Wie Medikamente durch die Welt reisen

Viele Medikamente, die uns verschrieben werden, haben extrem lange Lieferketten. Gibt es Probleme an einer der Produktionsstätten, spüren das Patienten auf der ganzen Welt. Wie Abhilfe geschaffen werden könnte.

von Unterschiedliche Medikamente in Pillenform. © Bild: iStockphoto.com/style-photography

Antibiotika, Schmerzmittel, Kinderfiebersäfte, Blutdrucksenker - viele Medikamente wurden in den letzten Monaten knapp, und das verursacht bei den Patientinnen und Patienten neben der eigentlichen Erkrankung noch zusätzlichen Stress. Für 2022 verzeichnet die Gesundheitsagentur AGES 1.257 Meldungen zu Arzneispezialitäten, die nicht bzw. nicht ausreichend verfügbar waren. Oft liegt das daran, dass die Lieferketten für solche Medikamente um die halbe Welt reichen.

Der deutsche Verband der Generika- und Biosimilarunternehmen Pro Generika (Link zur Homepage) zeichnet auf seiner Website grafisch die Reise eines Blutdrucksenkers nach (siehe Video unten) . Rohstoffe dafür kommen aus China, weitere Wirkstoffe und die Verpackungen werden an unterschiedlichen Orten in Indien produziert. Dann geht es mit dem Schiff Richtung Europa, durch den Suezkanal - und was passiert, wenn sich dort ein Schiff querstellt, das wissen wir seit der Havarie der "Evergreen" im Jahr 2021. Wochenlang war der Transportweg blockiert, der Schiffstau löste sich nur langsam auf.

Nicht nur dem Pfad des niedrigsten Preises folgen

Doch auch eine durchgehende Produktion in Österreich würde uns nicht vor Engpässen schützen, erklärt Lieferkettenexperte Peter Klimek im Interview. Denn zu einer reißfesten Lieferkette gehört auch, dass man den Bedarf kennt und für die nächsten Monate plant und vorproduziert. Mittlerweile wird dieses Problem auch von der EU-Kommission angegangen: Sie will die Produzenten dazu verpflichten, drohende Engpässe früher zu melden und Notfallpläne zu erstellen.

Komplexitätsforscher Peter Klimek widmet sich im Lieferketten-Forschungsinstitut ASCII den Schwachstellen von Warenströmen. Er erklärt, welche Probleme sich meistern lassen und welche Verantwortung Produzenten bei der Wahl ihrer Lieferpartner haben.

Peter Klimek, Wissenschaftler
© IMAGO/SEPA.Media Komplexitätsforscher Peter Klimek im März 2023 bei der Präsentation des neuen Lieferketteninstituts (ASCII)
Nach einem Studium der theoretischen Physik in Wien habilitierte Klimek 2018 im Bereich Computational Science. Er lehrt an der MedUni Wien und forscht am Complexity Science Hub sowie am Supply Chain Intelligence Institute Austria (ASCII). Der breiten Öffentlichkeit bekannt wurde Klimek durch seine Beratungstätigkeit während der Coronapandemie. Er ist "Wissenschaftler des Jahres" 2021.

Wenn man sich die Lieferketten für gängige Medikamente ansieht, dann führen die von Wirkstoffproduzenten in Indien und China über den Suezkanal nach Europa. Die Lebenserfahrung sagt: Was kompliziert klingt, ist es irgendwann auch. Das sieht man an den Engpässen der letzten Monate. Warum setzt man also auf derart verschlungene Wege?
Viele Medikamente mit Engpässen sind nicht einmal so komplizierte Produkte. High- End- Produkte wie etwa Autos haben viel kompliziertere Lieferketten. Aber wir reden bei den Arzneimitteln insbesondere von Produkten, wo es viele Generika gibt und die deshalb nur sehr wenig Profit abwerfen. Dadurch lassen sie sich nur mehr in sehr wenigen Regionen wirtschaftlich sinnvoll herstellen, weswegen sich die Produktion in China und Indien konzentriert. Tatsächlich ist es so, dass man bei sehr vielen Medikamenten global bei einer Handvoll Produktionsstätten landet.

Und wenn es dort ein Problem gibt - vom Lockdown bis zum Brand -, ist die ganze Welt betroffen. Wie schnell kann man den Zulieferer ändern?
Es ist gar nicht so leicht, zu diversifizieren und einen anderen Zulieferer zu nehmen. Denn auf diesem ohnehin schon engen Markt gibt es auch noch eine Fragmentierung. Die Länder des globalen Nordens kaufen eher in China ein, afrikanische und asiatische Staaten in Indien. Damit verengt sich der Markt noch weiter.

Die Coronapandemie und die Schiffshavarie im Suezkanal waren laute Warnschüsse. Wurden die an den richtigen Stellen gehört?
Auf EU-Ebene gibt es einen Vorschlag der Kommission, wie man die Arzneimittelversorgungssicherheit verbessern kann. Dieser ist relativ weitreichend. Etwa sollen die Gesundheitsbehörden Informationen einfordern können, welche Lagerbestände Produzenten haben und welchen Verbrauch sie für die nächsten Monate erwarten. Diese Unternehmen sollen zudem verpflichtet werden, Präventionspläne gegen Knappheit vorzulegen. Allerdings muss man sagen: Das ist ein Vorschlag. Papier ist geduldig. Was davon umgesetzt wird, steht auf einem anderen Blatt. In Österreich etwa stellt sich die Frage, wer für diese Dinge verantwortlich ist. Hier gibt es viele Player im Gesundheitssystem, und niemand fühlt sich zuständig.

Letzten Sommer haben die Pharmagroßhändler vorgeschlagen, ein nationales Medikamentennotlager einzurichten. Wäre das sinnvoll?
Lagerhaltung ist wichtig. Aber man muss sich genau anschauen: Wer macht es wie, wann und wo? Wenn alle weltweit zu bevorraten beginnen, kann man jetzt schon voraussagen, was nächstes Jahr passiert: Die Medikamente werden knapp, weil alle ihre Lager vollräumen, und es gibt ein Verteilungsproblem, weil einige wenige auf ihren Lagern sitzen. Also: Lagerhaltung ja, aber der Hund steckt im Detail.

Geht man von den EU-Plänen aus: Was muss in Österreich passieren?
Eine Sache ist, dass man eine Liste kritischer Medizinprodukte erstellt, die man besonders genau beobachtet. In Österreich gibt es bereits eine Liste von Vertriebseinschränkungen, wo Produzenten melden, wenn es zu Lieferengpässen kommt oder wenn sie vorhaben, vom Markt zu gehen. Das muss auf die europäische Ebene ausgedehnt werden, denn es ist nur bedingt sinnvoll, wenn man Österreich alleine betrachtet. Wir sind ein sehr kleiner Markt, das heißt, man kann sich noch etwas leichter über Beschaffungen auf dem europäischen Markt helfen, wenn es da noch etwas gibt. Hier kann man die Koordination erhöhen. Pointiert gesagt: Was jetzt geplant ist, ist nicht das Rieseninstrumentarium, um Lieferengpässe zu verhindern. Aber wir werden ihnen in Zukunft wesentlich genauer beim Entstehen zusehen können. Was dann genau an Abhilfemaßnahmen kommen könnte, ist aber noch sehr nebulös.

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Das heißt, das Grundproblem am Anfang der Lieferkette bleibt bestehen?
Das bleibt. Daran geht man nicht heran. Und das wäre vielleicht auch gar nicht das Allheilmittel gegen Lieferengpässe. Eines der zuletzt knappen Antibiotika ist ein schönes Beispiel. Da haben wir die vollständige Wertschöpfungskette in Österreich. Es wird in Kundl von Sandoz produziert. Trotzdem gab es Engpässe.

Warum?
Weil das Angebot insgesamt zu niedrig war und die Firma nicht sagen kann: "Wir beliefern das eine Land, das andere aber nicht." Da hilft es also nichts, wenn wir lokal produzieren. Das heißt: Diversifizierung kann man herstellen, in dem nicht notwendigerweise alles in Europa oder gar Österreich produziert, aber doch mehrere Quellen hat. Eine andere Option ist Nearshoring, also dass man aktiv versucht, Europa zu reindustrialisieren. Da muss man aber Anreize schaffen, die das für die Unternehmen sinnvoll machen. Denn warum sollte man sonst beginnen, ein Produkt mit niedriger Gewinnspanne in Österreich herzustellen?

»Die politische Ebene müsste sagen: ,Okay, uns ist unsere Versorgungssicherheit einen Aufpreis wert‘«

Wie kann man das erreichen, wenn die Lohnniveaus in Europa viel höher sind?
Da müsste man eben auf politischer Ebene sagen: "Okay, uns ist unsere Versorgungssicherheit einen Aufpreis wert. Wir zahlen dafür, dass wieder lokal produziert wird." Aber selbst das wäre keine Garantie, dass es nicht mehr zu Engpässen kommt, denn es muss ja auch die Bedarfsprognose und die langfristige Planung passen. Da kommt das Monitoring ins Spiel. In Österreich gibt es nur sehr bescheidene Daten über den Medikamentenverbrauch. Der Pharmagroßhandel und die Apotheken sehen, was sie abgeben. Aber dadurch, dass wir z. B. die Rezeptgebührenbefreiung haben und Medikamente auch unter den Rezeptgebühren zu haben sind, wissen die Krankenkassen gar nicht, was alles verschrieben wird. Wenn wir dann noch fragen, welche Informationen das Gesundheitsministerium hat, wird die Datenlage noch einmal dünner. Interessant wäre natürlich, wie viele Antibiotika wir im nächsten Winter haben werden, denn die werden jetzt gerade produziert. Man muss also die gesamte Wertschöpfungskette mitnehmen, damit man zu einem sinnvollen Monitoring kommt.

Dieses Nicht-Wissen erinnert an das Datenchaos während der Pandemie. Ist das ein österreichisches Phänomen?
Es gibt Best-Practice-Länder, die einen besseren Überblick haben. Das sind die skandinavischen Länder und die baltischen Länder, die den Vorteil haben, dass sie ihr Gesundheitssystem auf die grüne Wiese gestellt haben und dadurch von vornherein stärker digitalisiert waren. Österreich ist nicht weiß Gott wie im Hintertreffen, aber definitiv kein Vorreiter. Wir hätten prinzipiell das Potenzial, aufzuholen. Daher ist es wichtig, Druck zu machen, damit das Thema auf der Tagesordnung bleibt. Aber es stimmt schon: Ähnliche Probleme haben wir bei der Pandemie gehabt. Wir haben ein Gesundheitsministerium, das sehr wenig Hebel hat, um tatsächlich Druck auszuüben. Allerdings spielen bei der Medikamentenversorgung andere Faktoren außerhalb Österreichs mit. Das ist nicht wie in der Pandemie, wo wir die Datenerfassung innerhalb Österreichs hätten lösen können.

In welchen Bereichen ist ihr Lieferketten-Forschungsinstitut ASCII neben den Medikamenten aktiv?
Für uns wichtige Bereiche sind die Automobilzulieferer und die Halbleiterindustrie. Letztere hat sich in vielen Bereichen als Flaschenhals herausgestellt. Da will Europa gegensteuern, wobei man fragen kann, wie viel man da, gemessen am Gesamtvolumen am Halbleitermarkt, wirklich bewegen kann. Hier geht es darum, zu verstehen, was die österreichischen Stärken und Schwächen auf diesem Markt sein können, immerhin haben wir einige hochspezialisierte Halbleiterunternehmen in Österreich, die in ihrem Bereich global führend sind.

»Es geht darum, besser zu verstehen, welche Abhängigkeiten wir gegen welche eintauschen«

Ein anderes Zukunftsthema ist die Energiewende. Auch hier gibt es bereits Lieferkettenprobleme.
Wenn wir jetzt diskutieren, wie die Mobilität in zehn Jahren aussehen soll, hat das weitreichende Folgen, wie dann für Österreich und Europa die Wertschöpfungsketten aussehen. Batteriebetriebene Fahrzeuge haben ganz andere Wertschöpfungsketten und werden ganz andere Firmen- und Rohstoffabhängigkeiten mit sich bringen. Hier geht es darum, besser zu verstehen, welche Abhängigkeiten wir gegen welche eintauschen. Ein weiteres Thema, mit dem wir uns beschäftigen, ist die Nahrungsmittelversorgung. Polen und Ungarn haben etwa ein Importverbot für ukrainisches Getreide verhängt.

Inwiefern ist das ein Lieferkettenproblem?
Die Ukraine konnte durch den Krieg lange nichts exportieren, dann auf einmal sehr viel. Es waren aber die globalen Logistikwege nicht da, um das auf die richtigen Märkte zu bringen. Daher gab es ein Überangebot in Osteuropa, das den Preis gedrückt hat, und diese Länder haben ein Importverbot verhängt, um ihre Landwirtschaft zu schützen. Es geht also darum, wie Versorgungssicherheit mit geopolitischen Risiken zusammenhängt.

Kann man sich gegen geopolitische Risiken überhaupt absichern? Schon jetzt zittert man ja, wie sich ein Angriff Chinas auf Taiwan etwa auf die Halbleiterversorgung auswirken würde.
Ganz allgemein: Absichern kann man sich, indem man diversifiziert. Das ist mit Extrakosten verbunden, und man muss sich überlegen, ob man bereit ist, diese zu tragen. Und konkreter: Es gibt schon große Unterschiede, in welchen Sektoren man Abhängigkeiten hat und wie leicht sich diese kompensieren lassen. Bei Lithium etwa, das wir für Batterien brauchen, gibt es eine hohe Produktionskonzentration in einigen wenigen Ländern. Das sind aber Länder, die typischerweise politisch stabil sind und eine mittlere bis höhere regulatorische Qualität haben. Bei anderen Rohstoffen kann die Situation ganz anders sein. Daher geht es uns darum, überhaupt einmal zu erfassen: In welchen Wirtschaftsbereichen gibt es welche Arten von Abhängigkeiten, wo konzentrieren sie sich? Damit man sieht, ob es zu starke Abhängigkeiten von Ländern gibt, die das Potenzial für politische Instabilität haben.

Früher hat man oft wenig darüber nachgedacht, ob es richtig ist, Geschäfte mit Despoten zu machen. Nun soll sichtbar werden, dass das nicht nur eine ethische Frage ist, sondern auch ein unternehmerisches Risiko?
Wenn es zum Beispiel eine starke Abhängigkeit von Importen aus einem Land, in dem es zu Menschenrechtsverletzungen kommt, gibt, ist das ein Lieferkettenthema, das uns in Zukunft mehr beschäftigen wird. Man kann viel gewinnen, wenn man das überhaupt einmal transparent darstellt. Jetzt ist es noch so, dass vielleicht der Manager für sich und seine Firma weiß, wo er - ein, zwei Schritte in der Lieferkette weiter - seine Produkte herbekommt, aber der umfassende Blick, die systematische Betrachtung, die fehlt uns nicht nur in Europa, sondern auch global. Wenn man nur dem Pfad des niedrigsten Preises folgt, kann man in eine Situation des Marktversagens kommen, wie wir sie jetzt bei den Medikamenten gesehen haben. Das muss einfach eine Lehre sein.

Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 20/2023 erschienen.