Mother Schools: "Frauen sind unsere wichtigste Währung"

Warum Mütter zur Schule gehen, um Terror zu verhindern und welches enorme Potenzial darin steckt

Am 2. November 2020 ermordete ein terroristischer Attentäter in der Wiener Innenstadt vier Menschen. Jegliche Prävention hat dabei versagt. Der Prävention von Terror haben sich auch die „MotherSchools“ verschrieben, Mütterschulen, die ganz früh ansetzen, nämlich in den Familien und dabei auf das enorme Potenzial von Frauen und Müttern setzen.

von Mother Schools © Bild: Women without Borders

Mütter gehen zur Schule, um Terror zu verhindern. Dieser zunächst etwas paradox klingende Ansatz entstammt einer Idee von Edit Schlaffer, Gründerin der NGO „Frauen ohne Grenzen“. Doch so unkonventionell er zunächst anmutet, der Ansatz ist vielversprechend und findet in den von Schlaffer gegründeten „MotherSchools“ Umsetzung. Ganz früh wird angesetzt, um Kinder und Jugendliche vor einer möglichen Radikalisierung oder gar Rekrutierung zu bewahren; Nämlich zuhause, in der Familie. In diesen weltweit stattfindenden Schulen finden besorgte Mütter zueinander (laut einer Studie Schlaffers vertrauen Mütter am meisten anderen Müttern, aber die Hürde, diese auch anzusprechen wird meist nicht überwunden).
Die Schulen schaffen einen Ort des Austauschs, doch nicht nur. Mütter werden auf Warnsignale einer möglichen Radikalisierung sensibilisiert und lernen, ihre Stimmen im Leben der Kinder wieder zu finden und zu nutzen, um die Jugendlichen durch Identitätskrisen zu begleiten und ein Abdriften zu verhindern. In Folge werden die Frauen auch zu Botschafterinnen der Offenheit und der Wachsamkeit in ihren Communities.

News.at: Frau Schlaffer, wie entstand die Idee für die „MotherSchools“?

Edit Schlaffer: Es fing mit unserer Forschungsarbeit über die Frauen im Untergrund von Afghanistan an, die in der Taliban-Zeit unter Einsatz ihres Lebens den Alltag als Lehrerinnen, Ärztinnen und Krankenschwestern aufrecht erhalten haben. Das hat mich sehr beeindruckt und mir die Idee gegeben, ein weltweites Netzwerk aufzubauen, um in Krisen- und Umbruchsituationen direkt intervenieren zu können. So entstand 2001 „Frauen ohne Grenzen“.

»Unser Ziel ist es, Frauen an die Verhandlungstische zu holen, denn die mangelnde Präsenz von Frauen ist ein gravierendes Sicherheitsdefizit. «

Unser Ziel ist es, Frauen an die Verhandlungstische zu holen, denn deren mangelnde Präsenz, vor allem in der Sicherheitspolitik, ist ein gravierendes Sicherheitsdefizit. Wir haben Frauen aus aller Welt eingeladen, die erste globale Anti-Terror Plattform (SAVE – Sisters Against Violent Extremism) zu gründen. In Folge wurden lokale Frauennetzwerke in von Extremismus betroffenen Ländern aufgebaut, denn Frauen sind unsere wichtigste Währung.

Bei einem der ersten Treffen in Tadschikistan benannten die Frauen eine eindeutige Sicherheitslücke: die Wahhabiten lockten ihre Kinder weg von der Schule in die Moscheen. Die Mütter waren komplett ratlos, auch weil sie dachten, den Einfluss auf ihre zwölfjährigen Söhne bereits verloren zu haben. Unsere Gespräche über die Entwicklung von Kindern in der kritischen Phase der Pubertät, in der Mütter dringend als Anker notwendig sind, lösten eine unglaubliche Erleichterung aus. Eine Mutter brachte es auf den Punkt: „Ich weiß, was wir zu tun haben! Wir Mütter müssen zurück in die Schule!“ Das war der Moment, wo ich wusste, was wir zu tun haben. Es war die Geburtsstunde der "MotherSchools: Parenting for Peace"-Bewegung.

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Wie erreichen Sie Mütter, um sie in die „MotherSchools“ zu bringen?

Wir bringen die Mütter über unsere lokalen Netzwerke zusammen, wir arbeiten mit Personen, denen sie vertrauen. Wir formulieren das nicht plakativ à la „Jetzt geht es um Extremismus“, sondern vorsichtiger, wie etwa „Ich bin beunruhigt, wie sich mein Kind entwickelt.“ In den ersten MotherSchools waren Mütter von Extremisten und von Opfern dabei. Sie alle sind nah am Geschehen und wissen viel über die Dynamik des Abgleitens in radikales Gedankengut.

Was passiert in den Schulen, was lernen die Mütter?

Wir bemühen uns, das Tabuthema Extremismus zu durchbrechen, ein tieferes Verständnis für die Warnsignale zu erzeugen und den Müttern entwicklungspsychologische Erkenntnisse nahe zu bringen. Sie sollen selbst in der Lage sein, Dynamiken im Leben ihrer Kinder zu erkennen und darauf zu reagieren. Außerdem tauschen die Frauen, sobald das Vertrauen aufgebaut ist, Erfahrungen aus, machen einander Mut und entwickeln gemeinsame Strategien.

Um das gelernte Wissen umzusetzen, brauchen Mütter Selbstbewusstsein und Autorität, und auch das lernen sie.

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© Women without Borders In MotherSchools wird auch Autorität gelernt, denn "wenn Frauen Respekt bekommen, können sie auch Veränderung in der Familie bewirken und haben Einfluss"

Wie kann man Autorität erlernen?

Durch das Entmystifizieren der weiblichen Rollenzuschreibung, durch einen analytischen Blick auf die eigene Identität. Bei Vorstellungsrunden etwa wird schon trainiert, sich selbst darzustellen.

Die Mütter werden auch motiviert, die Erfahrungen zuhause zu diskutieren. Dadurch verändert sich der Blick auf die Mutter. Sie wird schlagartig eine Person, die Wissen hat, die über harte Themen mit Empathie spricht und dieses Erstaunen verwandelt sich oft in Stolz und Respekt. Und wenn Frauen Respekt bekommen, können sie auch Veränderung in der Familie bewirken, dann haben sie Einfluss und trauen sich selbst etwas zu. Dieser Prozess ist wichtig in der Selbstfindung. Mütter und Väter müssen sehen, dass sie in der Identitätskrise der Jugendlichen eine Stimme haben, die gehört wird.

Der Einfluss der Mütter soll dann auch über die eigene Familie hinaus gehen?

Ja, wir motivieren die Frauen hinauszugehen in ihre Communities, Führung zu übernehmen und das heikle Thema Extremismus direkt anzusprechen. Mütter haben doch multiple Identitäten, sie sind Ärztinnen, Busfahrerinnen, Lehrerinnen, etc. und damit eröffnet sich eine große Einflusssphäre. So werden sie zu Botschafterinnen der Offenheit und zu aktiven Beobachterinnen dort, wo der Sicherheitsapparat wenig Einblick und Zugang hat. Jeder Teilnehmerin der MotherSchools wird vermittelt, dass sie die Aufgabe und Verantwortung haben wird, in der Gesellschaft zu sprechen und aktiv zu werden. Es ist eine Strategie, die auf Multiplikatorinnen mit großem Hochrechnungspotential setzt.

Mütter lernen auch, Warnsignale einer Radikalisierung zu erkennen. Welche sind das?

Oft beginnt es mit einem Protest gegen zuvor selbstverständliche Familienrituale: der Sohn steht plötzlich auf, wenn eine Frau den Raum betritt. Oder die Geheimniskrämerei, die in der Pubertät bis zu einem gewissen Grad normal ist, zeigt beunruhigende Begleittöne, mehr als dieses „Ich will allein sein“. Anzeichen von Depression und auffällige emotionale Inbalance können auch Hinweise sein.

»Im Grunde ist es ein Tauziehen mit „der anderen Seite“: Wir wollen die Jugendlichen stärker verankern und „die anderen“ wollen sie stärker entwurzeln. «

Was können Mütter (und Väter) dann tun?

Das was sonst die Rekrutierer machen: Mit absoluter Empathie und Verständnis reagieren! Wenn Kinder etwas belastet, ist es ganz wichtig, mit ihnen gemeinsam an diesen Themen zu sein, nicht abzuwehren, nicht zu verdrängen. In der Kommunikation dran bleiben, auch wenn es fast schon unerträglich ist. Jedes Gespräch ist eine Chance! Aber zuhören muss gelernt werden, genau das passiert in den MotherSchools.

Wichtig ist auch, der Dynamik Raum und Zeit zu geben, dann werden die Kinder offener sein. Die Jugendlichen müssen das Vertrauen haben, Frustration und Zurücksetzungen daheim teilen zu können.

Wichtig ist auch, das Umfeld anzusprechen. Viel zu oft wird das Problem tabuisiert, dabei spüren Mütter sehr früh, dass etwas in die falsche Richtung geht. Im Grunde ist es ein Tauziehen mit „der anderen Seite“: Wir wollen die Jugendlichen stärker verankern und „die anderen“ wollen sie stärker entwurzeln.

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© Women without Borders Die Mütter machten den Anfang, mit Jänner starten aber auch Väterschulen

Sie sagen, Mütter spüren sehr früh, dass es in die falsche Richtung geht. Väter nicht?

Doch, aber Väter haben noch viel mehr die Verteidigung ihrer eigenen Ehre im Blick. Sie können diese Barrieren, die in ihren Männlichkeitsvorstellungen stark verankert sind, nur sehr schwer überspringen.

Welche Rolle spielen die Väter?

Im Moment noch eine zu geringe. Aber sie sind zweifellos als Rollenmodelle, als Orientierung und Vertraute wichtig. Wir sehen, dass in vielen Familien nach wie vor eine Inbalance zwischen den Geschlechtern besteht. In Fragen der Männlichkeit/Weiblichkeit, der bevorzugten Stellung von Buben und der Eingrenzung von Mädchen muss eindeutig noch viel gearbeitet werden. Das ist auch Teil der Gewaltprävention. Wir sehen ja, dass häusliche Gewalt oft der Nährboden für gewalttätigen Extremismus ist.

»Mit der Mobilisierung von Eltern schaffen wir eine Basis für eine neue Sicherheitsarchitektur, die die gesamte Gesellschaft sicherer macht. «

Gibt es auch Väter, die sich engagieren wollen? Gibt es auch Väterschulen?

Frauen sind der erste Zugang in die Familien. Wir würden mit so einem diffizilen und intensiven Programm nur schwer an Väter herankommen, wenn wir nicht schon die Mütter gewonnen hätten. Aber Väter haben selbstverständlich auch eine starke emotionale Beziehung zu ihren Kindern, wissen diese Gefühle aber oft nicht positiv einzusetzen. Darum haben wir auch Väterschulen gestartet und im Jänner laufen die ersten in Österreich, Deutschland und Belgien an.

Es ist wichtig, dass die Männer auch Partner sind. Mit der Mobilisierung von Eltern schaffen wir eine Basis für eine neue Sicherheitsarchitektur, die die gesamte Gesellschaft sicherer macht. Wir finden keine effizienteren Präventionsverbündete. Eltern sind hochmotiviert und immer bereit, ihre Kinder wieder aufzufangen. Das ist ein einmaliges Potential.

Gibt es eine besondere Herausforderung bei den Vätern?

Dass sie nicht ihre Maskulinität als Schutzschild verwenden, um sich herauszuhalten und dann bevorzugt via Befehlsgewalt arbeiten, denn das kommt bei den Heranwachsenden überhaupt nicht an. Bei Vätern gilt es, ein partnerschaftliches Kommunikationslima herzustellen, das auf Vertrauen und Empathie basiert. Denn genau das schaffen auch die Rekrutierer. Diese investieren bis zu 70 Stunden - online und offline - in eine einzige Rekrutierung. Die Eltern haben die Kinder aber bereits bei sich, sie haben die emotionale Anbindung, das ist ihre Stärke und muss als Ressource erkannt werden. Und wenn die Beziehung gestört oder sogar zerstört ist, muss sie wieder hergestellt werden und dabei brauchen die Eltern kompetente Unterstützung.

»Es könnte durchaus sein, dass man an einem entscheidenden Moment einschreiten hätte können. «

Hätten sich die Eltern des Wien-Attentäters vor dessen Tat in einer MotherSchool Hilfe gesucht: Hätte man noch etwas bewirken können?

Vielleicht. Man weiß nicht, was für eine Dynamik zwischen den Müttern entstanden wäre. Unsere Philosophie ist es, dass dem Netz der Verführer ein Netz aus Menschen, die beobachten und intervenieren können gegenüber gestellt werden muss. Es könnte durchaus sein, dass man an einem entscheidenden Moment einschreiten hätte können.
Das Wichtigste ist aber, so früh wie möglich anzusetzen. Wir schauen immer auf den Endpunkt der Radikalisierung, da ist es schon gelaufen.

Familien brauchen Unterstützung und konkretes Wissen, wenn sich eine Gefährdung abzeichnet. Sie fühlen sich so wahnsinnig schuldig und alleingelassen.

»Es ist ganz wichtig, diese Familien nicht zu stigmatisieren. Sie sind nicht die Täter. «

Wie können Eltern - wie jene des Wiener Attentäters - mit so einer Tat umgehen? Einerseits plagen sie vermutlich Schuldgefühle, andererseits ist da die große Trauer um das eigene Kind…

Wir können uns das gar nicht vorstellen. Ich muss an eine Teilnehmerin unserer MotherSchools denken, deren Sohn in Syrien als Selbstmordattentäter mehrere Menschen mit in den Tod riss. Sie sagte, ihre einzige Rettung war, mit anderen Müttern und mit uns zu arbeiten, um wenigstens einen kleinen Beitrag zu leisten, um so etwas zu verhindern. Es ist ganz wichtig, diese Familien nicht zu stigmatisieren. Sie sind nicht die Täter.

Wenden sich die MotherSchools nur an Mütter, deren Kinder gefährdet sind, sich islamistisch zu radikalisieren? Oder auch wenn etwa rechtsradikale Ideologien im Spiel sind?

Bis jetzt noch nicht, aber das nehmen wir uns vor, denn das rechtsradikale Milieu ist auch sehr einflussreich und da müssen wir unbedingt mehr tun.

Edit Schlaffer
© Edit Schlaffer/Frauen ohne Grenzen Edit Schlaffer, Gründerin der MotherSchools: "Die 'soft power'-Strategie braucht viel mehr Beachtung und Unterstützung"

Das Attentat von Wien ist passiert. Was lief und läuft schief in der Terrorprävention?

Prävention hat noch immer keine Priorität. Die MotherSchools nützen das gesellschaftliche Potential von „soft power“. Wir explorieren und intervenieren dort, wo die Probleme entstehen, um umgehend Stopp-Faktoren einzubauen. Dafür brauchen wir Ressourcen und Budgets, die aber nur eine Fußnote sind im Verhältnis zu jenen der „hard power“-Strategie, auf der der gesamtgesellschaftliche Fokus liegt. Die Notwendigkeit von kompetenter Polizei und Geheimdiensten ist unumstritten, doch die „soft power“-Strategie braucht viel mehr Beachtung und Unterstützung. Die Lösung liegt in einer koordinierten Synergie beider Zugänge.

Denken Sie, wird es nach dem Attentat jetzt ein größeres Commitment seitens der Politik geben?

Das ist noch nicht so klar, wie sich das entwickeln wird, wir stehen ja auch noch alle unter dem Schock des Attentats.

»Je schneller wir erkennen, dass unsere stärksten Waffen Psychologie, Bildung und Erziehung sind, desto besser.«

Wie wichtig ist der Fokus auf Religion in der Prävention?

Es gibt zu viel Druck von religiösen Kräften und gleichzeitig zu viel Erwartung an religiöse Vertretungen. Es gibt gleichzeitig Bemühungen um eine Reform des Islam, doch es wird vorrangig viel davon abhängen, wie es gelingen wird, Menschen in unserer Gesellschaft zu verankern. Wie können wir alle zusammenleben? Wir sind eine säkulare Welt. Das muss vermittelt werden und das müssen wir alle ernst nehmen.

Je schneller wir erkennen, dass unsere stärksten Waffen Psychologie, Bildung und Erziehung und damit Beziehungsaufbau sind, desto besser. Diese Strategien sind im offiziellen Sicherheitsdenken noch unterbelichtet und da glaube ich, haben wir eine Riesenchance mit den Müttern – und auch mit den Vätern.

Dr. Edit Schlaffer ist Soziologin und Autorin. Sie ist die Gründerin des Netzwerks "Frauen ohne Grenzen" und Begründerin der MotherSchools.

Daten und Fakten zu den MotherSchools:

Insgesamt haben das Programm der Mother Schools bisher über 3.000 Mütter durchlaufen. In Österreich gibt es ungefähr 300 Absolventinnen. Auf globaler Ebene werden über die nächsten drei Jahre 1.000 Mütter in fünf Ländern vom Kosovo bis Indonesien und Tansania ausgebildet werden. In Österreich starten mit Jänner zwei Vätergruppen, auch drei Müttergruppen sind geplant.Mütter (und Väter) treffen sich für die Ausbildung einmal pro Woche über einen Zeitraum von ca. vier Monaten. Die MotherSchools konzentrieren sich auf Mütter von Kindern ab 12 Jahren und sehen sich nicht als ideologischer, politischer oder religiöser Raum. Weitere Information unter https://wwb.org/activities/