"Weht Morgenathem an die Frühjahrsblüthe ..."

Mitten im Ersten Weltkrieg trauerte Karl Kraus einem seit 14 Jahren "gecancelten" Laut nach. Wenn wir begreifen, dass Sprache viel, wenn nicht gar alles ist, können wir die Künstliche Intelligenz verlachen

von Heinz Sichrovsky © Bild: NEWS

Was wollte ich Ihnen in diesem Doppelheft nicht alles erzählen, um Sie für die nächsten 14 Tage zu verproviantieren! Meine Freude über die vier Österreichischen Filmpreise für Marie Kreutzers "Corsage" wollte ich Ihnen mitgeben. Und meine Enttäuschung darüber, dass die Regisseurin meinte, durch Hinterlegung anonymen Latrinentratschs bei der Korrektheitsstaatsanwaltschaft Kronzeugenstatus anstreben zu müssen. Heißt: Wenn bei fremden Dreharbeiten etwas strafrechtlich Relevantes vorgefallen ist und die Betroffenen Judizierung wünschen, soll ein ordentliches Verfahren in Gang gesetzt werden. Das würde ich aber auch gegen Präventivdenunzianten und Errichter anonymer schwarzer Listen anstrengen: Die Zahl der Schuldlosen, die unter Bassenavorerhebung stehen, ist schon nach wenigen Tagen beträchtlich.

Dann wollte ich Sie warnend darauf hinweisen, dass eine andere Existenzvernichtungskampagne, die gegen den Dirigenten Teodor Currentzis, gefährlich zu greifen droht. Darüber unterhalten wir uns in 14 Tagen. Bis dahin bitte ich Sie: Halten Sie mit Ihrer Aufmerksamkeit, Ihrem Protest dagegen, stürmen Sie seine zusehends selteneren Konzerte. Schonen Sie dabei auch renommierte Institute nicht und schätzen Sie mit mir den Intendanten der Salzburger Festspiele für seine Loyalität: Genau dafür leitet man ein Festival, einen Konzertsaal, ein Orchester, dass man nicht jedem Schreihals vorauseilend zu Diensten sein muss.

Dann allerdings las ich von der Tragödie der 200 Kollegen, die bei "Bild" angeblich der KI, in Wahrheit aber einer von Gewissen befreiten Führungsgarnitur geopfert werden (abstoßend die Freude in den Bobo-Foren über die Zerstörung von 200 Existenzen, wir sind da den eingangs aufgegriffenen Themen ganz nah).

Ich habe schon vor ein paar Wochen angemerkt, dass die Künstliche Intelligenz bezwinglich ist. Wenn – und das wird uns retten – wir ihr das entgegensetzen, was den Blechtrottel im Glücksfall unter Rauch und Gestank implodieren lässt: Doppelsinn, Ironie, das Schwebende, Ungreifbare, mit einem Wort die Sprache. Dagegen wird es ihm keine Mühe bereiten, unstatthafte Wörter auszutauschen oder Mitgeteiltes engmaschig mit Sternen, Unterstrichen und geschlechtergerechten Duplizierungen zu bemustern.

Wollen wir uns da vorsehen, müssen wir allerdings den Verfall der Sprache verlangsamen. Ist Ihnen aufgefallen, dass der Unterschied zwischen dem Relativpronomen "das" und der Konjunktion "dass" in Verflüchtigung begriffen ist? Und nicht etwa bloß bei Grenzalphabeten: Seit auch namhafte Kollegen mit ihren Emissionen ohne wettbewerbsverzerrende Verzögerung ins Netz drängen, wächst mein Erstaunen täglich. Dabei ist es unerheblich, ob der Korrektor die verräterische Bremsspur dann in der gedruckten Ausgabe retuschiert oder nicht: Wer den Unterschied nicht begreift, ist auch nach der Korrektur daran gescheitert, auf dem Boden des Hauptsatzes stehend den "dass"-Satz mit seinen Folgerungen und Zumutungen geschmeidig von der Sehne schnellen zu lassen.

Begonnen hat das Elend übrigens mit der dilettantischen Rechtschreibreform des Jahres 1996: Damals wurde aus Gründen der Scheinlogik die markante Schreibung "daß", über die sich nicht einmal Zöglinge des Hauptschul-B-Zugs je beklagt hatten, eliminiert. Und noch schlimmer: Statt die Sprache gegen Verfall zu wappnen, wird der Analphabetenrealität amtlich nachgegeben. Der berüchtigte Deppen-Apostroph ("Goethe’sche") wurde Duden-Verordnung, nachdem die zaghaften Versuche seiner Tilgung den Jahrzehnten widerstanden hatten. Bald, so wette ich, ist auch das schwermarode "dass", das einmal ein fideles "daß" war, an der Reihe.

Ich muss da (wann nicht?) an Karl Kraus denken, der dem fallweisen stummen "h" nach "t" noch 14 Jahre nach seiner Hinwegreformierung nachtrauerte. 1915 war das, ein Jahr nach Kriegsausbruch, er hat die "Elegie auf den Tod eines Lautes" noch im sich anbahnenden Untergang in Wien, Berlin und Zürich vorgetragen.

Das verstand einer, dass Sprache viel, wenn nicht gar alles ist. Darf ich Sie mit den ersten drei Strphen behelligen? Passen Sie nur auf, dass sie dem verletzlichen, weil stimmlosen Frikativ nicht 122 Jahre nach seiner Zerstörung nachzutrauern beginnen!

Weht Morgenathem an die Frühjahrsblüthe,
so siehst du Thau.
Daß Gott der Sprache dieses h behüte!
Der Reif ist rauh.

Wie haucht der werthe Laut den Thau zu Perlen
in Geistes Strahl.
Sie vor die sau zu werfen, diesen Kerlen
ist es egal.

Kein Wort darf Seele haben, der Barbare
er lebt so auch.
Sein Stral ist Strafe, Wort ist Fertigware
zum Sprachgebrauch.

Was meinen Sie? Schreiben Sie mir bitte: sichrovsky.heinz <AT> news.at