Was Reiche ausmacht und
von anderen unterscheidet

Jeder träumt irgendwann einmal davon, reich zu sein. Aber hat man überhaupt die Voraussetzungen dafür? Ist materieller Wohlstand "nur" reine Einstellungssache, wie einem heutzutage gern vorgemacht wird? News.at hat sich mit dem renommierten Schweizer Soziologen Ueli Mäder darüber unterhalten, was wohlhabende Menschen ausmachen und von anderen unterscheiden kann.

von Wohlstand - Was Reiche ausmacht und
von anderen unterscheidet © Bild: apveanz/Shutterstock
Ueli Mäder ist Soziologe, emeritierter Professor an der Universität Basel und Autor der Bücher „Wie Reiche denken und lenken“ sowie „macht.ch – Geld und Macht in der Schweiz“.

Vorausgesetzt, man hat ihn noch nicht erreicht: Fängt materieller Wohlstand im Kopf an?
Materieller Wohlstand fängt meistens bei der Geburt an. Wer begütert aufwächst, hat erheblich mehr Chancen, reich zu werden. Eine gute Idee kann auch hilfreich sein. Ebenso eine Person, die einem vertraut. Oder ein starker Wille. Da öffnet sich eher ein Weg, aber längst nicht immer.

Früh aufstehen, mehr Risiko eingehen, gut zuhören: Pseudoprofessionelle Internet-Ratgeber legen oft nahe, materieller Wohlstand sei Einstellungssache. Gibt es in der Wissenschaft auch Anhaltspunkte dafür?
Ja, schon. Gut zuhören ist immer wichtig; mehr Risiken eingehen heikler. Vor allem, wenn Reserven fehlen. Einstellungen spielen gewiss eine Rolle. Sie lassen sich aber kaum durch Ratschläge verändern. Strukturelle und kulturelle Bedingungen wirken stärker. Wer Zuversicht erlebt, betrachtet Krisen eher als Chance. Studien relativieren die Bedeutung von Einstellungen. Beratungen nützen dann mehr, wenn der Arbeitsmarkt mithält. Und wenn Fehler erlaubt sind, kann man eher etwas wagen. Auch dialogische Auseinandersetzungen fördern Innovationen. Und früher beflügelte noch eine asketische Haltung den Geist des Kapitalismus.

Gibt es also charakterliche Eigenschaften, die im Zusammenhang mit materiellem Wohlstand vermehrt auftreten?
Seit drei Jahrzehnten drängt das Kapital offensiver denn je nach höchsten Renditen. Genug ist nie genug. Die Ökonomisierung durchdringt schier sämtliche Lebenswelten. Sie prägt auch Charaktere. Heute gelangen oft Typen mit starken Ellenbogen nach oben. Soziale Kompetenzen sind weniger gefragt. Und oben hapert es mit einem kritischen Korrektiv. Da ist trügerisches Schulterklopfen angesagt. Und Mächtige meinen dann, omnipotent und zu sein und alles im Griff zu haben.

Gibt es im Umkehrschluss Eigenschaften, die dem diametral entgegenstehen?
Ja, das Zweifeln. Wer zu Fragen und Schwächen steht, gilt zwar als wankelmütig. Aber Widersprüche zuzulassen und anzugehen, ist in unserer vielfältigen Gesellschaft weiter führend. Das sehen auch einzelne Reiche so, gerade im Kontext von Corona. Sie setzen der geldgetriebenen Wachstum das umwelt- und sozial Verträgliche entgegen. Wenn die soziale Kluft weiter zunimmt, fürchten sie, bricht der gesellschaftliche Zusammenhalt auseinander.

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Ist Reichtum auch oder gerade Bildungssache?
Ja, Bildung führt zu Reichtum. Und umgekehrt. Reiche haben bessere Bildungschancen. Bildung ist allerdings mehr als Fakten-Wissen. Soziale Intelligenz gehört dazu. John Franklin litt als Bub unter seiner Behinderung. Ein Lehrer vermittelte ihm dann: Wenn Du etwas genau und aus verschiedenen Perspektiven anschaust, siehst Du mehr. John Franklin erreichte damit viel. Bildung muss Horizonte öffnen und an das anknüpfen, was interessiert.

„Du bist der Durchschnitt der fünf Menschen, mit denen du deine meiste Zeit verbringst“ – Ist Reichtum eine Frage sozialer Kontakte? Und somit tendenziell elitären Kreisen vorbehalten?
Beziehungen und exklusive Netzwerke dienen dem Reichtum. Ebenso strategische Heiraten und Erbschaften. Auch andere Menschen verbinden sich vornehmlich mit ähnlich Situierten. Aber das schenkt dann weniger ein.

Der Volksmund steht materiellem Wohlstand oft kritisch gegenüber oder redet ihn manchmal sogar schlecht, Stichwort „Geld macht nicht glücklich“. Ein anerzogener Fehler in europäischen Gesellschaften?
Nein, mich freut die kritische Distanz zum materiellen Reichtum. Einfache Leute könnten ja wirklich neidisch sein. Mit dem Reichtum nimmt zum Beispiel das gesundheitliche Wohl zu. Reiche leben auch länger. Wichtig ist daher ein Wohlstand für möglichst alle. Und da helfen zivil couragierte Schritte weiter als Ressentiments, die einen selbst vergiften.

Der Schweiz eilt der Ruf besonders wohlhabender Bürger und BürgerInnen voraus – Auch eine Frage nationaler Mentalität im Vergleich zu den europäischen Nachbarn?
Die Schweiz führt ihren Reichtum gerne auf ihren Fleiß, ihre Kreativität und ihre politische Stabilität zurück. Als rohstoffarmes Land profitierte sie aber auch enorm von günstigen Importen aus englischen und französischen Kolonien. Flüchtlingen verdanken wir zudem bedeutende technologische Innovationen. Und der Finanzplatz bot über die Grenzen hinaus Hand, viel Geld am Fiskus vorbei zu scheffeln. So kam viel Reichtum zustande, der allerdings sehr einseitig verteilt ist. Tausende von Werktätigen arbeiten viel und verdienen wenig. Mehr sozialer Ausgleich ist aus meiner Sicht dringlich. Dazu trug lange ein politischer Konsens bei. Vorteile sind in der Schweiz die kurzen Wege und die direkte Demokratie. Ich lebe sehr gerne hier.

In den letzten Jahren zerbröselt der Mittelstand zunehmend, arm und reich dominieren. Wird es immer schwieriger, materiellen Wohlstand zu erlangen?
Der Mittelstand ist immer noch ziemlich breit und sehr heterogen. Abstiege sind allerdings häufiger als Aufstiege. Wie wichtig das soziale Miteinander und eine tragfähige soziale Infrastruktur sind, führt uns heute die Pandemie vor Augen. Statt alle Räder baldmöglichst noch schneller drehen zu lassen, fragen sich viele, was wirklich wichtig ist und wie materieller Wohlstand und Freiheit für alle möglich ist. Daran lässt sich hoffentlich anknüpfen. Sonst setzen sich wenige auf Kosten von andern durch.

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Welche Faktoren sind für materiellen Wohlstand einer bzw. eines Einzelnen tatsächlich am relevantesten?
Wir leben in einer Welt. Und müssen so miteinander kutschieren, dass alle profitieren. Zum Beispiel von einem fairen wirtschaftlichen Austausch. Dabei gilt es auch, die Umwelt so zu nutzen, dass sie sich regenerieren kann. Sonst verstärken wir soziale Gegensätze und Flüchtlingsströme. Mehr Gerechtigkeit ist ein entscheidender Faktor. Zusammen mit einer Demokratisierung, die global und regional möglichst alle Lebensbereiche umfasst und auch die Wirtschaft einbezieht.