Vom Kassengift zur begehrtesten Eintrittskarte der Opernsaison: Hans Pfitzners „Palestrina“ wird von Thielemann und den Philharmonikern in den Himmel musiziert. Ein genialer Komponist triumphiert über Cancel-Kretins, die Nötigeres zu tun hätten
Was denn das Stärkste, Beste und Schönste gewesen sei, das man im verlöschenden Jahr gesehen, gehört oder auf anderen Wegen zu sich genommen habe: Das wird unsereins um diese Zeit ständig gefragt. Auch von sich selbst. Denn das, was muttersprachliche Förderklassler „Ranking“ nennen, hat bei aller Uneleganz auch seine Vorzüge: Man kann sich auf lauter Stattgefundenes zurückziehen, statt Prognosen zu stellen, und kann dabei die eigenen Fehlprognosen eines ganzen Jahres diskret revidieren, ohne eigens auf sie verweisen zu müssen.
Wenn Sie mich also fragen, was das Stärkste, Beste und Schönste war, das mir in diesem Jahr in Kunstbelangen untergekommen ist, so muss ich größer denken: In den vergangenen zwei, drei Jahren hat mich nichts vergleichbar in den Himmel befördert wie Hans Pfitzners „Palestrina“ an der Wiener Staatsoper. Die sich verdienstvollerweise nicht mit einer Neuinszenierung aufgehalten, sondern die 25 Jahre alte, grundsolide, beglückend unambitionierte Arbeit von Herbert Wernicke neueinstudiert hat.
Damals haben sich Interesse und Begeisterung in engsten Grenzen gehalten, was 1) am sedierenden Titeltenor Thomas Moser und 2) an den halbwegs frischen Erinnerungen lag: Jahrhundertbesetzungen mit Anton Dermota, dem auch Regie geführt habenden Hans Hotter, Eberhard Waechter, Wolfgang Windgassen oder Gerhard Stolze waren noch in den Siebzigerjahren Standard.
Ein vergleichsloses Werk
Dennoch war „Palestrina“ schon in dieser Gigantenzeit ein verlässlich wirkendes Kassengift. Denn was Pfitzner 1917 geschaffen hat, ist in der Operngeschichte vergleichslos, weil rücksichtslos gegen die Bedürfnisse des Publikums.
Erzählt wird die Geschichte des heute fast versunkenen Renaissancekomponisten Pierluigi Palestrina. Der soll eine Messe schreiben, wenn’s leicht geht die größte aller Zeiten, um das Konzil von Trient davon abzuhalten, die Musik aus dem liturgischen Gebrauch zu verbannen. Er fühlt sich aber ausgebrannt und weist den Auftrag des Kardinals Borromeo zurück, der das Meisterwerk daraufhin durch Einkerkerung des müden Meisters erzwingen will. Wobei der die Partitur schon in der Lade hätte, aber nicht damit herausrücken will.
Verstanden? Macht nichts, ich kämpfe selbst mit den historischen und musiktheoretischen Details des Stücks. Das jedenfalls, anders als Künstlerdramen wie „Tosca“ oder „Bohème“, keine Eignung zum Publikumsreißer aufweist. Dachte ich.
Und jetzt? Sind die vier Vorstellungen krachend ausverkauft, und die Ovationen nach der Wiederaufnahmepremiere machten erst nach 20 Minuten widerstrebende Anstalten, zu verstummen. Das lag am Dirigenten Christian Thielemann, der „Palestrina“ ultimativ ins Staatsopernrepertoire zurückerzwungen hat. Durchaus gegen die Bedenken der Direktion, die befürchtete, der ungeheure Aufwand an Proben und Personal werde ihr mit leeren Vorstellungen vergolten.
Doch was Thielemann im nicht endenden ersten Akt aufrufen konnte, habe ich so noch nicht erlebt. Pfitzners einzigartige, die Kirchentonarten zitierende Tonsprache eignet sich nicht für St. Margarethen. Aber wie da ins Herz eines genialen Menschen der Funke der Inspiration fällt und aufglüht, bis die „Missa Papae Marcelli“ mit der Gewalt eines Sonnenballs in der Musikgeschichte steht: Das von Thielemann und den atemberaubenden Philharmonikern auf offener Szene erzählt bekommen zu haben, wird einem niemand nehmen können. Zumal sich zumindest der Titeltenor Michael Spyres vor den olympischen Vorbildern nicht zu verbergen braucht.
Pfitzner „canceln“?
So, und jetzt zurück in die banalen Niederträchtigkeiten der Zeitläufe. In Salzburg sollen gerade ein paar Dutzend alte Nazis um ihre Straßennamen gebracht werden. Unter ihnen viele opportunistische Nullen, die nichts anderes verdient haben, sieht man davon ab, dass die Anwohner eventuell Nötigeres zu tun haben, als ihr halbes Leben in der Gestalt ihrer Postanschrift korrektheitstechnisch zu adaptieren.
Aber auf der Liste stehen auch Richard Strauss, Karl Böhm und Herbert von Karajan, denen die Stadt nichts Geringeres als ihr reputatives und faktisches Bruttosozialprodukt verdankt. Auch Pfitzners Name ist da verzeichnet, und in der Tat war er ein verschrobener, noch über das Jahr 1945 hinaus unbelehrbarer Nazi. Vergleichbar etwa dem Nobelpreisträger Knut Hamsun, den sie nach der Nazi-Besetzung Norwegens fast ins Irrenhaus gesperrt hätten, um seine politische Verblendung pathologisch zu camouflieren.
Aber mit Hamsuns Bahnbrechern der Literaturgeschichte hat das so wenig zu tun wie mit dem giftig antiklerikalen Geniewerk „Palestrina“, das schon fast aus den Spielplänen „gecancelt“ ist.
Importnazis sind gefährlicher
Man soll sich, um endlich zur Conclusio zu gelangen, lieber um aktuelle als um historische Bedrohungen kümmern. Wir kippen nämlich gerade aus allen unseren Gewissheiten: Angehörige der nämlichen Gesinnungsgemeinschaft, die sich gschaftlhubernd an Strauss, Böhm, Karajan und Pfitzner abarbeitet, ziehen mit arabischen Importnazis durch die Straßen. Öfter als einmal wurde da die Shoah vom 7. Oktober 2023 zum Akt des Widerstands umskandiert und Israel der Auslöschung vom Antlitz der Erde anempfohlen. Denen müssen wir das Handwerk legen, bevor es zu spät ist.
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Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 50/2024 erschienen.