In der Migrations- und Integrationspolitik zeigen sich die zwei großen Probleme der öffentlichen Debatte: Die selektive mediale Wahrnehmung und die Entpolitisierung des Politischen, die nichts anderes zeigt als die Politikverdrossenheit der Politiker.
Früher hätte man Journalisten wie Georg Restle, dem Chef des ARD-Magazins „Monitor“, ein „Rendezvous mit der Realität“ empfohlen, wenn er, wie kürzlich bei seiner öffentlich-rechtlichen Kollegin Sandra Maischberger, erklärt, dass es in Deutschland keinesfalls eine Notlage gebe, die eine Zurückweisung von illegalen Migranten an den Grenzen oder Einschränkungen beim Familiennachzug rechtfertige, sondern eine eigentlich entspannte Lage im Themenbereich Migration und Integration.
Aber mit welcher Realität hätte sich Herr Restle, vielleicht das markanteste Beispiel dafür, dass Teile des öffentlich-rechtlichen Medienwesens zur Schwundstufe des Moralismus verkommen sind, denn verabreden sollen in einer Welt, die den Begriff der Wirklichkeit nicht mehr kennt? Woher soll ich überhaupt wissen, dass die Ausschnitte aus der Maischberger-Sendung, die ich gesehen habe, nicht im Nachhinein von AfD-nahen Trollfabriken in Nordbulgarien im Auftrag eines hessischen Privatsenders gefälscht wurden, damit ein paar Naivlinge im Alpenraum ihren Glauben an den öffentlich-rechtlichen Rundfunk verlieren? Und wie will ich beweisen, dass die Wirklichkeit an anderen Orten anders ist als an den Orten, die Herr Restle besucht hat, weil er weiß, welche Wirklichkeit ihn dort erwartet, nämlich eine, die mit seiner Wahrheit in Einklang zu bringen ist?
Macht Politik
Migration und Integration sind die beiden Themenbereiche, in denen die beiden problematischsten Entwicklungen im Bereich des öffentlichen Diskurses am deutlichsten in Erscheinung treten: Selektive Wahrnehmung und Entpolitisierung des Politischen.
Zunächst zur selektiven Wahrnehmung: Jeder, der in Migrations- und Integrationsfragen eine bestimmte Meinung oder sogar Weltanschauung hat (besonders starke Weltanschauungen haben Menschen, die die Welt besonders wenig anschauen), findet sehr leicht eine Wirklichkeit vor, die diese Weltanschauung bestätigt. Wer zeigen will, dass es eigentlich mit der Integration kein Problem gibt, fährt in eine oberösterreichische 2000-Seelen-Gemeinde, in der sich drei Familien aus Syrien, Somalia oder Burkina Faso vorbildlich integriert haben, mit Kindern im örtlichen Fußballverein, Jugendlichen bei der Freiwilligen Feuerwehr und Tanten im Frauengesangsverein. Wer nachweisen möchte, dass wir nicht nur an der Grenze zur Notlage sind, sondern schon längst mittendrin, kann in Wien aus dem Vollen schöpfen. Sowohl das Bildungs- als auch das Sozialsystem sind in der Bildungshauptstadt dysfunktional, das zeigen alle Zahlen und Statistiken, die, wenn sie nicht absichtsvoll gefälscht sind, die letzte Bastion der Realität in einer Märchenwelt der Ideologie darstellen.
Die Entpolitisierung des Politischen ist vielleicht noch problematischer als die selektive Wahrnehmung ideologisch motivierter Berichterstatter. Ob in einem europäischen Staat eine Notlage in dem Sinn herrscht, dass eine Fortsetzung der bisherigen Politik zur Überforderung der öffentlichen Systeme führen und in einem substanziellen Ausmaß die Akzeptanz der Bevölkerung verlieren würde, entscheiden nicht die Politiker, die im Rahmen von Wahlen für ihre Maßnahmen geradestehen müssen, sondern europäische Beamte und Richter, die von der österreichischen, deutschen oder polnischen Wirklichkeit noch weiter entfernt sind als Georg Restle vom Journalismus. Faktum ist, dass die geltende Rechtslage und die vorherrschende Judikatur vor allem des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der so etwas wie das Wolkenkuckucksheim des humanitären Moralismus darstellt, Europa in eine migrations- und integrationspolitische Sackgasse geführt haben, in der es früher oder später naturgesetzmäßig zu Angstreaktionen kommen wird.
Politikverdrossen sind in erster Linie die Politiker, die aufhören, Politik zu machen
Dass die europäische Politik in Gestalt der Regierungschefs ihrer Mitgliedsstaaten nicht dazu in der Lage ist, die Regeln zu ändern, auf deren Grundlage die Richter des EGMR dann entscheiden, sondern versuchen müssen, durch die Darstellung einer Notlage die Panik in der Sackgasse noch zu beschleunigen, ist ein ziemlich dramatisches Beispiel für die Entpolitisierung des Politischen. In einer Demokratie hat das Recht selbstverständlich der Politik zu folgen, die in Gestalt des Parlaments das Recht in Form der geltenden Gesetze schöpft. Sind diese in Kraft, hat ihnen jeder, auch die Politik, zu folgen. Aber die Idee, dass ausgerechnet im Bereich von Migration und Integration jede vor 70 Jahren in Kraft gesetzte Regel auf ewige Zeiten unveränderlich sein soll, während sich in der Sache selbst alles geändert hat, ist wirklich verrückt.
Immer wieder wird darauf hingewiesen, dass die zunehmende Politikverdrossenheit immer größerer Teile der Bevölkerung im Verbund mit populistischer Propaganda eine Gefahr für die demokratische Ordnung darstellen würde. Der Befund ist korrekt, bloß handelt es sich um ein prinzipielles Missverständnis in Bezug auf den Tatbestand der Politikverdrossenheit: Politikverdrossen sind in erster Linie die Politiker, die aufhören, Politik zu machen. Die politikverdrossenen Bürger folgen dann nur ihrem Beispiel.
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Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 23/2025 erschienen.