selektiven Immigration", das zwischen nützlichen und unnützen Migranten unterscheide, fördere Ungleichheit und Ausbeutung, so Ypi. "Mit der Migration als Problem abzurechnen, bedeutet, zu verstehen, dass sie kein Problem an sich darstellt. Es bedeutet, zu verstehen, wie gefährlich es ist, die Rede von Migration als Problem im politischen Diskurs zu normalisieren." Zahlen belegten, dass Migrationsströme insgesamt nicht zugenommen hätten und Migrantinnen und Migranten wertvolle Beiträge in ihren Aufnahmeländern lieferten. "Migrant:innen wirken dem demografischen Wandel entgegen, zahlen in die sozialen Sicherungssysteme ein und unterstützen ihre Aufnahmegesellschaften. Ja, sogar irreguläre Migrant:innen tun dies, sofern ihnen die Möglichkeit der Legalisierung offensteht. Und natürlich stimmt folgendes: Wenn es leicht zugängliche Visa gäbe, würde so etwas wie irreguläre Migration gar nicht existieren."
Das politische Problem sei, dass der Migrationsdiskurs der Rechten überlassen werde und liberale Gesellschaften an vielen Fronten versagten, etwa in der "immer größer werdenden Kluft zwischen Repräsentierenden und den Repräsentierten", in der Frage der sozialen Gerechtigkeit und der Unfähigkeit, eine alternative Vision zur herrschenden Weltordnung zu entwerfen - um nur drei Punkte herauszugreifen ("Ich könnte auch 30 nennen."). Migration sei nicht die Quelle des Problems, "sondern lediglich das Symptom einer Krise", so Lea Ypi. Während in vielen Staaten die Hürden für den Erwerb von Staatsbürgerschaften für die ärmsten Schichten erhöht wurden, seien diese in vielen Staaten für Superreiche ganz einfach käuflich erwerbbar. So werde Demokratie zu einer Form der Oligarchie und "die Staatsbürgerschaft von einem Instrument der politischen Emanzipation zu einem Instrument der Unterdrückung".
Die derzeit feststellbare zunehmende Abkehr vom Geist der Aufklärung sei "tragisch, aber nicht ganz zufällig. Gehorsam erfordert Ignoranz, Ignoranz fördert den Gehorsam. Und wir gewöhnen uns zunehmend daran, nicht eigenständig zu denken, sondern den vorherrschenden Trends zu folgen." Europas Werte bedeuteten "nur sehr wenig, wenn sie nur für einige wenige gelten". Die Versprechen hinsichtlich Demokratie und Gerechtigkeit müssten verteidigt werden. "Die Migration und die Ungerechtigkeiten, die durch sie zutage treten, stehen an vorderster Front dieses Kampfes. Denn nicht die Verheißung, den Westen 'great again' zu machen, sondern das Bekenntnis zu Freiheit, Gleichheit und einer Welt, in der niemand gezwungen ist, seine Heimat zu verlassen, stellt die Versprechen Europas auf das Entschiedenste auf die Probe", schloss Ypi - und erntete für ihre Rede langen und herzlichen Applaus.