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Spitzentöne: Die große, glückliche Sause der Wiener Festwochen

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7 min

©Nurith Wagner-Strauss

24 Stunden lang verzehrte die Schauspielerin Pia Hierzegger mit 100 wechselnden Partnern chinesische Nudeln. Was uns die Festwochen damit lehren wollten, bleibt ungewiss, aber das Publikum kommt wieder. Es gab allerdings Zeiten, da kam man zu Weltklasseereignissen.

Ein, zwei Stunden länger, so schrieb ich damals in meiner Kritik, hätte es schon noch dauern dürfen. 1990 war das, nach einem Gastspiel des Deutschen Theaters Berlin im Theater an der Wien. Gastgeber waren – wer sonst? – die Wiener Festwochen, die damals ehrenamtlich von der Wiener Kulturstadträtin Ursula Pasterk geleitet wurden. Was mich da so im Innersten beglückt und durchgeschüttelt hat, wollen Sie jetzt wissen. „Hamlet“ war das, übersetzt und in acht Stunden Länge inszeniert von Heiner Müller, der auch seine eigene „Hamletmaschine“ integrierte. Die Übersetzung folgt Shakespeare bis aufs Satzzeichen. Aber worum es Ulrich Mühe an der Spitze eines grandiosen Ensembles zu tun war, bedurfte keiner Erläuterung: In seiner strengen Maßlosigkeit trug dieser „Hamlet“ die versunkene DDR zu Grabe.

In gesellschaftlichen, politischen oder ästhetischen Umbruchzeiten neigt das Theater oft dazu, über seine Ufer zu treten. 1998 legte die Burg mit dem siebenstündigen „Sportstück“ die Spur zum Nobelpreis für Elfriede Jelinek. Peter Stein trotzte der überhandnehmenden Postdramatik anno 2000 in Hannover mit einem 21-stündigen, jedem Goethe’schen Wort verpflichteten „Faust“.

100 Portionen Nudeln

Jetzt aber setzten die Festwochen Steins historischem Gewaltakt noch drei Stunden drauf: 24 Stunden, ganze 100 Mal, wiederholte die Schauspielerin Pia Hierz­egger im Museumsquartier unter Anleitung zweier Australierinnen dieselbe Zehnminutenszene. Eine Frau erwartet die späte Heimkehr ihres Lebensgefährten, der die nächtlichen Friedensverhandlungen mittels Beibringung chinesischer Nudeln zu dimensionieren hofft. Die Frau provoziert ihn mit doppeldeutigen Stereotypen („Ich habe dich nicht verdient“), verwickelt ihn in einen erotischen Tanz und wirft ihn hinaus.

Den 100 männlichen Partnern, teils gecastete Laien, teils Promis, oblag es, den Text marginal zu variieren, indem sie etwa einen Anlass des Konflikts andeuteten. Die meisten murmelten Unverständliches, doch ihre in Übergröße projizierten Übersprungshandlungen versetzten das Publikum in jauchzende Heiterkeit. Bis nach zwei Stunden das beabsichtigte Kommen und Gehen einsetzte. Einer der 100, so las ich überwältigt, soll sogar gesagt haben „Sorry, dass ich gefurzt habe!“ Da konnten die Festwochen gar nicht anders, als präventiv einen „24-Stunden-Marathon über ­Liebe, Geschlechterrollen und die sensible Dynamik von Beziehungen“ zu versprechen, „ein Improvisationsstück, das süchtig macht“.

Doch als ich nach mehrstündigem Besuch am folgenden Himmelfahrtsmorgen nochmals zum Kontrolltermin einrückte, wurde ich durch keinen Erkenntnisgewinn belohnt: Der Titel „Second Woman“ war so wenig entschlüsselt worden wie der Sinn des Ganzen. Und die vorzügliche Schauspielerin Pia Hierz­egger – man würde ihr gern in einem auch vierstündigen Ibsen wiederbegegnen – hatte zwar bewundernswert durchgehalten. Doch gebietet selbst sie, Großaufnahme hin oder her, über ein zwar reiches, aber nicht unbegrenztes mimisches Repertoire. Gewiss, man kennt vergleichbare Konzepte von Marina Abramović. Doch ist deren Schaffen von Radikalität bestimmt, während man im Museumsquartier einer langen Party mit fallweisem Halbpromiwiedererkennungsfaktor beiwohnte.

Heuer wollen die Tumulte noch nicht greifen, aber die Party People strömen trotzdem

Wo blieb der Intimitätskoordinator?

Faszinierend ist, dass mindestens zwei Kritiker in gehorsamem Überschwang wörtlich das Programmheft apperzipiert haben: Süchtig sei man auf das Gebotene, das gern noch länger hätte dauern dürfen! Und eine Kollegin bestätigte, was ich schon prognostiziert hatte: Ein nichtswürdiger Gecasteter (nicht der Furzer) habe beim erotischen Pas de deux einen „Übergriff“ begangen, indem er die Schauspielerin an sich gedrückt und sich mit der Hand an ihr Gesäß verirrt habe!

Nun dachte ich stets, dergleichen sei Minimalbestand erotischer Zweier, doch scheint der Intimitätskoordinator um halb drei gerade eingenickt gewesen zu sein. Ob der Unhold schon identifiziert und via Shitstorm der Gerechtigkeit überantwortet wurde, weiß ich nicht. Der Höhepunkt der spießigen Theatersause wäre es jedenfalls.

Was wollen die Festwochen?

Um Missverständnissen vorzubeugen: Milo Rau hat die Festwochen im Vorjahr aus dem Wachkoma geweckt. Zuvor eine fade Tourneestation abgespielter Feuilletonsensationen, verwandelten sie sich zum mehrheitlich anregenden Ramba­zamba. Dauernd regte sich jemand auf (etwa über die Einladung des gar nicht anwesenden Tingelantisemiten Varoufakis), das Publikum strömte wie seit Jahren nicht mehr. Heuer wollen die an allen Ecken angefachten Tumulte noch nicht greifen, aber die Party People strömen trotzdem. Das ist nicht wenig.

Dennoch fragt man sich vorsichtig, wohin es die Festwochen verschlagen hat. Hier hat einst Harnoncourt der Originalklangbewegung die Opernbühne erschlossen. Hier hat sich Peymann mit „Faust“ und „Hermannsschlacht“ unentbehrlich gemacht. Hier hat Heiner Müller „Hamlet“ gezeigt und Luc Bondy als Playing-Captain europäische Theaterwunder gezaubert. Noch 2015 erfand der Intendant Markus Hinterhäuser Castelluccis magischen Gluck-„Orpheus“ mit einer entrückten Wachkomapatientin. Dann ging er nach Salzburg, und der überforderte Nachfolger unterwarf die Festwochen 2017 über Nacht einem provinziellen Performance-Konzept. Er wurde zu Recht gefeuert, aber statt das Zerstörungswerk rückgängig zu machen, beauftragte die neue Stadträtin den etwas weltläufigeren Bürokraten Slagmuylder mit der Fortsetzung. Jetzt belebt und durchblutet Rau mit der Fortüne des Künstlers das identische Konzept. Aber wie das 2017 einfach durchgewinkt werden konnte, bleibt ein Rätsel.

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