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Israel: Krise und Konflikte

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Menschen protestieren in Tel Aviv gegen die Politik von Netanjahu.

©IMAGO / ZUMA Press Wire
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Seit dem Überfall der Hamas am 7. Oktober 2023 steht der jahrelange Lenker des Landes, Benjamin Netanjahu, noch mehr unter Druck – schon seit den Korruptionsvorwürfen hat ein großer Teil der israelischen Bevölkerung ihm misstraut. Nun kommen Spannungen in seiner rechtsextremen Koalition und die anhaltend akute Bedrohung durch den „Siebenfrontenkrieg“ hinzu.

Umarmungen, Freudentränen und Unglaube über die plötzlich erlangte Freiheit. Nachdem die israelische Armee (IDF) Anfang Juni vier Geiseln lebend aus dem Gazastreifen befreien konnte, spielten sich emotionale Bilder im Krankenhaus von Ramat Gan ab. Mittendrin: Benjamin Netanjahu. Der israelische Ministerpräsident nutzte diesen militärischen Erfolg, um sich darin zu sonnen. Solche Auftritte sind inzwischen selten geworden, denn Netanjahu steht unter Druck von allen Seiten. Die mediale Präsenz des Premierministers beschränkt sich zunehmend auf kurze, strategische Momente, in denen er unangenehme Fragen meidet.

Netanjahus Glaubwürdigkeitsproblem

Seit Jahrzehnten ist dieser Mann das Gesicht der israelischen Politik. Seine Macht behauptete er immer wieder durch geschickte öffentliche Inszenierungen und politische Winkelzüge. Netanjahu hatte sich über Jahre hinweg als unerbittliche Kämpfer gegen den Terror positioniert. Mit dem verheerenden Angriff der Hamas, der 1.200 Israelis das Leben kostete, ist dieses Image kaputt. Die Sicherheitslücken, die an jenem Tag offensichtlich wurden, warfen ein düsteres Licht auf einen Premier, der lange Zeit als unantastbar galt. Wer sich als harter Hund positioniert und dann mit offensichtlichen Sicherheitslücken aufwartet, bekommt ein Glaubwürdigkeitsproblem. Laut Umfragen wünscht sich seitdem eine Mehrheit der israelischen Bevölkerung seinen Rücktritt – ein Zeichen dafür, dass der Vertrauensverlust tief sitzt. Professor Meron Mendel betont im Interview mit News, dass Netanjahu die Schuld für das Sicherheitsversagen auf das Militär und die Geheimdienste abwälzt, um seine eigene Position zu schützen. Damit erklärt sich auch sein hartes Vorgehen im Gazastreifen – zumindest teilweise.

Druck innerhalb der Koalition

Denn der Premier ist ebenfalls gefangen in seiner eigenen Koalition. Die rechtsradikalen und ultraorthodoxen Partner setzen Netanjahu unter Druck. Laut Mendel war diese Koalition für Netanjahu nie eine Wunschlösung, sondern eine Notwendigkeit aufgrund der Korruptionsvorwürfe, die ihn für andere politische Bündnisse „radioaktiv“ machten​. Die extremistischen Positionen von Ministern wie Itamar Ben-Gvir und Bezalel Smotrich verschärfen die Spannungen innerhalb Israels. Smotrich hatte sich zur Blockade von internationalen Hilfslieferungen in den Gazastreifen geäußert. Bis zur Freilassung aller Geiseln sei es dem Finanzminister zufolge moralisch vertretbar, die Blockade aufrechtzuerhalten, selbst wenn dies den Hungertod von zwei Millionen Menschen zur Folge hätte. Laut Mendel sollte man solche Aussagen im Kontext der israelischen Innenpolitik sehen. So befindet sich Smotrich unter Zugzwang, da Ben-Gvir unter den Radikalen äußerst populär ist, wohingegen er in Umfragen verliert. Mit diesen menschenverachtenden Aussagen wolle sich der Finanzminister laut Mendel unter Teilen der radikalen Bevölkerung profilieren​. Sie sorgen aber innerhalb der Koalition für Unstimmigkeiten.

Das Erfolgsrezept Netanjahu

Netanjahu hat in seinen bisherigen Amtszeiten immer wieder erfolgreich gesellschaftliche Spaltungen genutzt, um seine Macht zu festigen. Ob zwischen jüdischen Menschen unterschiedlicher Herkunft, säkularen und religiösen Gruppen oder innerhalb der palästinensischen Gemeinschaft – der Premierminister setzte stets auf eine Politik der Teilung. So stellt Mendel fest, dass Netanjahu derjenige war, der dafür gesorgt hat, dass die Hamas weiterhin Geld von Katar bekommen hat. „Seine Absicht war, dass durch den Konflikt zwischen der Hamas und der Palästinensischen Autonomiebehörde kein palästinensischer Staat entstehen kann.“

Angespannte Stimmung

Die aktuelle militärische Eskalation zeigt auch, wie sehr die Lage in Israel einer Pulverfass-Situation gleicht. Der sogenannte „Siebenfrontenkrieg“ – mit Bedrohungen aus Gaza, dem Westjordanland, dem Irak, dem Libanon, Syrien, dem Jemen und dem Iran – hält die Bevölkerung in ständiger Alarmbereitschaft. Trotz der anhaltenden Kämpfe und der ständigen Gefahr sind die Demonstrationen gegen Netanjahu nicht verstummt, auch wenn sie nach dem 7. Oktober an Intensität verloren haben. Wie aus einer anderen Welt wirken die Bilder, als Hunderttausende Menschen in Tel Aviv gegen die Justizreform der israelischen Regierung protestierten. Die Polizei geht aktuell härter gegen Proteste vor, was viele Menschen davon abhält, ihre Unzufriedenheit offen zu zeigen.

Ein Waffenstillstand würde mit großer Wahrscheinlichkeit Netanjahus Koalition zerbrechen

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Meron Mendel: Der gebürtige Israeli ist Direktor der Bildungsstätte Anne Frank, Publizist und Professor an der Frankfurter University of Applied Sciences.

 © Ali Ghandtschi

Niemand würde dem Premierminister absprechen, dass er gerne einen Geiseldeal sehen würde. „In Netanjahus Prioritätenliste steht ein Deal mit der Hamas aber nicht ganz oben. Ein Waffenstillstand würde mit großer Wahrscheinlichkeit seine Koalition zerbrechen und damit auf absehbare Zeit für Neuwahlen sorgen. Aus meiner Sicht ist das eine große Bedrohung für ihn“, so Mendel.

Passend dazu:

Das ganze Interview mit Meron Mendel über die Israel-Krise lesen sie hier.

Kein Frieden in Sicht

In diesem Klima der Unsicherheit und des Drucks drängt sich die Erinnerung an Jitzchak Rabin auf, den Premierminister, der 1995 ermordet wurde, als er für den Friedensprozess eintrat. Rabin sorgte für die Hoffnung auf eine Versöhnung zwischen Israel und den Palästinenserinnen und Palästinensern, bis ein rechtsreligiöser Fanatiker ihn erschoss. Oppositionsführer zu dieser Zeit: Benjamin Netanjahu. Dieser trug durch seine Rhetorik zur aufgeheizten Stimmung bei, welche in der Ermordung Rabins mündete. Einige der extremistischen Personen von damals, wie beispielsweise Itamar Ben-Gvir, sind heute Teil von Netanjahus Koalition und verkörpern eine Politik, die Hoffnung auf Frieden in weite Ferne rücken lässt.

Gespaltene Opposition

Diese Situation sollte der Opposition in die Hände spielen – könnte man meinen. Sie ist jedoch zersplittert und schwach. Ein Teil der Opposition, insbesondere die Partei von Benny Gantz, trat nach Kriegsbeginn sogar der Regierung bei – eine Entscheidung, die ihr politisch geschadet hat und die ohnehin schon fragmentierte Opposition weiter geschwächt hat. Hinzu kommt die politische Tradition in Israel. Im Parlament in Jerusalem, der Knesset, sitzen aktuell 13 unterschiedliche Fraktionen aus 15 verschiedenen Parteien. Das sorgt ganz grundsätzlich für ein schwieriges Zusammenarbeiten als Opposition. In der aktuellen Situation kann sich diese aber nicht mal darauf einigen, ob man angesichts der akuten Bedrohungslage zusammenhalten muss oder Kritik an der Regierung erlaubt sei.

Likud wieder erstarkt

Auch international wird die Luft zunehmend dünner. Die westlichen Verbündeten stehen zwar offiziell noch immer klar an der Seite Israels. Kritische Stimmen weisen aber zunehmend deutlich auf ein unverhältnismäßiges Vorgehen der IDF im Gazastreifen hin. Erstaunlicherweise hat Benjamin Netanyahu trotz dieser, vorsichtig formuliert, schwierigen Lage bei seinen Anhängern immer noch vollstes Vertrauen. Die sogenannten „Bibiisten“ stehen hinter ihrem Ministerpräsidenten – egal was kommt. So lag Netanjahu in einer am 9. August veröffentlichten Umfrage erstmals seit dem 7. Oktober mit seiner Partei, dem Likud, wieder an erster Stelle.

Stimmen aus Israel

Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 35/2024 erschienen.

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