Das Wettlesen um den Bachmann-Preis endete diesmal, wie man es sich als literaturaffiner Mensch vorgestellt hat. Zumindest gegen den Hauptpreis und die Trostpreise ist nichts einzuwenden. Die erschreckend gereizte Jury versetzt einen in Sorge. Die Zukunft ebenfalls
Das jedenfalls nimmt mich für den am Sonntag beendeten Bachmann-Wettbewerb ein: Erstmals seit 2022 ist die Entscheidung für den Hauptpreis ohne Vorbehalt zu begrüßen. Damals hat Ana Marwans betörende „Wechselkröte“ gewonnen, alles andere wäre schwer zu kommunizieren gewesen. In den jeweils zwei Jahren davor und danach hingegen wurden hoch veranschlagte Titel oft bedrückend stillos um ihre Chancen gepunktet, weil Juroren die von ihnen Nominierten an die Spitze taktieren wollten. Jetzt liegt das Abstimmungsverhalten der Juroren offen, und die Gewinnerin Natascha Gangl ist auch durch das Publikumsvotum beglaubigt.
Ein performativer, sprachexperimenteller Text, der beide Seiten zufriedenstellt, ist keine Selbstverständlichkeit, aber erzeugbar. Unter der Decke des Schweigens über einem Verbrechen an jüdischen Zwangsarbeitern atmet und rumort es, als hätten Elfriede Jelinek und Josef Winkler das Verfahren vorgegeben. Aber hier entwickelt sich alles aus der Form und den literarischen Techniken. Das genau platzierte Idiom des Tatorts im südsteirischen Dreiländereck erzeugt beklemmende Nähe, und die komplizierte Struktur des Textes erzwingt jene Aufmerksamkeit, die man ihm wegen des mitreißenden Vortrags nicht verweigern kann.
Auch die Trostpreise sind gut verteilt. Almut Tina Schmidts „Fast eine Geschichte“ wurde, wie der Siegertext, von der urteilssicheren Jurorin Brigitte Schwens-Harrant nominiert. Über Jahre wurden ihre Kandidaten beschämend aus dem Bewerb gepunktet, nun hat sie eingeschlagen. Auch dieser Text ist ein Experiment, er entwickelt aus einer Standardsituation ein surreales Beklemmungsszenario: Die Zufallsbewohner eines Vielparteienhauses verstricken sich in lebensverändernde Katastrophen, die aber allesamt nicht auserzählt werden. Bis der Leser wenigstens jenes Minimum an Aufklärung erfleht, das ihm auf anregendste Weise verwehrt bleibt.
Hoch verdient ist auch der vom Carinthischen Sommer ausgelobte Residenzpreis für die grausam zärtliche Liebesgeschichte „Wakashu oder“ der Kärntnerin Tara Meister.
Das Problem der Lücke
Das Problem logiert als gähnende Lücke im Mittelfeld: Den schätzenswerten Betroffenheitstext des in Berlin exilierten Russen Boris Schumatsky hätte ich eher bei einem Journalisten- als bei einem Literaturwettbewerb verortet. Auch der schrille Beitrag der Schweizerin Nora Osagiobare über die schamlose Welt des Privatfernsehens samt elegischer Coda hat es nicht ins Epizentrum meiner Hingerissenheit geschafft.
Ein ignorierter Siegertext
Da wäre mir Besseres aufgefallen. Was zum Beispiel sagen Sie dazu? „Annas Wohnung war nicht weit. Aber in Annas Wohnung war man weit weg. Etwas Anderes flüsterte durch die Räume, wie ein Nagen von ganz feinen Zähnchen. Die schweren Möbel standen unverrückt, die Igelit-Tischdecke wehte in keinem Wind und im geschlossenen Fenster trocknete dekadenlang ein Strauß.“
„Lausch, Kind! Das ist ein Meisterlied“, sagt Hans Sachs in den „Meistersingern“. Das hier, geschrieben von der deutschen Filmregisseurin Laura Laabs, ist ein Siegertext, der bei der Jury in keine engere Wahl gelangte, weil er Teil eines fesselnden, bild- und atmosphäredichten, souverän und eskapadenfrei erzählten Romankunstwerks ist. Jeder Leser, jeder Verlag wünscht sich so etwas. Nur nicht die Bachmann-Jury, die verlässlich mit dem inhaltslosen Totschläger-Argument „konventionell“ in die Partie grätscht. „Adlergestell“ (nach der großen Berliner Ausfallstraße) erscheint am 16. August bei Klett-Cotta, und ich prognostiziere ein Ereignis. Wohnungsinhaberin Anna im eben zitierten Textfragment ist nämlich Anna Seghers, neben Christa Wolf die größte Schriftstellerin der versunkenen DDR. Eine junge Frau im menschenleeren Gedenkraum verliert sich in ihrer eigenen Geschichte. Versetzen Sie sich in die Situation der Sechsjährigen anno 1990: In Ostberlin beginnt die Schule, aber die DDR ist weg, und die verstörte Lehrerin memoriert Texte von Rolf Zuckowski, weil das SED-konzessionierte Liedgut blitzeingestampft wurde. Das ist mit solch warmherzigem Blick durch Kinderaugen erzählt, dass man an Erich Kästner denkt. Aber der Sehnsuchtston zwischen Ironie und Melancholie, mit der die Erwachsene auf das versunkene Beste eines verworfenen Regimes zurückblickt, weist auch in die deutsche Romantik zurück, zu Novalis und E. T. A. Hoffmann. Genug geschwärmt, nur noch die Anmerkung, dass Thomas Bissingers „Ehrenfest“ (2026 bei dtv) auf gleicher Höhe logiert. Der promovierte Physiker schreibt an einem historischen Roman über seinen jüdischen Fachkollegen Paul Ehrenfest, der mit Einstein und Niels Bohr befreundet war und 1933 Suizid beging.
Die Jury und die Zukunft
Auch dieser Text war keinen Preis wert, und die Jury insgesamt bereitet mir Sorgen: Derart gereizt und schadenfroh, wie einander manche belauert haben, ist man früher nur den Autoren zu Leibe gerückt. Nicht, dass das besser gewesen wäre – amüsant war es wenigstens.
Mag sein, dass auch die Sorge um die Zukunft dem Bewerb die intellektuelle Leichtigkeit genommen hat. Nächstes Jahr werden Bachmanns Hunderter und der Fünfziger des Preises begangen. Aber dann? Allen Dementis zum Trotz steht hartes Sparen im Raum. 3Sat, das den gesamten Bewerb überträgt, war schon kurzfristig in seiner Existenz bedroht, und die ausrichtende Stadt Klagenfurt kämpft gegen den Bankrott.
Aber kein Bankrott wäre existenzbedrohender als jener des Kulturauftrags, der uns noch vom Blödsinn trennt.
Die Gewinner.
Natascha Gangl, Bachmann-Preis (25.000 Euro).
Boris Schumatsky, Deutschlandfunk-Preis (12.500 Euro).
Nora Osagiobare, Kelag-Preis
(10.000 Euro).
Almut Tina Schmidt, 3sat-Preis (7.500 Euro).
Natascha Gangl, KS-Bank-Publikumspreis (7.000 Euro).
Tara Meister, Festival-Schreiberin Carinthischer Sommer (3.000 Euro).
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