Warum gibt es in unserem Leben und in der politischen Welt noch immer so viele Überraschungen, wo doch schon so lange alle alles über alle wissen? Und warum führt die Formulierung „Das Ende der Welt, wie wir sie kannten“ so oft in die Irre? Über Sensibilität, Prognosen, Schwäche und Entschlossenheit.
Wenn sich Unvorhergesehenes in großem Stil ereignet, verwenden professionelle Beobachter gerne die Formulierung „Das Ende der Welt, wie wir sie kannten“. Damit soll auf der wörtlichen Ebene vor allem etwas über die Größe des Ereignisses gesagt werden – nämlich, dass es die ganze Welt betrifft –, und zugleich schwingt ein gewisses Maß an Erstaunen und Erschrecken mit, das eben auch ein Momentum der Überraschung beinhaltet.
Nach der ersten Wahl von Donald Trump zum Präsidenten der Vereinigten Staaten verwendeten einige Medien diese Formulierung, am Beginn der Pandemie vor nun schon mehr als fünf Jahren, beim Einmarsch der russischen Armee in die Ukraine, und manche auch nach den Angriffen der amerikanischen Tarnkappenbomber auf die iranischen Atomanlagen vor wenigen Wochen. Wie bei vielen Formulierungen, die oft verwendet werden, versteht man sofort, was gemeint ist, obwohl der Gedanke selbst ein Missverständnis ist, das sich aus Selbstverständlichkeit und Irrtum speist. Natürlich passieren alle großen Dinge in der Welt überraschend, sonst würden sie ja von denen verhindert, denen sie schaden. Und klarerweise ist für jeden Menschen, der nicht gänzlich abgestumpft ist, jeder Tag das Ende der Welt, wie er sie kannte.
Vorsicht und Vorschau
Was die Sensibilität für das Neue und Unerwartete, für Umschwünge und Kehrtwendungen auch im Bereich des Persönlich, Privaten und sogar Intimen betrifft, habe ich den Eindruck, dass wir als Gesellschaft keine großen Fortschritte gemacht haben. Beschleunigung und Standardisierung, zwei der wichtigen Begleiterscheinungen der digitalen Revolution, begünstigen diese Art der Sensibilität nicht unbedingt. Ein Umschwung wird erst erfasst, wenn Chat-GPT von ihm spricht.
Auf der politischen Ebene stellen sich die Dinge etwas komplexer dar, weil wir es dort mit hybriden Varianten der Sensibilität zu tun haben, in denen große Datensammlungen und menschliches Gespür sich zu einer Prognostik verbinden sollen, auf die man sich verlassen kann. Warum hat niemand den US-Geheimdiensten geglaubt, dass es sich bei den russischen Truppen, die sich über Monate entlang der nordöstlichen Grenze der Ukraine formiert hatten, tatsächlich um ein Invasionskorps handelt? Wie konnte der weltweit für seine überragende Qualität bekannte israelische Geheimdienst die bestialische Attacke vom 7. Oktober 2023 nicht vorhersehen? Warum bleibt so vieles geheim, das eigentlich offen zutage liegt, und warum wissen so viele Menschen so vieles, das sie niemals erfahren sollten? Und warum gibt es in unserem Leben und in der politischen Welt noch immer so viele Überraschungen, wo doch schon so lange alle alles über alle wissen?
Vieles von dem, was wir als Überraschung wahrnehmen und auch in der historischen Rückschau als Überraschung bewerten, hat damit zu tun, dass einzelne Menschen auf spektakuläre Weise versagen, persönlich und in ihrer Rolle, nicht selten das eine als Folge des anderen. Dass große Ereignisse in Form von Katastrophen eine Epoche beschließen, die vom Glauben daran gekennzeichnet ist, dass es nur noch bergauf gehen kann, wird kein Zufall sein. Stefan Zweig beschrieb diese Stimmung, die letztlich eine große, kollektive Illusion der Sicherheit und des ökonomischen, wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritts gewesen ist, in seinem grandiosen Werk „Die Welt von gestern“.
Das Ende der Welt, wie wir sie kannten, findet jeden Tag statt
In Russland passierte ungefähr zur selben Zeit etwas ganz anderes. Das alte Russland zerfiel mit der Februar-Revolution des Jahres 1917 innerhalb weniger Tage, weil einige Einzelne, allen voran der schwache und vollkommen ungeeignete Zar Nikolai II., lieber seinen kranken kleinen Sohn sehen als sein Reich vor dem Untergang bewahren wollte. Der Osteuropa-Historiker und Gewaltforscher Jörg Baberowski schildert in seinem vor wenigen Monaten erschienenen Buch „Die letzte Fahrt des Zaren“, wie Nikolai Ende Februar/Anfang März 1917 von Revolutionären, die in der Hauptstadt Petrograd im Gefolge einer Brotkrise die Macht und die Kontrolle über die Infrastruktur übernommen hatten, auf der Eisenbahnstrecke zwischen dem Armeehauptquartier in Mogiljow und seinem Wohnsitz in Zarskoje Selo hin- und hergeschickt wird. Es ist ein Sinnbild für die Willenlosigkeit und Weltfremdheit eines Herrschers, der keiner sein will.
Die Sympathie für den kinderlieben Zaren, der gern im Garten arbeitet und Spaziergänge unternimmt, der das Glück seiner Familie über das Wohl seines Reichs stellte, leidet ein wenig unter dem, was danach kam, als unmittelbare Folge seiner Schwäche und seines Desinteresses an der Welt außerhalb seiner unmittelbaren Umgebung: die Oktoberrevolution Trotzkis und Lenins, der blutige Bürgerkrieg und in dessen Zuge schließlich die Ermordung der Zarenfamilie in Jekaterinburg. Es ist ein großes Panorama des Zusammenspiels zwischen persönlichen Schwächen und Seltsamkeiten und unvorhersehbaren Konstellationen von Macht und Entschlossenheit.
Das Ende der Welt, wie wir sie kannten, findet jeden Tag statt, besonders aber an den Tagen, an denen herausgehobene Einzelne nicht mehr bereit oder in der Lage sind, sie zu gestalten.
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Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 28+29/2025 erschienen.