Er war 25 Jahre lang Landeshauptmann von Niederösterreich und ein mächtiger Mann in der ÖVP. Die Tagespolitik hat Erwin Pröll hinter sich gelassen. Im Gespräch mit News geht es ihm – nur einen Tag nach dem Amoklauf von Graz – um das Grundsätzliche. Wie gehen wir als Gesellschaft miteinander um? Welchen Beitrag müssen Politikerinnen und Politiker für mehr Zusammenhalt leisten? „Auswüchse dieser Grenzverschiebungen und dieser Unmenschlichkeit, die wir an den Tag legen, werden immer rasanter und brutaler“, sagt er.
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Nach dem Amoklauf von Graz hat man in der Politik ein seltenes Zusammenstehen von links bis rechts gesehen. Wird das anhalten oder werden wir bald das übliche Gezänk sehen?
Es ist eine doppelte Traurigkeit. Zum einen das Unfassbare, das hier passiert ist. Ich habe viel darüber nachgedacht, wo die Wurzeln dieser Gewalt sind. Es ist ein Faktum, dass sich in den letzten Jahrzehnten Grenzen und Werte verschoben haben. Die Beziehung zur Technik hat die Freundschaft von Mensch zu Mensch ersetzt. Jugendliche sind oft mehr auf Du und Du mit den modernen Kommunikationsmöglichkeiten als mit den Altersgenossen und Freunden. Das macht etwas mit Menschen. Die große Frage ist: Wie geht man mit diesem Phänomen und derartigen Grenzverschiebungen um? Wir alle sollten uns vornehmen, uns wieder mehr zurückzunehmen: als Menschen, in der Sprache, in der Art der Diskussion, im Umgang mit anderen. Es wird zwar viel vom Zusammenhalt geredet, aber recht schnell – und da sind wir bei der zweiten Traurigkeit – bleiben mehr Egoismen und Egoisten statt Zusammenhalt zurück.
Was ist die Schlussfolgerung daraus?
Dass wir ernsthaft aufeinander Rücksicht nehmen sollten. In diesen Stunden ist viel die Rede von Mitgefühl. Das ist eine Worthülse, wenn es nur dabei bleibt. Aber es wird zum echten Instrument, wenn wir „mit Gefühl“ aufeinander zugehen und miteinander umgehen. Wir müssen uns vornehmen, im Umgang miteinander, beim Gestalten der Gesellschaft wieder mehr auf diese menschlichen Dinge zu achten. Wenn uns das nicht gelingt, zerfällt die Gesellschaft noch weiter, und die Auswüchse dieser Grenzverschiebungen und dieser Unmenschlichkeit, die wir an den Tag legen, werden immer rasanter und brutaler.
Was müssen politische Führungsfiguren angesichts dieser Analyse tun? Es wird nicht ausreichen, Schulter an Schulter an einem Trauergottesdienst teilzunehmen.
Trauern ist ein wichtiger erster Schritt, weil es für die Betroffenen, deren Leid man sich kaum vorstellen kann, viel bedeutet. Allerdings, wenn wir zurückdenken: Anlassfälle rütteln auf, aber nach wenigen Monaten sind wir wieder im Alltag. Die Politik muss jetzt einen wesentlichen Beitrag leisten – als Vorbild im Umgang miteinander, im Austragen von Konflikten und im Lösen von Problemen. Die rhetorischen Auswüchse und Grenzüberschreitungen haben unglaublich zugenommen. Wen wundert es, wenn sich das dann auf anderer Ebene und in anderen Formen fortsetzt? Zudem müssen Politiker im öffentlichen Diskurs wieder mehr Offenheit gegenüber der Meinung des anderen an den Tag legen. Wissen Sie, was mich sehr irritiert? Das Faktum, wie eng mittlerweile der Diskurs auf öffentlicher Ebene ausgetragen wird. Wenn eine Partei eine Idee formuliert, folgt im Reflex das Heruntermachen dieser Idee, meist in sehr extremer rhetorischer Ausformung und ohne sachliche Auseinandersetzung.
Ein Wettbewerb der Ideen ist an sich nicht schlecht.
Leider haben wir verlernt, die Idee eines anderen einfach vernünftig zu prüfen und Argumente auszutauschen. Wahrscheinlich rührt das aus einem übertriebenen Erfolgsdrang in der Politik her. In meinen Anfängen im Bauernbund durfte ich bei der Sozialpartnerschaft über die Schulter schauen. Damals wurde auch hart diskutiert. Allerdings nicht im Freund-Feind-Schema, sondern mit dem Bewusstsein für die Verantwortung und die Aufgabe, etwas voranbringen zu wollen. Ich glaube, dass dieses Wollen mehr und mehr abhanden gekommen ist. Das hängt mit einer verschobenen Vorstellung von Politik zusammen: nämlich, dass man geliebt und populär sein will. Wer mit dieser Absicht in die Politik geht, wird über kurz oder lang zum Populisten. Und Populismus ist der Untergang einer stabilen Demokratie. Vor allem ist er der Feind des gemeinsamen Arbeitens. Wir sind an einem Punkt, wo man sich die Frage stellen muss: Sind wir nicht schon zu weit gegangen? Wir müssen uns zurücknehmen und einen Beitrag zu einem tragfähigen gemeinsamen Ganzen leisten. Bis jetzt liefert die Bundesregierung Ansätze, wie es gehen könnte.
Sind die Populisten, wie Sie sie beschreiben, mittlerweile in allen Parteien angekommen?
Karel Schwarzenberg hat einmal die Ursache des Populismus in der Langeweile in der Politik gesehen. Langweiler in der Politik sind im Wesentlichen reduziert aufs Verwalten, sind Fremdlinge des Gestaltens und driften auf Nebenschauplätze ab. Wo in der Politik der Langweiler tätig ist, hat der Populist seine Chance auf der Bühne. Politik heißt nicht verwalten, sondern mit einer Zukunftsvorstellung bei den Wählerinnen und Wählern Überzeugungsarbeit zu leisten. Oft habe ich den Eindruck, dass der eine oder die andere in der Politik nicht weiß, was notwendig ist. In der Politik muss man etwas wollen. Und zwar für den Staat und nicht für sich selbst.
Mich stört schon die Diktion, dass Diskussion immer mit Streit tituliert wird. Demokratie lebt von Diskussion

Noch etwas zum Umgang miteinander: Am Ende von Koalitionsregierungen – immer ist die ÖVP beteiligt –, hat man den Eindruck, die gegenseitige Abneigung der Beteiligten ist riesig und man will nach der Wahl gar nicht mehr zusammenarbeiten.
Ich habe das Gefühl, dass sich das in letzter Zeit geändert hat. Ich hoffe sehr, diese Einstellungsänderung entspringt der Erkenntnis, dass es so wie in den letzten Jahren nicht weitergehen kann. Politik wird von Menschen gemacht. Daher ist es wichtig, dass diejenigen, die in einer Koalition zusammenkommen, sich auch mögen. Ich habe aber manchmal auch beim Journalismus den Eindruck, dass dann, wenn sich Politiker verstehen, ein negativer Touch hineininterpretiert wird. Die einzige Ausnahme war meine Freundschaft mit Michael Häupl. Wahrscheinlich, weil unsere Freundschaft und Zusammenarbeit immer mit einer ordentlichen Portion Humor unterfüttert war.
Sonst haben Sie den Eindruck, mehr Streit bringt mehr Schlagzeilen?
Mich stört schon die Diktion, dass Diskussion immer mit Streit tituliert wird. Demokratie lebt von Diskussion. Mich stört auch, dass der Kompromiss schlechtgeredet wird. Die Demokratie lebt auch vom Kompromiss. Leben und leben lassen. Im Moment bin ich aber optimistisch. Die aktuelle Regierung hatte einen guten Beginn, in einer gar nicht einfachen Ausgangssituation. Man hatte angesichts des Wahlergebnisses und des stotternden Beginns eigentlich Fürchterliches geahnt. Aber dann gab es einen zweifachen Überraschungseffekt: Christian Stocker, den ich schon lange als bodenständigen, vernünftigen, korrekten Menschen kenne, ist ÖVP-Chef geworden. Und es ist ihm in seiner ruhigen Art gelungen, eine Partnerschaft mit zwei anderen Parteien zu schließen, die ideologisch nicht unbedingt deckungsgleich sind, während sich Herbert Kickl selbst aus dem Spiel genommen hat.
Und das wird halten?
Aufgrund der Toleranz und Umsicht, die er mitbringt, ist es ihm gelungen, eine Gemeinschaft zu bilden. Wenn mich nicht alles täuscht, ist das eine gute Arbeitsgrundlage. Natürlich wird es nicht immer so rund weitergehen. Es wird Rückschläge geben. Aber ich traue dieser Koalition zu, mit Rückschlägen vernünftig umzugehen, weil ich den Eindruck habe, sie arbeiten nach dem Motto „Leben und leben lassen“. Das ist das Einfachste und Vernünftigste im Zusammenleben und Zusammenarbeiten von Menschen.
Populisten kann man nur dann erfolgreich begegnen, wenn man mit guten Ideen und klar gesteckten Zielen vorangeht

Ich höre oft: „Die sind so schön langweilig.“ Frei nach Karel Schwarzenberg wäre das ein Alarmzeichen.
Die Kritik an der Langeweile bezieht sich auf jemanden, der nur verwaltet. Diese Koalition gestaltet, allerdings unter schwierigen Voraussetzungen und mit großen Problemen, die sie zu lösen hat. Das ist natürlich nicht unbedingt lustig. Aber zwischen „nicht lustig“ und „langweilig“ ist ein Unterschied.
In Ihrer Zeit als Landeshauptmann war rechts von der ÖVP kein Platz mehr – aber Sie haben dafür nicht die Themen und Sprache der FPÖ übernehmen müssen. Wie hat das funktioniert?
Ich bin vehement gegen Ausgrenzung. Das macht die Ausgegrenzten nur noch extremer. Populisten kann man nur dann erfolgreich begegnen, wenn man mit guten Ideen und klar gesteckten Zielen vorangeht. Das war es, was ich mit meinem Team gemacht habe.
Die ÖVP hat in Bund und Ländern mit der FPÖ Koalitionen gebildet. Entzaubert hat sie sie damit nicht.
Die Landeshauptfrau hat am Wahlabend der letzten Landtagswahl in Niederösterreich die Rückholaktion verlorener Wähler gestartet. Der ÖVP sind damals etwa 90.000 Wähler abhanden gekommen. Nach zweieinhalb Jahren bin ich zuversichtlich, dass dies auch zu einem guten Teil gelungen ist.
In Meinungsumfragen zeichnet sich das nicht ab.
Ich kenne keine Umfragen. Es kommt einfach darauf an, mit einer attraktiven, interessanten Politik dem politischen Kontrahenten die Argumente zu nehmen.
In der Kurz-Ära wurden viele Wähler von der FPÖ geholt. Der Preis für die ÖVP heute war hoch.
Natürlich ist es wichtig, nicht nur gute Ideen zu haben, sondern diese auch zu vermarkten. Nicht Show-Politik, sondern das, was auch ein Unternehmer braucht: ein gutes Produkt, das er gut vermarktet. Das gilt auch für die Politik.
In Niederösterreich vermisst man derzeit Weltoffenheit. Liegt das an der Koalition mit der FPÖ?
Wenn ich etwa an den Theatersommer, das Festival Grafenegg, das Nitsch-Museum, die Landesgalerie, das Karikaturmuseum oder das Europa-Forum Wachau denke, sind das schon Einrichtungen, die für Weltoffenheit stehen. Sich darauf auszuruhen, wäre aber zu wenig. Was mich persönlich sehr freut, ist, dass die Kontakte zu vielen Künstlerinnen und Künstlern aufrecht sind und bis heute Bestand haben. Ein Zeichen einer tiefen, ehrlichen persönlichen Verbindung.
Das Misstrauen gegenüber Politikern ist auf einem Höhepunkt. Wie bekommt man es zurück?
Das wäre eine lange politische Abhandlung. Aber ich versuche es ganz einfach: Andreas Maurer hat mir als junger Landesrat Folgendes mitgegeben: „Sag, was du denkst und tu, was du sagst. Dann kann nichts schief gehen.“ Das ist der Kern des Vertrauens, das man aufbauen kann. Misstrauen entsteht dort, wo man glaubt, immer nur das tun zu müssen, was die Wähler wollen. Wähler wollen Ziele und zu diesen geführt werden. Um zu führen, muss man auch diskutieren und Überzeugungsarbeit leisten. Auch wenn man es nicht allen recht machen kann, muss man zumindest erklären, warum das so ist. Die Strecke vom Versprechen bis zum Halten, die ist eine entscheidende. Dazu kommt: Wir haben eine internationale Szenerie mit einem unberechenbaren Populisten in den USA, einem Diktator in Russland und einem zunehmenden Rechtspopulismus in Europa. In diesem Umfeld ist die Republik eingespannt.
Der Wähler erwartet sich nicht ängstliche Politiker, die hinter jeder Ecke jemanden vermuten, der ihnen das Bein stellen könnte

Wie geht man als Politiker damit um?
Politik erfordert klare Ziele. Dabei ist es sehr wichtig, sich nicht abdrängen zu lassen, sondern mit Mut die notwendigen Schritte zu setzen. Der Wähler erwartet sich nicht ängstliche Politiker, die hinter jeder Ecke jemanden vermuten, der ihnen das Bein stellen könnte. Sondern er erwartet Politiker, die mutig entscheiden und umsichtig vorangehen. Das ist in Wahrheit die Aufgabe der Politik.
Der Wähler erwartet auch Politiker, die nicht nur für Klientel und die eigene Partei agieren.
So wie es zu wenig ist, sich nur am Populären zu orientieren, ist es für Politiker auch zu wenig, zu eng zu denken. Auf Dauer erfolgreich sind nur die, die über ideologische Grenzen hinweg das große Ganze im Blick haben. Dabei darf man Konflikte nicht scheuen und muss Diskussionen austragen.
Die FPÖ unter Herbert Kickl liegt in Umfragen immer noch über 30 Prozent.
Da ist noch nicht aller Tage Abend. Mein Eindruck ist, die Leute respektieren die Haltung: „Es gibt keine Geschenke, denn wir haben zum Teil über unsere Verhältnisse gelebt, aber wir können euch versichern, wir werden umsichtig für euch arbeiten.“ Im Long Run steigt das Vertrauen in diejenigen, die hart arbeiten.
Dazu müsste die Regierung bis 2029 durchhalten.
Dafür ist sie auch gewählt. Jemand, der keinen langen Atem hat, hat in der Politik nichts verloren. Schnelle Erfolge gibt es in der Politik nicht. Ich war 38 Jahre in der Politik, 25 Jahre als Landeshauptmann. Ich habe viele Tiefen mit allen negativen Begleiterscheinungen erlebt. Ich habe deswegen aber auch Höhen erleben können. Nur jemand, der Niederlagen verkraften kann, kann auch Erfolge feiern.
Gibt es eigentlich in der Pröll-Familie ein Politik-Gen? Neben und nach Ihnen hat es ihren Neffen Josef als Finanzminister und Vizekanzler und dessen Sohn Alexander als Staatssekretär in die Politik verschlagen.
Mich hat der Zufall gegen Ende meines Studiums in die Politik geholt, nachdem ich einen Vortrag des damaligen Bauernbund-Obmanns Sixtus Lanner besucht habe. Er hat mich dabei engagiert, bei ihm zu arbeiten. Ich hatte damals keinen blassen Schimmer, ob mir die Politik gefällt. Nach wenigen Monaten habe ich gemerkt, das ist etwas Schönes. Man kann gestalten, es ist herausfordernd und man ist unter Menschen. Andreas Maurer hat mich dann in die Landesregierung geholt, damit war ich Politiker. Ich habe viel mit meinem Bruder diskutiert, während der damals kleine Peppi mit Interesse zugehört hat und dann auch in die Politik gegangen ist. Und jetzt kommt die dritte Generation: Alexander hat die Politik durch seinen Vater hautnah miterlebt. Offenbar gibt es schon ein gewisses Gen bei uns. Alexander hat exzellente Voraussetzungen, sein Talent und sein politisches Gen zu veredeln, denn er ist in jungen Jahren an einer Schlüsselstelle in der Regierung. Er hat ein gutes Einschätzungsvermögen, keinen übertriebenen, sondern jenen gesunden, vernünftigen Ehrgeiz, den man braucht, um etwas weiterzubringen. Das ist es.


Erwin Pröll, 78
Er stammt aus einer Weinbauernfamilie in Radlbrunn, absolvierte ein Studium der Agrarökonomie an der Universität für Bodenkultur und kam 1972 als wirtschaftspolitischer Referent in den ÖVP-Bauernbund. 1980 kam er in die niederösterreichische Landesregierung, ab 1981 war er Landeshauptmann-Stellvertreter unter Siegfried Ludwig. 1992 wurde Pröll Landeshauptmann und blieb 25 Jahre in diesem Amt.
Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 25/25 erschienen.
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