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Die historische Episode, dass sich das Balkanland, in dem zuvor rund 12.500 Juden lebten, 14 Monate nach dem Einmarsch deutscher Soldaten in Belgrad als Musterschüler beim Erreichen der "Endlösung der Judenfrage" positionieren wollte, sei der Ausgangspunkt einer Erzählung gewesen, die sich zum umfangreichen Roman angewachsen habe, sagt der Autor in einem Verlagsinterview. "Hauptmotivation war, die noch ungenügend literarisierte Geschichte der serbischen Juden respektive ihres Verschwindens, also ihrer Ermordung zu erzählen." Das gelingt Marko Dinić, der 1988 in Wien geboren wurde, seine Kindheit und Jugend in Belgrad verbrachte und danach in Salzburg Germanistik und jüdische Kulturgeschichte studierte, eindrucksvoll.
In seinem 2016 in Auszügen beim Bachmann-Preis präsentierten und 2019 schließlich erschienenen Debütroman "Die guten Tage" erzählte der "serbische Autor deutscher Sprache" (Dinić über Dinić) von einer vielstündigen Busreise mit dem "Gastarbeiterexpress" zum Begräbnis der Großmutter in Belgrad. Es ist eine Reise in die alte Heimat, die auch zur Reise in die eigene Vergangenheit wird. Das "Buch der Gesichter" greift um vieles höher, auch wenn erneut die Familiengeschichte hineinzuspielen scheint. Eine der vielen Romanfiguren heißt jedenfalls Mirko Dinić - aber darüber, wie nahe ihm seine Protagonisten und ihre Geschichten tatsächlich sind, möchte Marko Dinić nichts verraten.
Es ist ein Mammut-Projekt, das sich über acht Kapitel und viele Figuren den damaligen Geschehnissen nähert und dabei auch die bis in den Ersten Weltkrieg reichende Vorgeschichte mit einbezieht. Im Zentrum steht der junge Isak Ras, der mitten in der Judenverfolgung von seiner eigenen jüdischen Abstammung erfährt. Als seine Mutter Olga einst spurlos verschwand, wurde er vom Anarchisten-Paar Rosa und Milan als Zieheltern großgezogen. Die Verhältnisse sind unübersichtlich und äußerst gefährlich. Die Nazis und ihre Kollaborateure morden, foltern und vergewaltigen. Aber auch die Partisanen sind nicht zimperlich. Jede Bewegung in der Stadt ist lebensgefährlich. Menschen verschwinden - hinter den Vorhängen ihrer Wohnungen, um ja nicht als Zeuge von Gräueltaten geschnappt zu werden, oder in Lager wie jenes am alten Messegelände. Dort sollen rund 6.300 Juden ermordet worden sein. Das "Buch der Gesichter" setzt auch ihm ein literarisches Denkmal.
Es ist eine sehr emotionale Reise, die man als Leser bei der Lektüre dieses Buches absolviert. Formulierungen wie "ein Gemurmel, das sich wie Grünspan über die frühabendliche kupferne Ruhe gelegt hatte" oder "auf ihrem Rücken trug sie die Abenddämmerung, mit deren jähem Einbruch sich die Menge zerstreute" sorgen auf den ersten Seiten in ihrer sprachlichen Überambitioniertheit für Irritation, werden jedoch bald weniger. Was bleibt, ist die Fokussierung auf Stimmungen, Geräusche, Gerüche, auf plastische Beschreibung und sinnliche Wahrnehmung. "Mein Ziel war es nicht, einen historischen Roman zu schreiben, sondern zu versuchen, eine historische Zeit fernab der 'großen Geschichte' erfahrbar zu machen", sagt Dinić. Tatsächlich gelingt es ihm immer wieder, die Atmosphäre im Serbien der 40er-Jahre so wiederzugeben, dass sie greif- und nachvollziehbar wird. Das inkludiert Hunger und Elend, Angst und Schrecken, Misstrauen und Hass, Brutalität und Bestialität. Dinić erspart uns nichts. Nicht selten möchte man das Buch einfach aus der Hand legen.
Den Überblick über die Geschehnisse dieses Episodenromans zu behalten, ist nicht einfach - nicht für die Leser, die sich aus den unterschiedlichsten Perspektiven ein Gesamtbild zusammensetzen müssen, und nicht für die Protagonisten, die unsicher sind, was sie wissen dürfen und was sie von ihren Wahrnehmungen zu halten haben. Es gibt Doppelgänger und Deckexistenzen, Verwechslungen und Fallen. Es geht um Leben und Tod - und das in unvorstellbarer Dimension.
In dieser moralischen Verwirrung geben zwei Dinge Halt: die Dackel-Dame Malka, gleichermaßen bissig wie zutraulich, und ein wertvolles Buch, das unter Wohnungsdielen vergraben wird. Eine wertvolle alte Hagada, ein Gebetsbuch für die jüdische Pessachfeier, soll vor der Zerstörung durch die Nazis bewahrt werden und als Lebensversicherung für die Zukunft dienen. Das Jahrhunderte alte Buch überdauerte den NS-Terror, nicht aber die Balkankriege. Mit einem sinnlosen Vernichtungsakt an dem Buch im Mai 1992 beendet Marko Dinić sein "Buch der Gesichter". Es geht unter die Haut. Es hält Dinge fest, die vor Jahrzehnten geschehen sind. Und die anderswo wieder und weiter geschehen. Das ist das deprimierende Fazit eines eindrucksvollen literarischen Gedenkaktes.
(Von Wolfgang Huber-Lang/APA)
(S E R V I C E - Marko Dinić: "Buch der Gesichter", Zsolnay Verlag, 464 Seiten, 28,80 Euro)
WIEN - ÖSTERREICH: FOTO: APA/APA / Zsolnay Verlag