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Igor Levit: „Mit Opportunisten umzugehen, ist schwer"

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Igor Levit

©Peter Rigaud

Als Pianist agiert Igor Levit seit mehr als zehn Jahren an der Weltspitze. Als Aktivist engagiert er sich unermüdlich für Menschenrechte. Ein Gespräch über Boykottmaßnahmen gegen Künstler, Antisemitismus, die Tränen von Kanzler Merz und seine Konzertreihe zum Gedenken an Schostakowitsch im Musikverein.

Wer hätte es für möglich gehalten, dass jüdische Künstler 80 Jahre nach der Shoah daran gehindert werden, ihren Beruf auszuüben? Diese Frage stellte News bereits vor zwei Wochen zur Debatte, als ein Konzert des israelischen Dirigenten Lahav Shani mit den Münchner Philharmonikern in Belgien abgesagt wurde. Maßgebliche Personen aus der Kultur lehnten in einer Umfrage Boykottmaßnahmen gegen Künstler aus Israel strikt ab.

Unvorstellbar aber, dass man so etwas überhaupt fragen muss? Nicht für den Pianisten Igor Levit. „Natürlich habe ich mit solchen Dingen gerechnet“, stellt er im Gespräch mit News fest.

Vor mehr als zehn Jahren spielte er sich an die Weltspitze der Klassik. Für die New York Times ist der 38-Jährige der bedeutendste Künstler seiner Generation. Doch Levit ist mehr als ein Virtuose an den schwarzen und weißen Tasten. Sein Engagement für Menschenrechte und gegen Antisemitismus verschaffte ihm 2020 eine Würdigung des Internationalen Auschwitz-Komitees und den Verdienstorden Deutschlands. Seine jüdische Herkunft spielte für ihn damals keine zentrale Rolle. Doch seit dem Terrorangriff der Hamas in Israel am 7. Oktober 2023 stellt sich ihm die Frage, wie er als Bürger, als Künstler und als Jude mit dieser von Krieg und Zerstörung geprägten Welt umgehen solle. Anlass für eines der raren Interviews mit dem Weltpianisten ist seine Konzertreihe, die er zum Gedenken an den von Stalin verfolgten Komponisten Dmitri Schostakowitsch im Musikverein vom 17. bis 22. Oktober gestaltet.

Herr Levit, mit Schostakowitsch verbinden viele dessen Furcht vor Stalin. Später musste er sich ständig rechtfertigen, weil er unter diesem Regime weitergearbeitet hat. Eine ähnliche Situation erleben heute viele Künstler, und das nicht nur in Russland. Wiederholt sich die Geschichte?

Das hat sich über die Jahrzehnte nie geändert. Auch heute müssen Künstler in Ländern agieren, in denen sie nicht frei sein können. Aber es wäre jetzt zu banal, in wenigen Worten unterschiedliche Zeiten zu vergleichen. Der entscheidende Aspekt bei meinem Programm ist ein anderer. Es ist das Andenken an das Leben. Die Feier eines Lebens. Schostakowitsch zum Beispiel hat seine zweite Klaviersonate seinem verstorbenen Lehrer gewidmet. Er hat sie in der Zeit der Belagerung seiner geliebten Heimatstadt Sankt Petersburg, damals Leningrad, geschrieben. Es ist ein Werk, das eines Lebens gedenkt.

Die „Lieder ohne Worte“ von Mendelssohn, die ich danach spiele, stimmen ebenfalls in diese Richtung ein. Und am Ende kommt Opus 111, Beethovens letzte Klaviersonate. Die Art und Weise, wie nach so viel Dunkelheit und so viel Schmerz dieses Werk uns in überirdische Schönheit entlässt, war für mich das bestmögliche Ende dieses Abends. Dieser Bogen vom Dunkel ins Licht steht im Zentrum meines Programms, nicht Fragen nach politischer Verfolgung.

Das Dunkel manifestiert sich in Ravels Vertonung des jüdischen Trauergebets Kaddisch, mit der Sie Ihre Konzertreihe eröffnen. In den letzten Zeilen dieses Gebets heißt es: Möge uns der gnädige Himmel Ruhe, Frieden und Glück gewähren. Das passt genau auf unsere Gegenwart. Hat Sie dazu diese düstere Zeit, der immer ärger werdende Antisemitismus inspiriert?

Es ist ein heiliges Trauergebet. Das Gedenken an ein Leben steht klar im Zentrum. Und ja, es ist natürlich geprägt von der heutigen Zeit. Ich kam auf dieses Stück, als ich letztes Jahr am 7. Oktober mit Christian Thielemann ein Konzert in Berlin gegeben habe, wo wir unter anderem auch Mendelssohn aufgeführt haben. Ich habe mir überlegt, welche Zugabe ich spielen könnte, und dann kam ich durch Zufall auf Ravels Kad­disch. Dieses Stück war mir zuvor nicht bekannt. Dieses Stück aufzuführen, bedeutete mir unglaublich viel. Dass es jetzt das Herz meiner ganzen Konzertwoche im Wiener Musikverein bildet, ist umso wertvoller für mich.

Sie haben bei der Eröffnung der Reichenbach-Synagoge in München gespielt. Wie war das für Sie, als der deutsche Kanzler bei seiner Rede in Tränen ausgebrochen ist?

Ich habe einige Veranstaltungen im jüdisch-deutschen Kontext in den letzten Jahren erlebt, wie Sie sich vorstellen können. Die Eröffnung der Reichenbach-Synagoge war für mich wahrscheinlich der berührendste und schönste Abend dieser Art. Erstens wegen Rachel Salamander, die es nach vielen Jahren erreicht hat, dass diese Synagoge endlich wieder eröffnet wurde. Und ja, ich habe Friedrich Merz aufmerksam zugehört.

Und ich empfand einen Aspekt als besonders wertvoll: Die Ernsthaftigkeit, der Ton und alles an dieser Rede hatte für mich eine enorme Glaubwürdigkeit. Das habe ich ihm auch gesagt. Ich habe ihm geglaubt. Es war die richtige Rede vom richtigen Mann zur richtigen Zeit. Gleichzeitig aber hatte ich das Gefühl, an diesem Abend einem alten, helleren Deutschland zugehört und zugeschaut zu haben. Ich habe diese Eröffnung mit zwei Gefühlen verlassen: Ich war dankbar und glücklich und gleichzeitig, aufgrund der Gegenwart, in der wir leben, aufgrund eines immer stärker werdenden Antisemitismus auf europäischem Boden auch zutiefst traurig.

Merz erwähnte diese Gegenwart auch. Er verwies darauf, dass jüdisches Leben heute Polizeischutz braucht. Ist das nicht unsäglich?

Das ist aber eben leider die Normalität.

Ob sich ein Künstler äußern will oder nicht, darf er doch bitte selber entscheiden

Igor Levit

Der Antisemitismus ist jetzt in allen Bereichen offen zu spüren. Ein Restaurant im bayerischen Fürth will keine israelischen Gäste. Die Münchner Philharmoniker wurden in Belgien ausgeladen, weil ihr Dirigent Lahav Shani ein Israeli ist. Hätten Sie es für möglich gehalten, dass jüdischen Künstlern verwehrt wird, ihren Beruf auszuüben?

Die Antwort ist ja. Aber alles, was ich dazu sagen will, ist: Wir müssen ein bisschen aufpassen, hier die Begriffe nicht zu vermischen.

Staatsoperndirektor Roščić sagte, die Absage könnte vorauseilender Gehorsam gegenüber einem Meinungs-Lynchmob gewesen sein. Sie treten im November mit Lahav Shani in München auf. Sie nannten die Absage des Konzerts in Belgien ein fatales Signal, wegen des Boykotts eines Künstlers oder weil er Israeli ist?

Ich stimme dem zu, was Ihnen Bogdan Roščić dazu gesagt hat. Denn er gehört zu jenen, die nachdenken, bevor sie sprechen. Was hier passiert ist, ist auch Antisemitismus seitens derer, die einen Künstler, nur weil er ist, wer er ist, kollektiv für etwas zur Verantwortung ziehen, wofür er keine Verantwortung hat. Und dann auch noch so zu tun, als hätte er sich nicht geäußert, zumal Lahav Shani sich ja schon geäußert hat, ist ein ekelhafter Akt. Das habe ich mehrfach gesagt. Allgemein gilt: Ob sich ein Künstler äußern will oder nicht, darf er doch bitte selber entscheiden. In diesem Fall hat Lahav sich sogar bereits positioniert. So zu tun, als hätte Lahav sich noch nicht positioniert, macht das opportune, feige und ekelhafte Vorgehen der Belgier umso schlimmer.

Um noch einmal auf Ihre vorangegangene Frage zurückzukommen, natürlich habe ich mit solchen Dingen gerechnet. Lahav ist nicht der Einzige, dem das passiert ist, allein in den letzten zwei Wochen! Michel Friedman wurde aus ähnlich feigen Gründen von einer Lesung ausgeladen, die in über einem Jahr hätte stattfinden sollen. Wir haben alle Übung, mit Antisemitismus umzugehen. Die Situation ist schon schlimm genug, aber mit Opportunisten, mit deren Feigheit, deren fehlender Haltung umzugehen, das ist sehr schwer.

© Peter Rigaud

Steckbrief

Igor Levit

Igor Levit wurde 1987 in Nizhni Nowgorod geboren. Im Alter von acht Jahren übersiedelte er mit seiner Familie nach Hannover. Sein Klavierstudium absolvierte er an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover mit der höchsten Punktzahl in der Geschichte des Instituts. 2019 wurde er als Professor an seine ehemalige Universität berufen. 2018 wurde er mit dem „Gilmore Artist Award“ ausgezeichnet, der nur alle vier Jahre an einen klassischen Pianisten vergeben wird und als einer der höchstdotierten und prestigeträchtigsten Musikpreise weltweit gilt. Levit lebt in Berlin.

Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 41/2025 erschienen.

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