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Lydia Steier: „Oper existiert nicht im Museum“

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18 min

Lydia Steier

©Bild: Matt Observe

Nach mehr als zehn Jahren zeigt die Wiener Staatsoper wieder eine Neuproduktion von Richard Wagners „Tannhäuser“. Regisseurin Lydia Steier, gebürtige Amerikanerin und Enkelin eines Wiener jüdischen Emigranten, über Antisemitismus, Trump und woran unsere Zeit krankt.

Während die Welt gebannt auf den Rauchfang im Vatikan blickt und das Ergebnis des Konklaves erwartet, steht die Ewige Stadt auch im Fokus der Wiener Staatsoper: Dort wird an diesem 8. Mai Richard Wagners „Tannhäuser“ mit Premierendatum 22. Mai geprobt.

Man ist am Ende des zweiten Akts angelangt: Der Minnesänger Tannhäuser bereut seine Ausschweifungen im Reich der Göttin Venus und kündigt mit dem Ruf „Nach Rom!“ seine Pilgerreise zum Papst an. Plötzlich werden Handys emporgestreckt. Das Bild auf den Displays zeigt weißen Rauch. Die katholische Kirche hat einen neuen Papst! Das ist keine Szene aus der Neuproduktion von Lydia Steier. Der seltsame Zufall habe sich während der Klavierhauptrobe so zugetragen, blickt die Regisseurin auf die emotionalen Ereignisse zurück.

Die gebürtige Amerikanerin, Enkelin eines Wiener jüdischen Emigranten, ist eine der derzeit gefragtesten Regiepersönlichkeiten. Bei den Salzburger Festspielen polarisierte sie mit ihrer Deutung der „Zauberflöte“ Kritiker und Publikum. In Wien faszinierte sie vor einem Jahr mit Bernsteins „Candide“. Jetzt bezwingt sie sich Wagners frühe Oper über einen Minnesänger, der mit den Moralvorstellungen seiner Umgebung nicht klarkommt. News traf Lydia Steier in ein Probenpause.

Frau Steier, nehmen Sie in Ihrer „Tannhäuser“-Inszenierung kurzfristig noch Bezug auf die aktuellen Geschehnisse in Rom?

Nein, so eine Produktion bereitet man Jahre vor. Für mich steht bei „Tannhäuser“ ein anderes Problem im Zentrum. Es geht um Zugehörigkeit. Manche Menschen sind nicht imstande, in einer gewissen Gesellschaft zu überleben. Das ist eine Art Krankheit unserer heutigen Zeit. Im zweiten Akt befinden wir uns im Sängerkrieg auf der Wartburg. Hier lernen wir sozusagen den Hof des Landgrafen kennen. Und wir sehen deutlich, dass alle drei, Tannhäuser, Wolfram und Elisabeth, nicht in der Lage sind, in dieser Gesellschaft zu überleben. In einer Zeit, in der die Gesellschaften immer mehr nach rechts rücken, wird es viel beunruhigender, wenn man andere einschränkt.

Ich denke, es ist ein guter Moment, um sich zu fragen, was es bedeutet, überhaupt einer Gesellschaft anzugehören. Und wir versuchen, in diesem Stück unsere Zeit wie in einem Spiegel zu betrachten, aber auch durch einen historischen und ästhetischen Filter. Denn ich bin keine Regisseurin, die gerne Einkaufstaschen von einem Supermarkt auf der Bühne sieht oder fotorealistische Darstellungen ultramoderner Kostüme. Ich liebe auch das Spektakel. Wir beginnen in einem Etablissement in der Weimarer Republik. Vorbild war das Ace Hotel in Los Angeles, ein Bau im Gothic Style, wo sich einst Hollywood-Größen mit Opium zugedröhnt haben und ihre Geliebten getroffen haben. Die Kostüme sind von Otto Dix (Maler der Neuen Sachlichkeit, Anm.) inspiriert. Das ist sozusagen der verbotene Ort.

Claus Guth hat den Venusberg ins Hotel Orient, ein Wiener Stundenhotel im ersten Bezirk, verlegt. Ich konnte schon einen Blick auf Ihre Bühne werfen. Die Halle in der Wartburg sieht gigantisch aus.

Claus Guths Inszenierung habe ich nicht gesehen. Die Halle basiert auf der Architektur von Albert Speer. Wir siedeln den zweiten Aufzug 1938 an, als Zitat der „Tannhäuser“-Aufführung der Wiener Staatsoper aus diesem Jahr. Wir marschieren aus der Freiheit, der Dekadenz an einen Ort, wo all das verpönt ist. 1937 gab es die Ausstellung „Entartete Kunst“, wo genau festgelegt war, wie Kunst zu sein hatte. Den dritten Akt verlegen wir dann in eine Art gesellschaftliche Wüste. Die Menschen leben isoliert vor ihren Bildschirmen, Rituale wie gemeinsames Feiern gehören der Vergangenheit an. Man könnte das als Warnung vor der Zukunft sehen. Wohin steuern wir ohne Tannhäuser, ohne den Künstler?

Sie haben mir einmal in einem Interview erzählt, dass Ihr Großvater wegen der Nazis aus Wien emigrieren musste. War das 1938?

Mein Großvater emigrierte 1938. Seine Eltern wurden deportiert und ermordet wie der Großteil seiner Familie. Er floh mit einem Cousin, zwei Tanten und einem Onkel, sie kamen nach Nord- und Südamerika.

Und Ihre Großmutter?

Meine Großeltern hatten einander damals noch nicht gekannt. Die Eltern meiner Großmutter waren vor dem Pogrom in Russland geflohen. Meine Familie ist sozusagen ein Beispiel für jüdische Diaspora. Mein Großvater studierte Medizin in Wien. Sein Onkel war Samuel Schöngut, der war Teilhaber des Ronacher, bis es arisiert wurde. Mein Großvater liebte das Varieté seit seiner Kindheit. Schon als Kind ist er immer backstage dort herumgelaufen, hat Künstler wie Josephine Baker getroffen. Er erzählte mir so tolle Geschichten aus seiner Kindheit. Bei einem Frühstück mit seinem Onkel und Franz Lehár sagte ihm der, er sähe aus wie Jackie Coogan, das Kind aus den Charlie-Chaplin-Filmen. Der erste Akt ist eine Referenz auf diese ausgelassene Zeit.

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„Candide“: Szenenbild aus Leonard Bernsteins Vertonung von Voltaires Satire. „Candide“ als fulminantes, Epochen überspannendes Vaudeville-Stück verschaffte Stefan Herheims Theater an der Wien 2024 einen Riesenerfolg.

 © Werner Kmetitsch

Was empfinden Sie, wenn Sie heute durch Wien gehen, durch die Stadt Ihres Großvaters?

Ich glaube zwar nicht an Übersinnliches, aber man fragt sich dann schon, ob man vielleicht auf denselben Straßen geht wie Menschen, die mit einem verwandt sind. Das Ronacher ist für mich fast etwas unheimlich, weil so viel von meiner Familiengeschichte darin steckt. Mein Großvater mochte keine Opern. Er hielt das für den langweiligen Zeitvertreib von egozentrischen Reichen und sagte, die Leute auf der Bühne hätten mehr Spaß als das Publikum. Er liebte Jazz und das Varieté. Das war seine Welt. Damit ist er aufgewachsen. Ich hoffe, dass er trotzdem auf mich stolz wäre.

Haben Sie die Nationalratswahl in Österreich verfolgt? Fast wären die Rechten in die Regierung gekommen.

Ich lebe in Dresden, das ist absolut von der AfD dominiert. Ich hoffe, dass diejenigen, die die Rechten wählen, erkennen, dass sich ihre Situation dadurch nicht verbessert. Man glaubt, dass die Rechte eine Wunderwaffe ist, mit der man alles Unangenehme loswerden könne, und dann wird alles wieder so, wie es einmal war. Aber diese Zeiten, diese nostalgischen Momente unserer Kindheit, wo man überzeugt war, dass alles in Ordnung ist, egal, was kommt, sind vorbei. Das ist auch das Problem in den USA. Die Leute erwarten, dass diese brutalen Abschiebungen von Menschen nach El Salvador und jetzt nach Libyen die Vereinigten Staaten in das Paradies der 1950er-Jahre verwandeln werden, in dem jede Familie 2,5 Kinder und einen Hund und einen weißen Lattenzaun hatte. Diese Zeit ist vorbei, egal, wen man wählt. Und was die Rechten machen, ist Wählertäuschung.

Trump macht doch nichts anderes, als er angekündigt hat. Können Sie verstehen, warum Leute jemanden wählen, der eine Diktatur verspricht?

Nein, absolut nicht. Aber ich kenne Leute, die ihn gewählt haben. Die hielten seine Ansagen für Hybris. Sie haben nicht geglaubt, dass er das tatsächlich alles umsetzen würde. Aber viele trauen sich gar nicht mehr auf die Straße. Das sind arbeitende Menschen, Hauspersonal, Leute, die Kinder betreuen. Sie haben Angst, dass sie festgenommen und abgeschoben werden.

Nur weil sie wie Einwanderer aussehen?

Es ist erschreckend. Aber ich glaube, es ist immer so, dass alles ganz schlimm werden muss, bevor die Zeiten wieder besser werden. Ich habe den Eindruck das passiert immer alle 70 oder 80 Jahre.

Und der Antisemitismus, der immer stärker wird? Haben Sie in Dresden schon xenophobe oder antisemitische Vorfälle beobachtet?

Sogar schon selbst erfahren. Aber ich habe das Glück, dass ich wie eine Europäerin aussehe. Als ich mit meinem fünfjährigen Sohn auf der Straße Englisch gesprochen habe, hat mich jemand angeherrscht: „Hier wird nur Deutsch gesprochen.“ Ich antwortete ihm dann auf Deutsch, dass ich mit meinen Sohn sprechen kann, wie ich will. Aber es ist ziemlich beängstigend. Unsere Au-pairs werden immer wieder in den öffentlichen Verkehrsmitteln angepöbelt. Besonders, wenn sie aus Asien oder Afrika kommen. Und was den Antisemitismus betrifft, den hat es doch immer gegeben. Es war immer wieder in Mode, den Juden die Schuld an etwas zu geben, und jetzt ist es wieder so weit. Für meine Inszenierung von Halévys „La Juive“ habe ich viel darüber recherchiert. Diese Mythen von Juden, die Kinder umbringen, gibt es auch in den USA.

Haben Sie jemals daran gedacht, Dresden zu verlassen?

Der Vater meines Sohnes ist im Chor der Semperoper Dresden. Ich dachte, wenn wir dort wohnen, wäre das für die Familie am besten. Aber in Wien zu leben, wäre mein Traum. Ich mag das Theater an der Wien, die Arbeit an der Staatsoper …

Gibt es Pläne für diese Häuser?

Eine Produktion bringe ich ans Theater an der Wien, diese wird eine Wiederaufnahme sein.

Sind Sie jüdisch aufgewachsen?

Mein Vater war Jude, meine Mutter ist russisch-orthodox. Ich bin mit beiden Traditionen aufgewachsen. Und meine Großmutter stammt aus der Ukraine. Sie sagte immer, dass Putin die Ukraine einmal angreifen würde.

Wie blicken Sie mit dieser Geschichte auf Wagner?

Ich versuche, das so zu machen wie Daniel Barenboim (Der Dirigent war der Erste, der Wagner in Israel aufführte, Anm.). Aber was Wagner betrifft: Damals war Antisemitismus en vogue und Cosima, seine Frau, war eine der Ärgsten. Wenn ich „Parsifal“ oder den „Ring“ inszenieren würde, würde ich darauf eingehen.

Wie politisch muss oder darf Opernregie heute sein?

Für mich ist es sehr wichtig, auch in meiner Arbeit politisch zu sein und immer über unsere Zeit nachzudenken. Oper existiert nicht in einem Museum und nicht in einem Vakuum. Wir müssen die aktuelle Zeit widerspiegeln. Die zunehmende Tendenz, Menschen auszuschließen, gab es eigentlich schon, als wir mit der Konzeption begonnen haben, und ist jetzt noch schlimmer geworden. Ich denke, es ist wichtig, auch wenn man das Publikum begeistert und ihm die schönste Musik bietet, den Menschen immer zu zeigen, dass wir nicht perfekt sind.

Können Sie sich vorstellen, dass das woke Canceln oder Bewegungen wie Black Lives Matter viele dazu gebracht haben, Trump zu wählen?

Das „Black Lives Matter Movement“ ist sehr wertvoll. Denn es war wichtig, zu entdecken, in welchem Ausmaß institutioneller Rassismus und Ungerechtigkeit Teile unserer Gesellschaft in den USA leben. Uns hat man immer gesagt, dass wir wunderbar und perfekt sind und dass alles gut läuft. Aber das ist nicht der Fall. Es hat Menschen dazu ermutigt, zu lernen und zu entdecken. Jedoch sie zu canceln, weil sie das nicht gelernt und entdeckt haben, ist eine andere Sache. Und das ist das eigentliche Problem mit der Wokeness. Sie hat Menschen nicht ermutigt, etwas anderes, etwas Neues zu entdecken. Sie hat sie dafür bestraft, wenn sie nicht so weit waren, wie sie sein mussten. Es hätte eine viel klügere Art benötigt, Menschen dabei zu helfen, die Probleme, die wir haben, zu entdecken, als mit Drohungen. Ich glaube deshalb nicht, dass „Wokeness“ an sich nur gut ist. Aber dass das alles einen so hohen Preis hat, hat niemandem geholfen.

Jetzt canceln die anderen zurück. Trump schafft die Rechte der LGBTQ-Community ab, schränkt die Rechte von Frauen und Homosexuellen ein …

Wie gesagt, es wird schlimmer, bevor alles wieder besser wird. Aber wir müssen im Gespräch bleiben.

Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 20/25 erschienen.

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