Stefan Herheim: "Ohne kulturelle Aneignung kann es kein Theater geben"

Der Norweger Stefan Herheim zählt zu den gefragtesten Opernregisseuren der Gegenwart, denn er inszeniert die Musik. Seit der Spielzeit 2022/23 leitet er das Theater an der Wien.

von Stefan Herheim © Bild: News/Ricardo Herrgott

Steckbrief Stefan Herheim

  • Geboren am: 13. März 1970 in Oslo, Norwegen
  • Ausbildung: Cello- und Gesangsausbildung, Studium der Opernregie an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Hamburg
  • Beruf: Opernregisseur und Intendant
  • Wohnhaft in: Wien

Die Proteststürme auf offener Szene, die ein junger Norweger namens Stefan Herheim anno 2003 mit seiner verwegenen Inszenierung von Mozarts "Entführung aus dem Serail" auslöste, ließen Salzburg erbeben. Aber der zuvor kaum bekannte Tenor Jonas Kaufmann, der sich todesmutig durch den Tumult gesungen hatte, war nachher ein gefragter Mann. Und auch für den Provokateur aus dem hohen Norden führte der Eklat, der sich unter anderem am voluminösen Gesäß des Haremswächters Osmin entzündet hatte, in die Beletage. Er inszenierte in Bayreuth, wo man Experimenten traditionell aufgeschlossener ist, in London, Brüssel und Berlin und kehrte 2013 mit Wagners "Meistersingern" im Glanz nach Salzburg zurück.

Für die "New York Times" ist Herheim einer der innovativsten Opernregisseure der Gegenwart. Wobei man seine Inszenierungskunst mit ebensolcher Berechtigung konservativ nennen könnte: Denn der ausgebildete Cellist zählt zu den immer rarer werdenden Vertretern seiner Profession, die sich ohne Wenn und Aber an der Musik orientieren. Als Roland Geyer nach 16 Jahren seinen Rückzug vom Theater an der Wien ankündigte, nannte News Herheim gleich als interessantesten Nachfolger.

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13 Premieren

Herheims Berufung erfolgte 2017, und er hat das Haus gleich in MusikTheater an der Wien umbenannt. Der Name ist Programm, betont er doch die Synthese von Musik und Theater. 13 Premieren sind geplant, vier in der Kammeroper, neun im Museumsquartier, wohin man wegen des Umbaus der geschichtsschweren Immobilie - im Theater an der Wien wurden nebst anderen "Fidelio" und "Die lustige Witwe" uraufgeführt -bis 2024 ausweichen muss. Zwei Inszenierungen besorgt der Intendant in der ersten Spielzeit selbst, zunächst die Eröffnung mit Janáčeks "Schlauem Füchslein", Premierendatum ist der 15. Oktober, zu Weihnachten Menottis Märchenoper "Amahl und die nächtlichen Besucher".

Ob andere seinen Job unter den gegebenen Bedingungen angenommen hätten? Leicht hat es Herheim nicht. Ursprünglich hatte man ihm zugesagt, dass ihm im Herbst 2022 ein voll funktionsfähiges Haus zur Verfügung stehen würde. "Ich wusste aber, dass es weit mehr braucht, um das 220 Jahre alte Gebäude nachhaltig zu sichern, und bat um eine neue Prüfung der Bausubstanz, wohl wissend, welche Konsequenzen eine Generalsanierung für meine Intendanz haben würde", stellt er im News-Gespräch klar.

Ein Opernhaus zu übernehmen, hatte er bis vor einigen Jahren nicht einmal in Erwägung gezogen. Doch nennt er die Veränderungen der Opernwelt als Herausforderung. Marktwirtschaftliche Mechanismen gewännen immer mehr an Bedeutung, die Grenzen zwischen wahrer Kunst und künstlicher Ware seien am Verschwimmen. "So ist an vielen Opernhäusern eine Unverhältnismäßigkeit zwischen Kunst und Betrieb entstanden, beispielsweise in der Disposition von Probenzeiten, Abwesenheiten von Starsänger*innen oder eine Prioritätensetzung, die in der Praxis kunstfremd ist", erklärt er, politisch korrekter Sprache verpflichtet.

Er folge stets seinem künstlerischen Gewissen. "Ich kann mich weder entfalten noch entwickeln, wenn ich mich an kunstfeindliche Arbeitsbedingungen anpassen und als Regisseur um jede benötigte Arbeitsstunde auf der Bühne kämpfen muss", beschreibt er die Herausforderungen des Berufs. "Wenn mir die Pariser Oper eine ,Jenůfa' anbietet und von mir erwartet, dass ich in knapp fünf Probenwochen und mit vier Bühnenproben etwas Außergewöhnliches schaffe, kann ich nur staunend ablehnen."

Sein Vorbild sei Maria Callas, kommt er auf die "begehrteste Sängerin aller Zeiten" zu sprechen. "Sie hat vor allem eins gefordert -dass ausreichend geprobt wird! Dabei wollte sie wie alle anderen behandelt werden, kam mit ihrem Camping-Bett ins Theater und sagte, sie würde, wenn nötig, gerne bis in die Nacht hinein proben. Es ging ihr also um das Ganze." Wie ihm selbst, was seine Arbeiten belegen.

Sehnsuchtsort Oper

Für sein "Füchslein" habe er sieben Wochen eingeplant. "Sechs Wochen hätten vermutlich gereicht", räumt er ein, "doch da es sich um unsere erste Produktion in unserem gerade erst bezogenen Ausweichquartier handelt, mussten wir Zeit für Unvorhersehbares einplanen."

Janáčeks philosophische Märchenoper über einer junge Füchsin, die von einem Förster gefangen wird, sich befreiten kann und am Ende erschossen wird, sei für ihn eine Hommage an die Verwandlungskraft des Musiktheaters, erklärt Herheim.

"In der Verkleidung einer Fabel birgt das eigensinnige Werk existenzielle Erkenntnisse über das menschliche Dasein", merkt er an. So lerne der Förster durch die Versöhnung mit seiner eigenen Sterblichkeit, im Einklang mit der Natur zu leben.

"Kunst", setzt Herheim fort, "findet im Inneren statt, und was wir auf der Bühne bringen, kann nur als Versuch gelten, die Sinne und die Imagination der Zuschauer anzuregen. Nur wenn uns das gelingt, erlebt die so oft für tot erklärte Oper ihre Wiedergeburt und beweist sich als Teil eines kulturellen Kreislaufs." Deshalb werde der Wald nicht nur als ein Stück künstlich dargestellter Natur gezeigt, sondern als Sehnsuchtsort, "den man wie die Oper selbst immer wieder betritt, um die Geschichten seiner Bewohner neu zu entdecken". Papageno und Papagena, Otello und Desdemona treten in der Produktion als Zitate auf. Und da der venezianische Feldherr heute nicht ohne Vorkehrungen gegen "Blackfacing"-Vorwürfe auf die Bühne kann, wurde ein schwarzer Sänger des Schönberg-Chors, der auch den Part des Froschs singt, gefragt, ob er mit dem stummen Otello ein Problem hätte. Der Mann habe laut gelacht und sich riesig über die Anfrage gefreut.

»Ich will nicht Geschichte im Namen der Toleranz umschreiben«

Stefan Herheim: "Ich will keine Verdrängung"

Schränkt politische Korrektheit denn nicht die Kreativität ein? "Eher triggert sie meine Fantasie und meinen Ungehorsam gegenüber der Forderung, die Geschichte im Namen der Toleranz umzuschreiben. Ich möchte in einer Gegenwart leben, die keine Verdrängung oder gar Austilgung der Kulturgeschichte betreibt, sondern ihre Erkenntnisse benutzt, um die Zukunft besser zu gestalten. Das Problem der ,kulturellen' Aneignung muss sehr differenziert betrachtet werden, denn ohne sie kann es eigentlich kein Theaterspiel geben. Dieses lebt ja gerade davon, dass sich jemand in jemanden hineinversetzt, der er oder sie nicht ist, der er aber durch eine von Empathie und Einsicht getriebene Vorstellungskraft wird." Der Spielplan führt zum nächsten tagesaktuellen Thema, zur Debatte um russische Kultur.

Denn im April kommt Mieczysław Weinbergs "'Der Idiot" zur Premiere. Der polnische Komponist war vor den Nazis in Stalins Reich emigriert, und die Vorlage zur Oper stammt von Dostojewski. Für das Werk habe man sich entschieden, als klar war, dass man ins MuseumsQuartier übersiedeln müsse, und das war lange vor dem Krieg, sagt Herheim. Denn hier könne man aufgrund des Orchestergrabens und der akustischen Verhältnisse auch größer besetzte Werke spielen, etwa Bergs "Lulu", eine Kooperation mit den Festwochen. Mit Nachdruck fügt er hinzu: "Für mich kommt es nicht in Frage, russische Kunst wegen Putins Wahnsinn auszuschließen. Auch Mozart wird ja nicht schlechter, wenn es einem österreichischen Kanzler etwas anzukreiden gibt."

Keine Frage auch, dass russische Künstler singen werden, vorausgesetzt man kann sie nach Wien einfliegen lassen und für jeden die Arbeitserlaubnis bekommen.

Auch Auftritte von Teodor Currentzis und MusicAeterna seien nicht auszuschließen,doch habe man mit eigenen Baustellen gerade genug um die Ohren und für die Zeit im MuseumsQuartier spannende Ensembles verpflichtet. Für alles danach gebe es zudem noch keine finanzielle Planungssicherheit.

Soll man etwa Knut Hamsun verbieten, den norwegischen Literaturnobelpreisträger, der sich im Alter mit Hitler gemein machte? "Ich würde dieser Aufforderung sofort widersprechen. Als gebürtiger Norweger mit einer deutschen Mutter kam ich früh in Berührung mit dem Dilemma der Schuld und der ideologischen Ambivalenz, der ich dann in meiner Auseinandersetzung mit Wagners Werk besonders nachgegangen bin. Hamsun ist ein Sonderfall, denn beim Lesen seiner zutiefst humanistischen Werke versteht niemand, wie sich dieser Mensch so verblenden lassen konnte."

Eigenes Profil

Jetzt gehe es darum, ein eigenes Profil zu entwickeln, neue Wege einzuschlagen, in Wien unbekannte Konstellationen präsentieren zu können. Herheim nennt die Regisseure Tobias Kratzer und Eve-Marie Signeyrole und die Dirigentinnen Giedrė Šlekytė, Christina Pluhar.

Auf Namen wie den des epochalen Regisseurs Peter Konwitschny wird man indes vergeblich warten. "Peter weiß sehr wohl, dass er für mich ein Leuchtturm ist, einer der größten, von dem ich selbst sehr viel gelernt habe. Aber Roland Geyer hat mit diesem Namen sein Haus 16 Jahre lang geprägt, und ich bin nicht nach Wien geholt worden, damit alles wie gehabt weitergeht. Ich denke, auch Peter hat Verständnis dafür."

Wie will er sich von den ebenfalls innovativen Konzepten der Staatsoper und der Volksoper unterscheiden? Bessere Absprachen bei der Programmierung seien die Lösung, sagt Herheim. "Und im Gegensatz zu meiner Kollegin an der Volksoper werde ich nur noch an meinem eigenen Haus inszenieren. Denn ich bin vor allem deswegen nach Wien gekommen, weil ich an einem Stagione-Betrieb wie am MusikTheater an der Wien die besten Voraussetzungen habe, das Schaffen von Kunst in den Mittelpunkt des Betriebs zu stellen."

Und das unter einzigartigen Voraussetzungen. "Wir schaffen etwas, was es sonst weltweit nicht gibt -13 Premieren im Jahr, womit wir im Prinzip ein ganzjähriger Festivalbetrieb sind. Das ist die Stärke, zugleich die Herausforderung und der Grund, weshalb ich dieses Haus als inszenierender Intendant leite. Repertoirehäuser", setzt er fort, "müssen täglich Vorstellungen spielen und sind dafür von festen Ensembles abhängig. Dies ist aber mit den heutigen Ansprüchen kaum mehr in Einklang zu bringen, da die Ensembles heute ganz anders funktionieren als früher. Es gibt die einstige Exklusivität nicht mehr, womit ein Haus auch keinen eigenen Mozart-Ton oder einen eigenen Wagner-Stil mehr entwickeln kann. Überall treten dieselben Künstler*innen auf und dieselben Inszenierungen wandern von Haus zu Haus. Deshalb habe ich mich meinem eigenen Haus gänzlich verschrieben."

Das MuseumsQuartier sei dabei ein wunderbarer Ort, um sich neu zu erfinden. "Wir hoffen, hier ganz neue Publikumsschichten zu gewinnen ohne die alten zu verlieren. Jedenfalls werden wir vielfältig ertüchtigt und erprobt sein, wenn wir das alte Haus im neuen Glanz einnehmen, denn gegenwärtig sprengen auch wir unser Budget durch die explodierenden Betriebskosten und warten diesbezüglich auf eine klare Direktive seitens der Kulturpolitik." Womit man für das Unternehmen nur Gottes Beistand erbitten kann.

Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 39/2022 erschienen.