Von den Wurzeln seiner Kreativität und provokanten Werbeideen erzählt Jung-von-Matt-Gründer Jean-Remy von Matt im Buch „Am Ende“. Im Gespräch beschreibt er sich als Zauderer, der sich stets mutige Verbündete gesucht hat.
Der Mitgründer der Hamburger Werbeagentur Jung von Matt hat es sich in seinem Haus in Berlin-Mitte in einem ausladenden Ledersessel bequem gemacht. Das Penthouse, das er mit seiner Frau Natalie bewohnt, erstreckt sich auf einer Fläche von 400 Quadratmetern über zwei Etagen. Das Dach aus Hunderten Kupferplatten trägt den Spitznamen „Smoking Boob“, es ist der Form eines Busens nachempfunden. Die Hauswand ziert seit dem 20. Jubiläum des Mauerfalls der Schriftzug: „Dieses Haus stand früher in einem anderen Land.“ Wie sonst soll einer von Deutschlands kreativsten Werbern, der nun Konzeptkünstler ist, wohnen?
Als beim Videointerview die Technik kurz Faxen macht, dominiert bei von Matt nüchterne Gelassenheit. Der Mann ist Schweizer – selbst wenn er seit Jahrzehnten in Deutschland lebt und arbeitet. Er ist das Gegenteil eines aufgeregten Vielredners. Sachliche Klarheit bestimmt das Gespräch. Einmal wird er während des Gesprächs seinen alten Lieferwagen, der mitten im Raum steht, ins Bild rücken. Der Citroën HY hat das gleiche Baujahr wie sein Besitzer, 1952, und beherbergt das Heimkino. „Zwischen Menschenscheu und Eitelkeit ringend“ beschrieb die FAZ die bestimmenden Wesenszüge des Werbegurus. Meistens gewänne Letztere, so das Fazit.
Das Leben wird langweiliger
Tatsächlich beschäftigt es von Matt, dass in seinem neuen Buch „Am Ende“ Jugend- und Werbe-Anekdoten besser beurteilt wurden, als die aktuellen Erzählungen über seine Konzeptkunst. (Für „Am Ende“ ließ er alle Geschichten bewerten und ordnete sie absteigend, damit der Leser nichts versäumt, wann auch immer er das Buch weglegt.)
„Ich habe dabei eine Tragik festgestellt, weil die Jury meine Kunstgeschichten am fadesten fand. Letztlich zeigt das: In meinem Leben geht es abwärts, es wird immer langweiliger. Man muss damit leben können, dass es im Leben nicht immer nur aufwärts geht.“


Das Buch
Ein Buch, das gut beginnt und dann langsam abfällt. So schreibt Jean-Remy von Matt selbst über „Am Ende“. Eine Jury hat seine „Erlebnisse und Erkenntnisse aus meinem kreativen Leben“ benotet. Wenn man zu lesen aufhört, versäumt man nichts, so das Ziel. Ein gelungenes Buch über Tempo, Widersprüche und die Kraft des Unvernünftigen. (Econ, 240 Seiten)
Die Geschichten über Ihre Mutter, die im Sommer Wiesen mit Seife „beschneit“ hat, damit Sie Ski fahren können, fallen im Buch besonders auf. Sie erzählen davon, wie sie tote Goldfische zum Meer gebracht und für die Kinder scheinbar zum Leben erweckt hat. Wie viel von Ihrer Kreativität kommt vom Aufwachsen mit so einer Frau?
Sowohl von den Genen, als auch von der Mentalität habe ich viel von meiner Mutter mitgenommen, insbesondere den Optimismus. Die Grundhaltung: Wir finden eine Lösung. Von ihr habe ich übernommen, Bedenken beiseitezuschieben und über Chancen nachzudenken. Meine Mutter ist für mich die zweitoriginellste Frau der Welt nach Pippi Langstrumpf. Gleichzeitig war ich alles andere als ein Mutterkind, ich war früh im Internat und bin mit 22 Jahren nach Deutschland gegangen. Hier lebe ich seit 50 Jahren. In dieser Zeit habe ich meine Mutter dreimal im Jahr getroffen. In der Kindheit war sie natürlich prägend. Wobei Hausfrau nicht ihr Ding war. Wollte ich sie benoten, wäre es so: Kochen: 4, Haushalt: 5, Spielen mit Kindern: 1 plus. Das hat ihr richtig Spaß gemacht.
Würden Sie sagen, dass eine ähnliche Leidenschaft später ihre Ausnahme-Karriere beflügelt hat?
Schon. Man hätte mich aber auch fördern können, wo doch klar war: Der Junge ist kreativ, der liebt es zu basteln und zu bauen. Ich frage mich schon, was meine Eltern geritten hat, mich in ein altsprachliches Gymnasium und dann auch noch in ein Kloster zu schicken. Dort konnte ich nur verlieren. Ich war unglücklich, ich war miserabel in der Schule und bin nach vier Jahren rausgeflogen. Es gab eine Strafe, die ich ungerecht fand, und ich musste hundertmal schreiben: „Gelobt sei Jesus Christus.“ Ich habe auch etwas hundertmal geschrieben, allerdings den Satz: „Gelobt sei die Freiheit.“ Das war das Ende meiner Internatskarriere.
Kreativität allein führt nicht gleich zum Erfolg. Was macht den Unterschied zwischen einem brotlosen Künstler und einem erfolgreichen Agenturgründer?
Guter Punkt. An der Stelle könnte die Internatszeit einen guten Effekt gehabt haben, weil ich damals Disziplin gelernt habe. Das Internat war sehr hart und rigoros. Im Beruf habe ich immer eine hohe Disziplin gehabt und habe letztlich viel gearbeitet. Disziplin ist dem kreativen Menschen nicht unbedingt in die Wiege gelegt. Viele Kreative scheitern genau daran. Sie haben tolle Ideen, verfolgen sie aber nicht hartnäckig genug. Als Werber erlebt man Rückschläge. Man muss immer wieder von Neuem anfangen und konstruktiv auf nicht nachvollziehbare Kommentare reagieren. Die kreative Front ist auch ein ständiger Kampf, eine Idee zu beschützen, damit sie im Sinne des Erfinders umgesetzt werden kann.


Kurz vor dem 60. Geburtstag löste von Matt ein Versprechen ein und posierte für seinen Wäschekunden Mey (2011) halbnackt.
© MeyDas ist gelungen: Jung von Matt gilt als kreativste Agenturgruppe aller Zeiten. Wie wirkt sich Erfolg in dieser Größenordnung auf die Kreativität aus?
Das ist ähnlich wie bei Sterneköchen: Ab dem Zeitpunkt, an dem du die Sterne hast, hast du nur noch Panik, sie zu verlieren. Der Druck, das Niveau zu halten und seinen Platz in den Rankings zu verteidigen, ist eine große Motivation. In meiner Karriere gab es nie einen Moment, an dem ich dachte: „Jetzt hast du’s geschafft. Jetzt lässt du’s ruhiger angehen.“ Man hat es nie geschafft. Unsere Wiener Agentur, Jung von Matt Donau, hat mir übrigens immer am meisten Freude gemacht, die zählten immer zu den besten.
Die waren offenbar gut im Kampf gegen die „Bedenkenträger“, denen Sie als Werber oft begegnet sind. Was ist denn das beste Mittel gegen solche Menschen, die jeder Idee mit einem großen „Aber“ begegnen?
Es gibt keine wirksame Strategie. Diese Menschen sind meistens hochintelligent und eloquent, nur denken sie in Problemen statt in Lösungen. Für kreative Ideen ist das gefährlich. Bedenkenträgern kann man nur ausweichen. Wir hatten das Glück, es uns leisten zu können, hin und wieder Aufträge abzulehnen, wenn wir gemerkt haben, dass nicht nachvollziehbare Kundenwünsche unsere qualitative Ansprüche gefährden.
Ihre Kampagne für Guinness ist einst am fehlenden Ironieverständnis der Kunden gescheitert. Welchen Umgang pflegen Sie mit Misserfolgen?
Das war eine wichtige Jugendsünde, lange vor unserer Agenturgründung. Sie hat mich gelehrt, dass wir Werber uns tendenziell zu ernst nehmen. Wir denken, dass die Menschen draußen sich ähnlich intensiv mit einer Idee befassen, wie wir. Die Kampagne hatte Witz, war aber zu intellektuell, zu kompliziert. Das war ein wichtiges Learning.


Für ihren mutigsten Kunden, Autovermieter Erich Sixt, posierten Holger Jung und Jean-Remy von Matt 2007 als Bettler.
© Sixt / von MattAndererseits braucht es in der Werbung auch Risikobereitschaft, um sich abzuheben, richtig? Sie beschreiben Risikoscheu als das Krebsgeschwür der Kreativität.
Klar, bloß war die Guinness-Kampagne nicht mal riskant, die war einfach zu subtil. Was die Risikobereitschaft betrifft, bin ich generell eher jemand, der sich selbst Mut machen muss. „Mensch, trau dich. Sei nicht wie deine schlimmsten Kunden“, mahne ich mich dann. Hier im Wohnzimmer steht ein Lieferwagen, der dient als Fernsehzimmer. Bei dieser Entscheidung habe ich gezögert. Ein Auto im Wohnzimmer? Stinkt das nach Öl? Wie sieht das aus? So etwas kann man ja nicht testen. Auch vor der Dankesrede bei meiner Ehrung war ich zögerlich. (Anm.: Von Matt wurde 2006 für seine Verdienste als Werbetexter geehrt, Bundeskanzler a. D. Gerhard Schröder hielt die Laudatio).
Sie wollten das Publikum zu einer Schweigeminute für verstorbene Ideen aufrufen.
Genau. Es war sehr feierlich mit vielen hochkarätigen Gästen. Das war riskant. Ich war zögerlich, weil ich ein eher ängstlicher Mensch bin. Mein Partner, Holger Jung, hat mir Mut gemacht: „Mach das! Wenn es schiefgeht, reden wenigstens alle darüber!“ Meinen mangelnden Mut habe ich dadurch egalisiert, dass ich mich überall mit mutigen Menschen verbündet habe. Mein Partner ist wirklich mutig. Mein über eine lange Zeit wichtigster Kunde Erich Sixt ist sehr mutig. Bei Entscheidungen, wie dem Auto im Wohnzimmer war ich zunächst auch zögerlich. Aber ich habe immer mutige Menschen um mich gehabt.
Wie beurteilen Sie denn die heutige Zeit der Empörungskultur und der Shitstorms. Was bedeutet beides für die Kreativität?
Ich halte es für den Grund, dass der Werbung die Füße eingeschlafen sind. Sie ist sehr langweilig geworden. Mir begegnet selten eine Werbung, bei der ich sage: „Wow, die hätte ich gern gemacht!“ Das hat viel mit der Angst vor Empörung und bösen Reaktionen zu tun und fatalerweise ist diese Angst begründet. Macht man heute in der Werbung etwas sehr Mutiges, ist man sofort im Kreuzfeuer der Meinungen. Es ist eine sehr schwierige Zeit für Kreativität.


„Shining Forks“ nennt sich von Matts aktuelles Upcycling-Kunstprojek: Lampen aus Heugabeln und Wäschetrommeln: „Ich habe es schon immer geliebt, einen Gegenstand so lange zu betrachten, bis er mir eine neue Geschichte erzählt.“
© von MattSie waren bei Kanzlerwahlen für Gerhard Schröder und Angela Merkel kreativ und wollten dieses Jahr Robert Habeck ins Amt begleiten – mit dem Slogan: „Stell dir vor, der nächste Kanzler ist kein Politiker, sondern ein Mensch.“ Aus der Werbe-Idee wurde nichts. Warum?
Die Entscheidung wurde in der Partei breit diskutiert. Es kamen Bedenken auf, dass wir mit dieser Zeile implizieren, die anderen Kandidaten seien keine Menschen. Wenn solche Diskussionen entstehen, findet man schwer Argumente. Ich fand das extrem schade, denn gerade in diesem Wahlkampf zählte nur Mut und Klarheit. Was beides bringt, haben die Linken mit ihrer konsequent gespielten, klaren Botschaft gezeigt. Das war die werbliche Erfolgsstory dieses Wahlkampfs.
Ihre Kreativität leben Sie heute in der Konzeptkunst aus. Warum war dieser Wechsel wichtig?
Nach fünf Jahrzehnten als Dienstleister hatte ich Riesenlust, kreativ selbstbestimmt zu arbeiten. Ich habe Freude daran, Dinge zu bauen und Freude an Ideen. Mir ging auch die Flüchtigkeit unserer Arbeit zuletzt wahnsinnig auf die Nerven. Früher hatten Werbeideen manchmal für viele Jahre Bestand, aber die Zeiten sind vorbei. Heute möchte ich Ideen verwirklichen, die man auch in zehn Jahren noch angucken kann. Ein erster Ansatz in diese Richtung war die Fassadenbemalung an unserem Haus: „Dieses Haus stand früher in einem anderen Land.“
Mein Todeszeitpunkt macht mir keine Angst. Mir würde es eher Angst machen, 105 Jahre alt zu werden
Noch davor haben Sie 2002 die Carpe Vitam Clock geschaffen, die die verbleibende Lebenserwartung eines Menschen in Sekunden herunterzählt. Demnach bleiben Ihnen noch zwölf Jahre, bis März 2037. Haben Sie wirklich einen derart gelassenen Umgang mit der eigenen Vergänglichkeit?
Schon. Auch da ist meine Mutter ein Vorbild gewesen. Sie ist in meinem jetzigen Alter gestorben und sogar im Angesicht einer unheilbaren Diagnose war sie positiv neugierig. Man hatte nicht den Eindruck, sie klammert sich wie verrückt ans Leben. Sie hatte eine Neugier auf alles am Leben und der Tod war davon ein Teil. Mein Todeszeitpunkt laut der Uhr macht mir keine Angst. Mir würde eher Angst machen, wenn mir jemand bescheinigt, dass ich 105 Jahre alt werde. Ein hinausgezögerter Tod bringt niemanden weiter. Denken Sie an die Wohnungsnot und die überalterte Gesellschaft. Ich halte das für keine gute Idee.
Nachdem Sie die besten Anekdoten aus Ihrem Leben aufgeschrieben haben: Haben Sie eine Erkenntnis darüber gewonnen, was ein gutes Leben ausmacht?
Mir ist bewusst geworden, wie wichtig es war, etwas zu finden, wo ich einen Unterschied machen kann. Mein erster Tag als Werbetexter war ein Schlüsselmoment. Mein Leben davor war auf gewisse Weise unglücklich, ich war durchschnittlich. Ich wusste nichts mit mir anzufangen. Ab diesem ersten Tag in der Werbung habe ich gemerkt, ich kann da mithalten, ich kann bestehen, ich kann sogar wachsen. Etwas zu finden, in dem man einen Unterschied machen kann, halte ich im Leben für entscheidend. Ich bin zum vierten Mal verheiratet, ich habe zwei Kinder – natürlich macht man Fehler und das Buch hat mir geholfen, vieles zu hinterfragen. Der letzte Satz lautet: „Je ne regrette rien, schönes Lied, dummer Text.“ Ich finde, man muss Dinge bereuen, sonst hat man nicht richtig gelebt.
Jean-Remy von Matt, 72
Jean-Remy von Matt wuchs als ein Sohn eines Schweizers und einer Belgierin in Brügge auf. 1991 gründete er mit Holger Jung die Werbeagentur Jung von Matt, laut Branchenblatt W&V die kreativste Agenturgruppe aller Zeiten.
Ihre Kampagnen für Sixt, Edeka oder Mercedes-Benz und Slogans wie „Geiz ist geil“ oder „Wer hat's erfunden?“ prägten die Branche. 2018 wechselte er in den Aufsichtsrat und widmet sich seitdem der Konzeptkunst. Mit seiner vierten Frau Natalie lebt von Matt in Berlin. Er ist Vater zweier erwachsener Söhne.
Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 32/25 erschienen.