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So etwas wie den neuen Roman des in Bulgarien geborenen Österreichers, der sein Mammut-Werk am 14. September bei einem Konzert mit den Wladigeroff Brothers im Wiener Jazzclub Porgy & Bess vorstellen wird, hat man schon lange nicht mehr gelesen. Dinev wollte aufs Ganze gehen, mit einem Buch der Bücher, das alle seine Ambitionen als Schriftsteller und Erfahrungen als Mensch in einer großen, kunstvoll miteinander verschlungenen Erzählung vereinen würde. 13 Jahre hat er an seinem Opus magnum geschrieben, und mehr als einmal hat er in dieser Zeit daran gezweifelt, ob er sein Projekt ins Ziel bringen werden können. Er hat es geschafft - und ist damit völlig zu Recht für den Österreichischen Buchpreis nominiert.
Über das Cover mäandert ein grafisch angedeuteter Wasserlauf, und ähnlich gewunden verläuft auch die Lektüre. "Man sagt ja Erzählfluss und nicht Erzählberg", erklärt Dinev im Gespräch die Wahl seiner Grundmetapher, und dass es die Donau geworden ist, an deren Ufern die wesentlichen Schauplätze liegen, ist für ihn logisch. Sie verbindet Österreich mit Bulgarien. Mit ihr gelingt es ihm, "meine beiden Identitätsströme zu verbinden". Über 2000 Kilometer flussabwärts findet sich ein abgeschiedener Ort, der wie die Hölle auf Erden wirkt: Auf einer regelmäßig überschwemmten Donauinsel errichten Proponenten des stalinistischen Regimes ein Straflager, in der ideologische Gegner interniert und zu Tode gequält und persönliche Rechnungen beglichen werden.
In diesen Abschnitten der "Zeit der Mutigen" ist die politische und persönliche Absicht des Buches am deutlichsten spürbar: Dinev rechnet ab. Er möchte Zeugnis ablegen über das, was er erlebt hat, ehe er 1990 nach Österreich flüchtete, seinen Landsleuten die Augen dafür öffnen, welches Gebäude aus Lügen und Unterdrückung sie einst über ihren Köpfen hinweg errichten ließen, und allen anderen zeigen, wohin es führen kann, wenn Verblendung und Bösartigkeit nicht rechtzeitig Einhalt geboten wird. Der Roman ist auch ein zeithistorisches Aufklärungsbuch, ein Stasi-Roman, der Bericht über eine bleierne Zeit, die ganze Generationen deformiert hat.
Dass er sein Ziel erreicht, liegt daran, dass er historische Fakten mit sprachlicher Meisterschaft zu verbinden weiß. Über Sexualität und Gewalt erzählt Dimitré Dinev in einer Sprache, die die Realität oft hinter sich lässt. Wer gequält wird, muss sein Bewusstsein vorübergehend seinem Körper entkoppeln, um zu überleben. Wer sich hingibt, wird von einem Strudel der Emotionen mitgerissen und bekommt eine Ahnung von Ewigkeit. Es sind Szenen, in denen Dinev viel riskiert, ungewöhnliche Worte findet und nachhaltigen Eindruck hinterlässt.
Auf der anderen Seite fühlt man sich im Verlauf dieses Leseabenteuers, das zeitlich und geografisch weit Auseinanderliegendes zu verbinden sucht, immer wieder ein wenig alleingelassen. Man droht verloren zu gehen in einer Vielzahl von aufregenden Episoden, intensiven Erlebnissen, vielschichtigen Figuren, die obendrein auch noch ihre Identitäten wechseln und selbst von ihren Nächsten nicht erkannt werden. Eine Kugel im Kopf muss nicht das Lebensende bedeuten - aber sie ändert alles.
Da den Überblick zu bewahren, ist im Verlauf der Lektüre, die bei diesem Werkumfang notwendigerweise auch ihre Unterbrechungen erfordert, nur schwer. Dinev gibt einem als Orientierungshilfe bloß einen sehr kursorischen Stammbaum mit, der die Verbindungen der Protagonisten mehr andeutet als erklärt. Als moralischer Kompass für die Expedition dient ein vorangestelltes Zitat des 1995 gestorbenen litauisch-französischen Philosophen und Autors Emmanuel Levinas: "Das Wunder der Schöpfung besteht darin, dass ein moralisches Wesen geschaffen wird." Dimitré Dinev hat rund um dieses Wunder einen gewaltigen Roman geschrieben. Wer sich auf ihn einlässt, kann so manche Wunder erleben.
(Von Wolfgang Huber-Lang/APA)
(S E R V I C E - Dimitré Dinev: "Zeit der Mutigen", Kein & Aber, 1152 Seiten, 37.10 Euro, Präsentation und Konzert mit den Wladigeroff Brothers am 14.9., 20.30 Uhr, im Porgy & Bess, Wien 1, Riemergasse 11)
WIEN - ÖSTERREICH: FOTO: APA/APA / Kein&Aber