Während seine Koalition wankt, befiehlt Benjamin Netanjahu den Angriff auf den Iran. Regierungskrise? Tarnung. UNO-Rede? Ablenkung. Der Premier regiert mit Tricks, plant im Verborgenen, trifft mit Präzision. Über die Kunst der Täuschung als politische und militärische Strategie.
Wenige Tage bevor Israel den Iran angriff, drohte das Ende der 18 Jahre langen Regierungszeit Netanjahu. Die Opposition kündigte ein Misstrauensvotum an, und beide ultra-orthodoxen Parteien in der Koalition erklärten, der Regierung das Vertrauen zu entziehen. Streitpunkt war das Gesetz um die Befreiung orthodox-religiöser Studenten vom Militärdienst.
Bis Mittwochnacht, zwei Tage vor dem 13. Juni, dem Datum des Angriffs auf den Iran, verhandelten Yuli Edelstein, Vertreter des Likud für Wehrdienstgesetze, und Aryeh Deri, Chef von Shas, der größeren der beiden orthodoxen Parteien. In letzter Minute einigte man sich auf einen Kompromiss. Der angekündigte Misstrauensantrag scheiterte. Netanjahu blieb Premierminister und gab den Befehl zum Angriff, wahrscheinlich noch während der angeblichen Regierungskrise.
Eine ähnliche Situation im September 2024. Kurz vor dem 17. September 2024 – als die Pager im Libanon explodierten – kündigte Netanjahu eine Rede vor der UNO an. Journalisten konkurrierten mit Spott über diesen Auftritt, Netanjahus egozentrisches Gehabe. Doch während der medialen Erregung gab Netanjahu den Befehl, die Pager explodieren zu lassen. Sowohl Regierungskrise als auch Auftritt vor der UNO waren Ablenkungsmanöver. Inszeniert, fabriziert, von langer Hand vorbereitet als Täuschung – die Strategien des ‚talentierten Mr. Netanjahu’.
Beispiel Spanien
Netanjahu wurde 1949 in Tel Aviv geboren, kommt aus einer Familie, die schon 1920 von Polen nach Palästina emigrierte. Sein Vater, Benzion Netanjahu, ein bekannter Historiker, der sich früh der zionistischen Bewegung anschloss, war Herausgeber der wichtigen Encyclopaedia Hebraica und arbeitete ab 1957 in den USA als Professor für jüdische Geschichte und Literatur. Kritiker Netanjahus führen sein Verhalten auf den Einfluss seines Vater zurück, der als Wissenschaftler das mittelalterliche Judentum untersuchte, die seiner Meinung nach gefährliche Naivität der Juden in der Diaspora am Beispiel Spanien thematisierte.
Bis zu der brutalen Vertreibung 1492 hätten Vertreter der jüdischen Gemeinden erklärt, dass sie in Spanien in Sicherheit leben würden. Diese Blindheit und Arglosigkeit gegenüber einer realen Gefahr hätte sich bis zum Holocaust fortgesetzt. Benzion Netanjahu in einem Interview: „Die Fähigkeit, Gefahr rechtzeitig zu identifizieren, ist eine Überlebensvoraussetzung, auch für eine Fliege, die plötzlich einen bedrohlichen Schatten sieht und flieht. Juden haben die Fähigkeit verloren, Gefahr rechtzeitig zu erkennen.“ Eine fast identische Argumentation mit der sein Sohn Benjamin den Angriff gegen den Iran rechtfertigt.


Eine undatierte Archivaufnahme zeigt Netanjahu (Mitte) als Soldat in einer Spezialeinheit der israelischen Armee.
© YEDIOTH AHARONOTH FILES / EPA / picturedesk.comNetanjahu studierte in den USA auf den berühmten Universitäten MIT und Harvard. Wie seine beiden Brüder Jonathan und Iddo diente er bei der Elite-Einheit Sajeret Matkal, deren Mitglieder von einem Komitee aus Ärzten, Psychologen und Militärs nach einem extremen Stress-Test ausgewählt werden. Sie gelten als die besten Soldaten der IDF (Israeli Defence Forces). Der Iran – die potenzielle Gefahr eines ‚Atomare Holocaust‘ wie Netanjahu die Bedrohung beschreibt – beschäftigt ihn seit Jahrzehnten. Bereits 1990, als junger Abgeordneter, warnte er vor einer möglichen Atommacht Iran. 2012 zeigte er vor der UNO eine Karikatur mit einer Bombe. 2015 kritisierte er Ex-Präsident Obama vor dem US-Kongress, der eine Verhandlungslösung anstrebte.
Israel verstehen
Um Israel zu verstehen, muss man sich die politisch-militärische Realität als eine Parallelgesellschaft vorstellen. Einerseits das politische Getöse mit verbalem Gepolter, Streitereien in der Knesset, ständig wechselnden Koalitionen und Regierungskrisen. Parallel dazu Geheimdienste und Armee mit einer rationalen Kreativität und Präzision.
Der Angriff auf den Iran zeigt die erschreckende Effizienz moderner, koordinierter Kriegsführung, die im Ausland oft nicht verstanden wird, wo Medien immer noch konkurrieren mit Analysen, ob nun die Atombombenproduktion unterbrochen wurde oder alles ein großer Fehlschlag gewesen sei.
Es droht Netanjahu ein Schicksal wie Churchill – als Kriegsheld bejubelt, verlor er nach Ende des Krieges die Wahlen
Die Vorbereitung des Angriffs begann vor mehr als zehn Jahren. Initiator war der ehemalige Mossad-Chef Meir Dagan, bekannt als der ‚Mann mit eisernen Nerven‘, der bereits 2007 in Syrien eine kerntechnische Anlage zerstören ließ. Unter seiner Führung begann die Infiltration israelischer Agenten in den Iran, die auch 2009 die geheime nukleartechnische Anlage in Ghom entdeckten.
Netanjahus Ziel war nur zum Teil, die Produktion einer Atombombe zu verzögern. Geheimdienste und Armee planten das Angriffspotenzial des Iran auf allen Ebenen zu beeinträchtigen, die politische Führung zu destabilisieren und ihre militärische Handlungsfähigkeit einzuschränken. Die Attacken konzentrierten sich auf die militärische und wissenschaftliche Führungsebene, die militärische Infrastruktur, das kommunikative Netzwerk des Militärs und die Kontrolle des Luftraums. Unabhängig vom Bau der Atombombe sollten existenzbedrohende Angriffe auf Israel innerhalb der nächsten Jahre, oder sogar Jahrzehnte verhindert werden, mittels interner und externer Destabilisierung des Regimes.


Benjamin Netanjahu reiste Anfang Juli bereits zum dritten Mal im Jahr 2025 nach Washington, um Trump zu treffen.
© SAUL LOEB / AFP / picturedesk.comKoffer und Pakete
In jahrelanger Kleinarbeit brachten Agenten Teile für eine Drohnenherstellung nach Teheran, als Fluggepäck, in Paketen mit der Post, und über Land in Privatautos. Bis in einer Wohnung die Drohnen zusammengebaut wurden und am 13. Juni militärische Ziele angriffen. Da Piloten der Kampfflugzeuge über dem kleinen Gebiet Israels das Auftanken in der Luft nicht trainieren konnten, flogen sie monatelang über das Mittelmeer in Gruppen von acht bis zehn Flugzeugen um ein Tankflugzeug herum und perfektionierten das Tanken. Als besondere Botschaft für das frauenfeindliche Regime schickte Israel einzelne Kampfflugzeuge in den Iran, die nur mit Soldatinnen besetzt waren.
Der Iran gründete eine eigene Abteilung des Geheimdienstes, die sich mit der Infiltration von israelischen Agenten beschäftigte. Die Abteilung musste nach einigen Jahre aufgelöst werden, als sich herausstellte, dass der geflüchtete Kommandant der Einheit ein Mossad-Agent war. Wie Holzwürmer durchbohrten und destabilisierten israelische Spione die militärische Struktur des Irans, noch bevor der Angriff begann.
Die erste Warnung erreichte den Iran im Juli 2024. Hamas-Chef Ismail Haniyeh starb durch eine Bombe als Gast der iranischen Regierung im offiziellen Gästehaus in Teheran. Agenten deponierten einen Sprengsatz trotz aller Sicherheitsmaßnahmen, Monate vor seiner Ankunft, gezündet 1.900 Kilometer entfernt in Tel Aviv, zu dem Zeitpunkt als Haniyeh zu Bett ging. Die zweite Warnung, die Pager-Attacke im September 2024, tötete Dutzende Hisbollah Militärs und verletzte Tausende. Beide Aktionen zeigten die Fähigkeit Israels, mit unkonventionellen Angriffen und jahrelanger, geheimer Vorbereitung den Feind zu überraschen.
Irans strategische Fehler
Laut Hudson Institute (Washington D.C.) ignorierte die Führung Irans die Warnungen und verlief sich in strategischen Fehlern:
Beziehungen Israel-USA
Iran interpretierte die Kritik der USA an der Kriegsführung Israels in Gaza als Schwächung der Achse Israel-USA, als zunehmende Isolation von Netanjahu, und rechnete mit einer US-Blockade des Plans Israels, den Iran anzugreifen.7. Oktober
Iran erwartete eine Regierungskrise in Israel nach dem Versagen der Geheimdienste, einen Sturz der Regierung Netanjahu. Neuwahlen würden den Plan, Iran anzugreifen, verzögern. Die Vorbereitung von Gegenmaßnahmen wurde verschoben.Ermordung des Hamas-Chefs in Teheran
Die Bedrohung durch israelische Agenten innerhalb des Iran wurde verharmlost. Der iranische Nachrichtendienst erklärte das Attentat zu einer einmaligen Angelegenheit und ignorierte die Infiltration des eigenen Geheimdienstes durch israelische Spione.60 Tage Frist
Trumps Warnung, dass maximal 60 Tage mit dem Iran über das Atomprojekt verhandelt werde, wurde als bedeutungslose Rhetorik des US-Präsidenten abgetan. Iran arbeitete weiter an der Anreicherung. Israel griffam 61. Tag an.Einschätzung der USA-Administration
Die Bereitschaft der Trump-Regierung, die Verhandlungen mit Iran über das Atom-Programm wieder aufzunehmen, wurde als Schwäche der US-Administration bewertet. Die USA würde aus innenpolitischen Gründen auf einen Angriff auf den Iran verzichten.Domino-Effekt der Iran-Achse
Der Zusammenbruch des Assad-Regimes, die militärische Schwächung der Hisbollah, der Hamas und der Houthis verhinderten einen Mehr-Fronten-Krieg als Gegenschlag. Dennoch wurden vonseiten des Iran keine zusätzlichen Abwehrmaßnahmen ergriffen.


Explosion von Hisbollah-Pagers auf einem Markt in Beirut als Teil einer tödlichen Angriffswelle im September 2024
© IMAGO/ABACAPRESSChina/Russland
2015 unterzeichnete Iran mit China einen Aktionsplan (JCPOA) mit gegenseitiger Zusage einer koordinierten Strategie in den Bereichen Wirtschaft, Militär und Politik. 2021 kam es zu einem weiteren Abkommen über 400 Milliarden US-Dollar Investitionen in Energie, Telekommunikation und Logistik, und einer Vereinbarung mit Russland. Iran missinterpretierte jedoch diese Abkommen als Schutzgarantie und rechnete damit, dass Israel aus Furcht vor einer Konfrontation mit China und Russland zurückschrecken würde, den Iran anzugreifen.
‚Rising Lion‘
Die israelische Strategie ‚Rising Lion‘ – Angriff auf den Iran – wird möglicherweise in die Lehrbücher moderner, militärischer Strategien übernommen werden. Nicht nur wegen des Erfolgs, sondern aufgrund der komplexen und ungewöhnlichen Kriegstechnik. Israel gelang es, den Iran durch eine Kombination von Täuschung, Verunsicherung und Zerstörung, intern und regional, politisch und militärisch zu schwächen. In den Tagen vor dem Angriff irritierte Israel den Iran mit überraschenden Entscheidungen und falschen Informationen – aufeinander abgestimmt wie Musiker in einem Orchester:
1. Das israelische Security Cabinet hat das Treffen, bei dem der Angriff auf den Iran entschieden wurde, als Meeting über Gaza-Geisel-Verhandlungen angekündigt und eine Erklärung dazu im Anschluss veröffentlicht. Die Anwesenden mussten ein ‚shomer sod‘ unterzeichnen, ein Dokument über höchste Geheimhaltung.
2. Das Büro Netanjahu veröffentlichte vor dem Freitag, dem 13. Juni, ein Statement mit der Ankündigung der Hochzeit des Sohns Avner Netanjahu in Galilee. Das Office of the Prime Minister gab mehreren Angestellten frei für das Wochenende, der Ministerpräsident sei mit familiären Aufgaben beschäftigt. Die Hochzeit fand nie statt.
3. Mossad-Direktor David Barnea und sein Kollege Ron Dermer kündigten kurz vor dem 13. Juni an, nach Washington zu reisen, um an den Vorbereitungen der 6. Runde der Atomverhandlungen mit dem Iran teilzunehmen. Weder war eine 6. Runde geplant noch flogen sie nach Washington. Der Iran verlautbarte jedoch, dass die USA beschlossen hatten, die Verhandlungen wieder aufzunehmen.


16. Juni 2025: Israels Luftabwehr fängt Dutzende iranische Raketen über Tel Aviv ab. Drei Tage zuvor hatte Israel Ziele im Iran angegriffen
© MENAHEM KAHANA / AFP / picturedesk.com4. Israel und USA koordinierten die Verbreitung von Falschmeldungen über einen Konflikt betreffend eines Angriffs auf den Iran, der den Eindruck vermittelte, dass ein Angriff aufgrund der widersprüchlichen Einschätzung der Lage nicht bevorstehen würde. Israelische Regierungsmitglieder ließen Informationen über ein erregtes Telefonat zwischen Trump und Netanjahu durchsickern, in dem Trump Israel vor einem Angriff auf den Iran warnte. Das Telefonat gab es nie. Als die Kampfflugzeuge in Israel starteten, veröffentlichte Trump das Statement: „Wir bleiben einer diplomatischen Lösung der iranischen Atomfrage verpflichtet!“
5. Die militärische Führung des Iran nützte die ‚ruhigen Tage‘ der Hochzeit des Sohns Netanjahu für ein Meeting der Militärführung. Israel wusste davon und startete die Aktion ‚Red Wedding‘ in Anspielung auf die TV-Serie ‚Game of Thrones‘, als während einer Hochzeit Robb Stark, King of the North, seine Mutter Cartelyn und Hunderte Gäste und Soldaten getötet wurden. „Wir wussten von dem Treffen“, sagte ein Sprecher der IDF, „und wir mussten sie nur dort festhalten, bis unsere Flugzeuge den Ort erreicht hatten.“ Mehr als ein Dutzend Generäle des Militärs und der IRGC (Revolutionär Garde) wurden getötet. Parallel dazu ermordete Israel die führenden Atomwissenschaftler – Operation Narnia –, die sie durch fiktive SMS-Nachrichten in eine Wohnung in Teheran lockten.
Krieg und Frieden
Im Gegensatz zur US-Administration sprach das offizielle Israel nie von einer völligen Zerstörung des iranischen Atomprogramms. Israel plante, die Strukturen für Herstellung und Einsatz von Atomwaffen zu unterwandern und zu zerstören. Die Verantwortlichen auszuschalten, die Infiltration der Kommandozentralen, der Luftabwehr, des Geheimdienstes und hat damit die internen und externen Schwächen des iranischen Militärs offen gelegt – mit dramatischen Langzeitfolgen für die iranische Führung, deren Entscheidungen aufgrund des Misstrauens gegenüber der eigenen Organisation sich verzögern und jede Geheimhaltung infrage stellen würden.
Wenn auch die große Mehrheit der Bevölkerung Israels den Angriff unterstützt, hat die Koalition Netanjahu laut letzten Umfragen die Mehrheit im Parlament verloren. Es droht Netanjahu ein Schicksal wie Churchill – als Kriegsheld bejubelt für den Sieg über den NS-Staat, verlor er nach Ende des Krieges die Wahlen in Großbritannien.
Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 30+31/25 erschienen.