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„Demografische Bombe“: Soziologin Jutta Allmendinger fordert radikales Umdenken

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Jutta Allmendinger

©IMAGO / dts Nachrichtenagentur

Die deutsche Soziologin spricht sich für echtes „Out-of-the-Box“-Denken aus: Dazu gehören etwa ein „Kinderwahlrecht“ und dass sich Phasen der Bildung, Neu-Ausbildung, Erwerbstätigkeit sowie Kinder- und Elternbetreuung flexibel abwechseln können.

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Der Chef des Fiskalrats, Christoph Badelt, ließ im März mit seiner Warnung vor einer budgetären „demografischen Bombe“ durch das Älterwerden der Bevölkerung aufhorchen. Tatsächlich liegt die Geburtenrate laut neuesten Zahlen auf einem „Allzeit-Tief“ von 1,31 Kindern pro Frau, wie die ÖAW-Demographin Caroline Berghammer am Montagabend erklärte. Angesichts all dessen plädierte die deutsche Soziologin Jutta Allmendinger vor Journalisten für echtes „Out-of-the-Box“-Denken.

Letztlich müsse man eine „massive Neuorientierung von Lebensläufen“ ermöglichen, wo sich Phasen der Bildung, Neu-Ausbildung, Erwerbstätigkeit, Kinder- und Elternbetreuung oder verschiedene Varianten von Pension oder Ruhestand auch flexibel abwechseln können. Blickt man auf die extrem niedrigen Geburtenraten in Österreich und Deutschland, brauche man eine Vereinbarkeitspolitik, die auch auf Männer abzielt, betonte die Bildungssoziologin und Arbeitsmarktforscherin von der Berliner Humboldt-Universität im Vorfeld eines in Zusammenarbeit zwischen der Akademie der Wissenschaften (ÖAW) und der Statistik Austria organisierten Vortrages.

Oftmals nur schlechte Optionen für Frauen

Aktuell könnten sich Frauen quasi entscheiden, ob sie entweder die in vielen Teilen der Gesellschaft noch sehr traditionell ausgelegte Mutterrolle nicht wirklich erfüllen, ihre Eltern im Alter nicht adäquat versorgen können oder bei der Erwerbsarbeit einkommenstechnisch das Nachsehen gegenüber Männern haben. Vielfach entscheide man sich dann in unseren Breiten eben, kein Kind oder kein zweites, drittes oder viertes Kind zu bekommen, sagte Allmendinger, die auch Mitglied des deutschen Wissenschaftsrates ist. Frauen seien oft schlichtweg nicht bereit, die dreifache Last zu tragen und setzen zunehmend auf ihre eigene Absicherung durch Erwerbstätigkeit.

Das könne man ihnen auch kaum verdenken, führen doch viele Regelungen letztlich dazu, dass nach der Geburt von Kindern eher Männer Vollzeit im Job verbleiben, während Frauen auf dem Großteil der „mental load“ – also der „mentalen Last“ – des Alltags sitzen bleiben. Auf eine Kur warten Mütter in Deutschland im Schnitt zwei Jahre, rechnete Allmendinger vor.

Heutige Männer wollen „nicht wie ihre Väter leben“

Und: Wenn Kinderbetreuungsgeld sich nach dem Einkommen bemisst, können sich viele Familien eben nicht leisten, auf beispielsweise ein Drittel des Geldes, das der Mann ohne Karenz heimbringen würde, zu verzichten. Eine Erhöhung würde mehr Männer in die Karenz bringen, so die Forscherin. Dazu komme: Studien würden eindeutig zeigen, dass ein großer Teil der heutigen Männer "nicht wie ihre Väter leben wollen", die oftmals nur eine höchst rudimentäre Beziehung zu ihrem Nachwuchs aufbauen konnten. Das sei ein Faktor, den die Politik vielfach auch unterschätze.

Ja, es stimme, dass viele Teile der Politik weiter echte Veränderungen im Familien-, Pensions- und Zuwanderungsbereich nicht angehen wollen. Die Angst, bei der nächsten Wahl abgestraft zu werden, ist groß, erklärte Ex-Bildungsminister und ÖAW-Präsident Heinz Faßmann etwa mit Blick auf die Diskussionen zu einer Erhöhung des Pensionsalters. Dabei sei jedem bewusst, dass die Veränderung der Alterspyramide hurtig voranschreitet. So legte Statistik Austria-Generaldirektor Tobias Thomas einmal mehr dar, dass der Anteil der 65-Jährigen und älter von aktuell rund 20 Prozent auf ungefähr 30 Prozent der Gesamtbevölkerung in Richtung 2060 anwachsen wird. Dementsprechend steigen auch die Ausgaben für die Pensionen der „Babyboomer“-Generation und Co. Um das Jahr 2040 kommen nur noch zwei Personen im Erwerbsalter auf einen Pensionisten.

Nachdenken über „Kinderwahlrecht“

Dass letztere Gruppe für einige Parteien das Wähler-Rückgrat bilden, ist jedenfalls kein Geheimnis. Senioren haben dementsprechendes politisches Gewicht. Hier sollte man tunlichst neue Wege beschreiten und „out-of-the-box“ denken, mahnte Allmendinger ein: etwa an ein „Kinderwahlrecht“. Hier hätten die Stimmen von Personen mit Kindern dementsprechend mehr Gewicht, was Familien stärker legitimieren und politische Bewegungen dazu bewegen würde, sich mehr um Zukunftssicherung, Vereinbarkeit von Job und Familie sowie Lastenausgleich zwischen Frauen und Männern und in der Gesamtgesellschaft zu kümmern.

Wie die Österreicherinnen und Österreicher über die Herausforderungen des demographischen Wandels und seiner gesellschaftlichen Auswirkungen so denken, hat die ÖAW im Herbst im Rahmen ihres alljährlich erhobenen „Wissenschaftsbarometers“ mit abfragen lassen, wie Faßmann ausführte. Immerhin 53 Prozent der Teilnehmer gab an, an dem Thema „sehr stark“ oder „stark“ interessiert zu sein. Die größte Angst in den Zusammenhang ist, dass die Alterung zu Verschlechterungen in der Gesundheitsversorgung führen wird. An zweiter Stelle folgen Sorgen vor einer Vertiefung des Fachkräftemangels und der Unfinanzierbarkeit des Pensionssystems.

Kaum Freude über Zuwanderung oder Pensionsalter-Erhöhung

Als präferierte Gegenmaßnahme gaben die meisten Befragte an, dass Arbeitslose wieder verstärkt zur Arbeit angehalten werden sollten und die Frauenerwerbstätigkeit durch die Verbesserung der Vereinbarkeit von Beruf und Familie gesteigert wird. Ebenso hoch im Kurs steht – für Faßmann recht überraschend – mehr Engagement des Einzelnen bei der privaten Pensionsvorsorge.

Weniger gerne sieht man die „gezielte Anwerbung von ausländischen Arbeitskräften“. Für Faßmann bleibt der Schluss: Zuwanderung ist „keine beliebte Form“ des Umgangs mit der alternden Bevölkerung. Ebenso unpopulär sind laut der Umfrage Pensionsalter-Erhöhungen und steigende Sozialversicherungsbeiträge.

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