Die Analphabeten haben schon fast gewonnen

Die Gebärdensprache soll Wahlpflichtfach werden. Das ist ehrenwert. Aber man kann dafür nach Griechisch auch Latein abwählen, und das ist eine Katastrophe. Fragen Sie den Nobelpreisträger Zeilinger

von Heinz Sichrovsky © Bild: NEWS

Ungustlfrei schön war die Feier, in deren Gefolge ich Sie kürzlich mit einem beachteten Titelinterview erfreuen konnte: Der Bundespräsident hatte den Nobelpreisträgern Peter Handke, Eric Kandel und Anton Zeilinger das höchste Ehrenzeichen der Republik ausgehändigt, und gleich ging es wieder gegen Handke los. Gleich schossen die Helme mit den applizierten Grasbüscheln wieder aus den Mehrparteienbunkern mit Strom- und Warmwasseranschluss. Denn 20 Jahre nach Beilegung der Kampfhandlungen hält sich der Kameradschaftsbund ehemaliger Kriegsberichterstatter weiter in den Schlachtfeldern des Jugoslawienkriegs verschanzt. Der Rekord des Japaners Hiroo Onoda, der aus Misstrauen gegen staatliche Verlautbarungen erst 19 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs die Waffen abgab, ist schon egalisiert und Handke immer noch auf freiem Fuß. Onoda-san waren übrigens noch vier friedliche Jahrzehnte beschieden, ehe er 2014 im Alter von 91 die Augen schloss. Das weckt die Vorfreude auf endloses Weiterwirken der Kollegen von „Standard“ und „Falter“ und ihrer Gesinnungsgemeinschaft.

Schlimm ist das, dass beständig diejenigen Meinungsträger an der Kunst versagen, mit deren Klientel man sich gesellschaftspolitisch verständigen könnte. Aber damit wird man sich abfinden müssen: Wessen Sozialisierung ohne elterliche Gegenwehr unter dem Einfluss der Zentralmatura angebahnt, wessen Orientierungszertifikat von der Menschenzermalmungsmühle der sozialen Medien ausgewürgt wurde, der wird das zu einem gewissen Prozentsatz nicht verstehen können: dass ein Text, ein Bild, ein Musikstück eine eigene Welt ist. Dass also Sprache über den Nachrichtenaustausch hinaus auch zur Errichtung von Gegenwelten taugt und in diesem Fall unregulierbar, gesetz- und grenzenlos ist.

So wird für ein paar Hundert Klicks gegen Künstler losgesäbelt, als wäre ihr Werk bloß eine Art Wucherung am Körper des politischen Wohlverhaltens.

Dieses Menschheitsverhängnis kam mir wieder in den Sinn, als ich kürzlich von einer Verordnung der Schulbehörde las: Die Gebärdensprache soll verbindlich in die Lehrpläne der gymnasialen Oberstufen Eingang finden. Sogar maturieren wird man in ihr können. Das ist gut und ehrenwert. Wenn nur das dicke Ende nicht wäre: „Anstelle von Griechisch oder Latein“ soll die Gebärdensprache auch als Wahlpflichtfach angeboten werden. Und das ist kein bisschen gut, sondern gewissenlos.

Habe ich diese Kolumne nicht mit drei Nobelpreisträgern begonnen, unter ihnen der verehrte Anton Zeilinger, der vor zwei Jahren für die von ihm selbst unerwartete Materialisierung eines Hirngespinsts gekrönt wurde? Eine Geschichte, die er mir erzählt hat, trage ich im Kopf und im Herzen. Die schwarze Unterrichtsministerin Gehrer maximal halbseligen Angedenkens wollte vom Quantenphysiker wissen, wie die denn anzugehen sei, diese Digitalisierung, der man sich nun beherzt zuwenden müsse. Da antwortete der schon damals berühmte Mann: „Vergessen S’ die Digitalisierung, das können die Kinder besser als die Lehrer. Aber machen S’ in jeder großen und mittleren Stadt ein Gymnasium mit verbindlich Altgriechisch. Da werden die Nobelpreisträger herkommen.“ Wer, wiewohl vom Nobelpreis nicht einmal großräumig bedrängt, nie als klassisch-philologischer Kleindarsteller mit Handke, Zeilinger und Heinz Fischer die ersten zehn Verse der „Ilias“ im Originalwordrap rezitiert hat wie ich (und dabei vom strebsamen Altpräsidenten stets um fünf Verse geschlagen wurde): Der weiß nicht, wie betörend das ist, in die Musik der Zeit zu hören, aus der wir kommen, so wie uns auch das Christentum und das Judentum in den Genen sitzen.

Nach der fast schon vollzogenen Auslöschung des Griechischen ist nun also Latein dran. Ohnehin spät genug, nachdem die Zentralmatura schon die Literatur zum Teufel verfrachtet hat. Acht Jahre Englisch, ohne den Namen Shakespeare gehört zu haben; acht Jahre Deutsch mit dem Bildungsziel, sich im Verfassen von Leserbriefen zu verfeinern und Goethe, Kleist, Brecht und Handke zu meiden wie der gecancelte Krampus die Giftbrühe im Weihbrunnkessel; dabei mit der Elektronik zu verwachsen wie der Cowboy mit seinem Schießprügel: Das passt den Unholden, denen wir das zu verdanken haben, genau ins Konzept. Denn Kunst, auch Philosophie, ist der Durchlass in die Freiheit des Denkens, des Verstehens jener Zusammenhänge, die Leute mit schlechten Absichten lieber im Dunkeln lassen. Was glauben Sie, wie ich mich auf die amtlichen Verlautbarungen stürze, wenn wieder der Durchbruch ins Bodenlose der Unbildung verlautbart wird: Nie ist mir dabei in meinem Erinnerungszeitraum das Wort „Literatur“ begegnet. So verrichten natürliche Trottel das Werk der Künstlichen Intelligenz.

Was meinen Sie? Schreiben Sie mir bitte: sichrovsky.heinz <AT> news.at

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