Den Gefährdern auf der Spur

Sind Verfassungsschutz und Terrorbekämpfer hierzulande überfordert? Expeten fordern eine Neuaufstellung

Syrien-Rückkehrer und IS-Sympathisanten sind eine latente Gefahr, wie der Anschlag in Wien nachdrücklich zeigt. Angesichts weiterer potenzieller Gefährder, die sich in Österreich aufhalten, stellt sich die Frage, ob Verfassungsschutz und Terrorbekämpfer mit ihrer Aufgabe, die Islamisten-Szene im Auge zu behalten, überfordert sind.

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Anschlag in Wien - Den Gefährdern auf der Spur

Rund um den Terroranschlag im Herzen Wiens mehrt sich die Kritik an der Ermittlungs-bzw. Observierungstätigkeit der zuständigen Behörden: Der Generaldirektor für die öffentliche Sicherheit, Franz Ruf, hat zwar im ORF mögliche Fehler oder Versäumnisse von Polizei und dem Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT) im Vorfeld der schrecklichen Tat zurückgewiesen, konnte sie aber nicht ausräumen. Er argumentiert auch, dass mit der gerichtlichen Verurteilung des Täters, der wegen des Versuchs, sich in Syrien dem IS anzuschließen, zu 22 Monaten Haft verurteilt worden war, die Justiz für ihn hauptzuständig gewesen sei -auch für die Zeit nach der vorzeitigen Entlassung. Und der Täter habe offenbar alle Beteiligten getäuscht. Ergebnis des Kompetenz-Wirrwarrs: vier Todesopfer und 23 Verletzte.

Offene Fragen

Insgesamt bleiben viele offene Fragen zu den Ereignissen, und Experten und Geheimdienstinsider sehen sich in ihrer schon bisherigen Kritik bestätigt. Der Grazer Nachrichtendienstexperte und Leiter des Instituts ACIPSS (Austrian Center for Intelligence, Propaganda &Security Studies), Siegfried Beer, zeigt sich gegenüber News "überrascht über das Handling der Krise" und darüber, wie es zur Tat kommen konnte: "Wenn der Mann dem BVT und den Polizeibehörden bekannt war, ist es nicht verständlich, dass er nicht observiert wurde." Das bedeute im Klartext, dass "die Prävention solcher Taten in Österreich offenbar nicht so gut funktioniert, wie sie sollte", so Beer: "Und offenbar war man der Herausforderung, die islamistische Szene im Auge zu behalten, nicht gewachsen." Er sei hingegen nicht überrascht, dass es auch hierzulande zu einem Anschlag gekommen ist.

"Ich warne schon seit Jahren davor, dass wir keine Insel der Seligen sind." Anschläge dieser Art könne man zwar nicht vorausahnen, aber es hätte gute Gründe gegeben, sich darauf einzustellen. "Das mag zwar eine Katastrophe sein, die vielleicht einmal im Jahrzehnt vorkommt, aber wie es aussieht, war man darauf nicht gut vorbereitet", sagt Beer. Er geht davon aus, dass der Attentäter seinen Terroranschlag von langer Hand geplant habe, und dann "angesichts des bevorstehenden Lockdowns noch schnell zugeschlagen" habe. Seitens des BVT sei es hier wohl zu Versäumnissen gekommen, vermutet der Experte. Wie inzwischen bekannt wurde, hat der Attentäter im Sommer versucht, in der Slowakei in Begleitung Munition zu kaufen. Das sei ihm aber wegen eines fehlenden Waffenscheins nicht gelungen, heißt es. Die slowakische Polizei informierten in der Folge auch die österreichischen Behörden über den Fall -passiert ist aber offenbar nichts. Zudem kam heraus, dass der 20-jährige Attentäter offenbar enge Kontakte zu islamistischen Kreisen in die Schweiz hatte, wo am Dienstag in Winterthur zwei Personen festgenommen worden sind. Insgesamt kam es (bis Redaktionsschluss) österreichweit in seinem Umfeld zu 18 Razzien und 14 Festnahmen -leider nicht präventiv, sondern erst nach dem Terroranschlag.

Probleme in der Zusammenarbeit

Dazu Beer: Der Einsatz von Polizei und deren Sondereinheiten Wega und Cobra habe zwar gut funktioniert, die nachrichtendienstlichen Aktivitäten im Vorfeld offensichtlich weniger. Der Experte ortet "Koordinations-und Schnittstellenprobleme in der Zusammenarbeit" - und fordert und seit Jahren "eine Neuaufstellung der Strukturen". Das BVT sei offensichtlich überfordert und seine Kapazitäten nicht groß und gut genug, um solche Dinge im Griff zu haben, so Beer: "Das ist eine unterdotierte Einrichtung, die weder vom Personal noch von der Budgetierung her, glaube ich, genügend ausgestattet ist."

Hauptproblem sei insgesamt die Zersplitterung der nachrichtendienstlichen Zuständigkeiten, sagt der Experte, der "eine ganzheitliche Konstruktion" für notwendig erachtet. Derzeit ist das Innenministerium für das BVT zuständig und das Verteidigungsministerium für das Heeresnachrichtenamt (HNA) sowie für das HAA (Heeresabwehramt). Dazu kommen noch die kriminalpolizeilichen Ermittlungseinheiten. Es bestehe die Gefahr, dass jeder seine Spielchen spiele, so Beer: "Es braucht eindeutig mehr Qualität und Effizienz."

Auch Aufdecker und Zack-Zack-Herausgeber Peter Pilz, der sich schon während seiner Polit-Laufbahn eingehend mit Geheimdiensten beschäftigte, kommt zu einem ähnlichen Schluss: "Das einzig Positive an den Geschehnissen ist, dass die Arbeit der Polizei und Sondereinheiten schnell und professionell war. Das funktioniert offensichtlich gut." Die Performance des BVT in der Causa gleiche einem "Debakel". Es agiere "schwach und jämmerlich", so Pilz: "Das war seit jeher immer mehr eine parteinahe Einrichtung als ein Nachrichtendienst." Das BVT sei außerdem nach den Affären in der Vergangenheit "weiter von strategisch wichtigen Informationen anderer westlicher Nachrichtendienste abgeschnitten", sagt der Ex-Politiker, der ebenfalls eine Neuaufstellung der geheimdienstlichen Strukturen in Österreich für dringend notwendig hält. Nachsatz: "Solange es dort ÖVP-Innenminister gibt, sehe ich dafür aber schwarz."

Strukturelle Neuaufstellung

Pilz schlägt vor, den Nachrichtendienst von Kriminalpolizei für politische Delikte und Spionageabwehr zu trennen, ihn aus dem Innenministerium ins Bundeskanzleramt zu verlegen, eine wirksame parlamentarische Kontrolle einzurichten und jeden politischen Einfluss zu verhindern. Beer schwebt eine Art Superbehörde nach "mutigem Schweizer Vorbild" vor: Dort wurden vor rund sieben Jahren alle Dienste zu einem verschmolzen und dafür ein neuer Chef von außen bestellt. Beer: "Und das operative Geschäft findet in enger Abstimmung mit der Regierung statt." Auch in den Niederlanden gebe es so eine eigene Organisation. "Dort weiß man auch, wie wichtig das ist", so der Experte, der von Ländern wie Großbritannien, Israel oder den USA gar nicht reden will: "In den USA gibt es dafür ein Budget von mindestens 200 Milliarden Dollar, wenn nicht deutlich mehr."

Potenzielle Gefährder

Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) erklärte zwar nach dem Attentat, dass eine "Evaluierung und Optimierung des Systems" notwendig sei, Details dazu waren von ihm dazu bis Redaktionsschluss nicht in Erfahrung zu bringen. Auch nicht zur tatsächlichen Zahl der sogenannten Gefährder, die sich in Österreich derzeit aufhalten. Unterschiedlichen Quellen zufolge ist die Rede von mehr als 300 Personen aus Österreich, die nach Syrien gegangen sein sollen, um dort am Dschihad -also dem heiligen Krieg gegen die Ungläubigen - teilzunehmen. 93 bis 98 IS-Rückkehrer sollen sich derzeit in Österreich befinden.

Wobei Peter Pilz letztere Zahl für "irrelevant" hält: "Diese Personen sind ja ohnehin bekannt. Viel gefährlicher sind jene, die man nicht sieht und die auf verschiedene Weise radikalisiert werden -davon gibt es sicher viel mehr." Die Dunkelziffer soll laut Schätzungen bei 600 bis 1.000 "Schläfern" in Österreich liegen.

Doch was heißt dieser offensichtlich unbefriedigende Status quo konkret für die Ermittlungen zu möglichen bevorstehenden Terrorakten und die Observierung von sogenannten Gefährdern?

Österreich hat laut Terrorismusforschern wie Peter Neumann vom Londoner Kings College eine "recht starke dschihadistische Szene - vor allem in Wien und Graz. Stärker als zum Beispiel in Deutschland"(siehe Interview Seite 30). Wobei bei der Radikalisierung von Jugendlichen durch Islamisten vor allem persönliche Kontakte eine zentrale Rolle spielen, wie eine Studie Institut für Rechts-und Kriminalsoziologie bereits vor drei Jahren zeigte. Die Rekrutierung junger Menschen in Österreich erfolgt demnach zumeist über den Freundeskreis, über charismatische Persönlichkeiten, die sich in einschlägig bekannten Moscheen, aber auch in Parks aufhalten, sowie über Internetplattformen bzw. Chats mit Dschihadisten vor allem aus Syrien und Irak. Eine alleinige Radikalisierung über das Internet erfolgt laut der Studie jedoch nicht -und Moscheen spielen dabei ausschließlich für junge Männer eine Rolle. Bei diesen Moscheen handelt es sich übrigens weniger um eine straff organisierte Kaderorganisation, sondern vielmehr um ein politisch-salafistisches Milieu verschiedener, durchaus miteinander rivalisierender Einrichtungen. In denen treffen Rekrutierer auf Jugendliche und junge Erwachsene, die bereit sind, sich weiter zu radikalisieren und konkret für den Kampf in Syrien oder terroristische Pläne in Europa mobilisieren zu lassen -und die auch in Haft mit IS-Propaganda in Berührung kommen können.

"Rund 30 Moscheen, in denen Hassprediger agieren, gibt es in Österreich", erklärt Shams Ul Haq, in Pakistan geborener und in Deutschland lebender Autor, der undercover und mit unterschiedlichen Identitäten monatelang in Flüchtlingsunterkünften und Moscheen im deutschsprachigen Raum recherchierte. Hot-Spots in Österreich seien Wien, Graz und auch Salzburg, so der Autor, der dazu 2018 sein viel beachtetes Buch "Eure Gesetze interessieren uns nicht" veröffentlicht hat. "Die Aktivitäten dieser Moscheen dürfen nicht unterschätzt werden, wenngleich radikal-islamisches Gedankengut vor allem über das Internet verbreitet wird", sagt Haq: "Hassprediger scharen teilweise Zigtausende Anhänger um sich, und zwar in virtuellen Räumen wie denen von Facebook, Youtube oder anderen sozialen Diensten wie WhatsApp. Der Messengerdienst Telegram nimmt hier eine besondere Rolle ein, da insbesondere Salafisten diesen Dienst nutzen." Es handle sich um ein europäisches, wenn nicht sogar weltweites Vergehen des fundamentalistischen Islam und seiner Propagandisten, so der Autor.

Attentäter aus normalem Haus

Ein Umfeld, das auch auf den 20-jährigen Attentäter von Wien zutrifft, der hier geboren wurde, in einer Familie ausgewanderter Mazedonier aufwuchs und erst vor wenigen Monate eine eigene kleine Gemeindebauwohnung bezogen hatte. Der früher begeisterte Nachwuchsfußballer brach mit 17 Jahren die HTL in Ottakring ab und kam in der Pubertät offenbar immer stärker mit IS-Kreisen in Kontakt. Er surfte auf einschlägigen IS-Propaganda- Foren und besuchte eine amtsbekannte Moschee. 2018 buchte er einen Flug nach Kabul, hatte aber kein Visum und versuchte darauf, via Türkei nach Syrien zu kommen. Dort wurde er festgenommen, nach Österreich ausgeliefert, zu 22 Monaten Haft verurteilt und nach sieben Monaten wieder freigelassen.

Deradikalisierungsprogramme

Womit auch das Deradikalisierungsprogramm der Justiz in den Fokus rückt: Der gegen Auflagen im vergangenen Dezember vorzeitig entlassene Attentäter wurde vom Deradikalisierungsverein Derad betreut. Vereinsmitbegründer Moussa Al-Hassan Diaw ärgert sich über die Schlussfolgerung von Innenminister Nehammer, dass nichts passiert wäre, wenn der Attentäter nicht vorzeitig aus der Haft entlassen worden wäre. Wenn er erst im Juli 2020 entlassen worden wäre, hätte er noch auch genug Zeit gehabt, ein Attentat zu planen, meint der Salafismus-Experte: "Die Behauptung, dann wäre nichts passiert, ist perfide. Wir können niemanden observieren. Das ist die Aufgabe von Nachrichtendiensten, vom Bundesverfassungsschutz. Vielleicht ist denen etwas entgangen."

Der Verein habe den jungen Mann niemals als deradikalisiert eingestuft. Wann genau die Entscheidung zur Bluttat getroffen wurde, weiß der zuständige Betreuer nicht. Die Attentate in Frankreich und der Tag vor dem Lockdown könnten die Entscheidung beeinflusst haben, vermutet Diaw: "Wir sind ja nur ein Teil des Systems. Zusammen mit den anderen Betreuungsdiensten, nämlich dem sozialen und den psychologischen Dienst und den Justizwachebeamten, versuchen wir, zusammen das zu verhindern, was am Montag leider geschehen ist."

"Weiter hohe Gefährdung"

Trotzdem ist er von den Geschehnissen nicht überrascht: "Ich hatte schon vor einem Jahr in einem Interview gesagt, dass es eine Handvoll Personen in Österreich gibt, denen ich Anschläge zutraue." Auch hält er die Gefährdungslage weiterhin für hoch. "So lange solche Ideologien im Umlauf sind, wird es Menschen geben, die diese Ideologie umsetzen und strafbare Handlungen setzen werden." Der Verein Derad versucht, dagegen zu wirken, indem die Betreuer und Betreuerinnnen mit den IS-Sympatisanten sprechen. "Wir leisten pädagogische Arbeit, politische Bildung, Geschichts-und Religionsunterricht."

Doch was kann darüber hinaus noch getan werden? Autor Haq hält zwar die gezielte Erfassung von mutmaßlichen Gefährdern und deren Beobachtung durch den Verfassungsschutz sowie die regelmäßige Kontrolle radikaler Moscheen für langfristig sinnvoll; es brauche jedoch eine Doppelstrategie, um den radikal-islamischen Tendenzen und damit teilweise auch der Terrorgefahr langfristig erfolgreich zu begegnen: Aufklärungsarbeit in den Schulen und in den sozialen Medien durch Islamisten-Aussteiger sowie eine Stärkung des gemäßigten Islam. Und es brauche zusätzlich "einen Dialog von ausgebildeten Vermittlern mit den Islamisten selbst", erklärt Haq: "Wollen wir verhindern, dass sich radikale Subkulturen entwickeln, muss auch solch ein Austausch gesucht werden."

Gäubige und Ungläubige

Denn der Salafismus bzw. Dschihadismus habe mit dem wahren Islam nichts zu tun, sagt Haq: "Der ist friedlich." Deshalb würden von den Islamisten gemäßigte Muslime auch als Feinde -also Ungläubige oder Gottesleugner -betrachtet. Was auch Nahostexperte und ORF-Korrespondent Karim El-Gawhary so sieht: Man dürfe nicht außer Acht lassen, dass vor allem Muslime Opfer von IS-Terrorakten seien. "Der IS ist, was das Kalifat betrifft, hauptsächlich von Muslimen bekämpft worden, von Kurden, von iranisch-schiitischen Milizen", so El-Gawhary, der es als Hauptziel des IS sieht, "mit gezielten Anschlägen Europa zu polarisieren und zu spalten, zwischen Muslimen und Nichtmuslimen".

Womit wir wieder bei der wichtigen Aufgabe von Nachrichtendiensten wie dem BVT wären, dessen Funktionsfähigkeit und Professionalität vor diesem Hintergrund unbedingt gewährleistet sein muss. Peter Pilz: "Das Ziel der Terroristen ist nicht die Tötung von Menschen, sondern deren Folgen: Angst, Chaos, Destabilisierung. Sie haben ein einziges Ziel: unsere offene und freie Gesellschaft."